Pädagogischer Sinn aus der Sinnlichkeit von Steinen? „Das Gelände“

16. November 2015 | Von | Kategorie: Menschenrechtsbildung
Ein Kommentar zur Tagung „Erhalten! Wozu?“ (Oktober 2015 im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Nürnberg)

Von Otto Böhm

Die sehr empfehlenswerte Ausstellung „Das Gelände“, die am 16. Oktober im Dokumentationszentrum eröffnet wurde, gibt einen Überblick über den Umgang mit dem Reichsparteitagsgelände seit 1945. In diesem Zusammenhang fand eine große Tagung („Erhalten! wozu?“) zur Frage der zukünftigen Gestaltung des Geländes statt: Die Basis ist die offizielle Stadtpolitik und die Berliner Zuschusszusage im aktuellen Koalitionsvertrag. Dort heißt es zur schulischen und außerschulische politischen Bildung: „Authentischen Orten, wie beispielsweise dem ehemaligen ‚Reichsparteitagsgelände‘ in Nürnberg, kommt eine wesentliche Funktion für die Geschichtskultur in Deutschland zu, die gemeinsam mit dem jeweiligen Land erhalten und genutzt werden soll.“

Ausgangspunkt ist das Dokumentationszentrum Reichsparteitage und die historisch-politische Bildung, die an dessen Studienforum stattfindet. Das „Lernen am historischen Ort“ wird im Rahmen eines weiter (z.B. mit „Sehepunkten“) zu gestaltender „Erfahrungsraumes“ ermöglicht, der als „authentischer Ort“ genutzt werden soll. Dabei gilt es, die „urbane Freizeit- und Parklandschaft“ mit einer „adäquaten Bildungsarbeit zu synchronisieren“. Unter demokratischen Vorzeichen soll eine „Faszination ohne Identifikation“ möglich sein. Neben der trivialen und zivilen Freizeitnutzung sollen, ausgehend von der „Handbarkeit der Dinge“, wie Hannah Arendt von Museumsdirektorin Ingrid Bierer zitiert wurde, Erkenntnisprozesse „an einem Täterort“ möglich sein.

Die Tagung wurde von Nürnbergs OB Ulrich Maly eröffnet: „Was und wie vermitteln?“ fragt er und wendet sich gegen eine Verengung des Blicks auf die „24 Täter“ im Saal 600. Es gilt, immer auch die Masseninszenierungen, die „Humusschicht der Massenbegeisterung“ in den Blick zu bekommen. In Bezug auf das Gelände ist das „immer unfertige und offene Konzept“ kurz gesagt dies: „Verfall stoppen, nicht aufhübschen; gegen kontrollierten Verfall, für zivilgesellschaftliche und demokratische Nutzung“. Die Skepsis gegen zu hohe pädagogische Erwartungen wird in der auch vom OB aufgegriffenen Frage“ Sprechen Steine?“ deutlich: „Überschätzen Pädagogen nicht den authentischen Ort?“ fragt er zu Beginn der Tagung.

Die beiden Podien am Samstagvormittag (Architektur/Denkmalpflege) und Nachmittag (Pädagogische Vermittlung) waren voll des Lobes für den von Nürnberg – früher als andernorts – beschrittenen Weg der „Auseinandersetzung mit den NS-Hinterlassenschaften“. Und die Beiträge setzten sich konstruktiv mit der zukünftigen Gestaltungsaufgabe auseinander. Die sinnliche Dimension des Lernens wurde neben der rationalen immer wieder unterstrichen, vor allem auch von den Geschichtsdidaktikern Christian Kuchler und Kurt Messmer. Zwei Diskussionsstränge machten dabei m.E. deutlich, dass das Nürnberger Konzept nicht unumstritten ist, dass die „Sehepunkte“ auch „Reibepunkte“ sind: Professor Winfried Nerdinger, Architekt und Leiter des neuen Dokumentationszentrums in München, wandte sich scharf gegen eine „Verzeichnung“ durch das Grundverständnis in Nürnberg, das auf die „Wirkung von Faszination und Gigantomanie“ setze. Die Massen seien „aktiv, nicht verführt“ gewesen. Nerdinger bezieht sich hier auf die Münchner Historiker Martin Broszat und Frank Bajohr sowie auf die neueren Diskussionen zur „Volksgemeinschaft“. Statt an die Dämonisierung anzuknüpfen, müsse zuerst ein Bild von dem, was erinnert werden soll, da sein. „Wer nichts weiß, versteht nichts.“ Zu seinem Konzept befragt, schlägt er vor „alles entfernen, was nach 1945 zum Gelände dazu gekommen ist“, also keine „Bewahrung der Zeitebenen“, als Gestaltungsziel vor. Aufhorchen ließ am Nachmittag Ulrike Jureit mit der klaren Aufforderung, den Begriff des „authentischen Ortes“ ganz zu streichen. Er sei zu werbetextlich; anknüpfend an Adornos Kritik am „Jargon der Eigentlichkeit“ unterstreicht sie: „Alles ist vorgeformt, sehr wenig ist authentisch“. Jureit sieht vor allem die Gefahr, dass ein „Erlebnis versprochen wird, das weder geboten werden könne noch solle“. Sinnliche Erfahrung setze Wissen voraus. Es sei ein „falsches didaktisches Ziel“, zu erwarten, dass Erfahrung auf dem Gelände einfach sinnlich möglich sei.

Diskussionen zur Gedenkstättenpädagogik und historischen Bildungsarbeit beginnen seit Jahren, so Jureit, mit dem Hinweis auf die „aussterbenden Zeitzeugen“. Die Hamburger Soziologin unterstreicht demgegenüber, dass Erinnerungskultur mehr sein müsse als „Betroffenheit durch Bezug auf die Opfer“ herzustellen. Jureit weist auf ein Beispiel hin, das deutlich werden lässt, welche Gefahren sie bei versuchten „Reinszenierungen“ sieht: Bei einem Schülerwettbewerb sollen Projekte vorgeschlagen werden; eine Gruppe kommt auf die Idee, über die Deportationen in Hamburg ein Video zu drehen. Kann eine Jury das dann bewerten – zurückweisen kann sie es nicht!?

Volkhard Knigge von der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald unterstreicht noch einmal: „Geschichte als Deutung ist Interpretation. Geschichte kann man nicht sehen, fühlen, nicht spüren. Geschichte ist nicht erlebbar“. Und: „Orte nehmen uns nichts ab. Orte müssen immer gedeutet werden, sie sagen nichts.“ Erinnerung allein sei noch kein pädagogisches Konzept, dazu gehören größere Anstrengungen. Pädagogik ist schwieriger, „der historische Ort ist nicht der Nürnberger Trichter.“ Knigge stellt eine „Asymmetrie zwischen Hardware und Software“ fest, es sollte also „weniger Geld in Steine versenkt werden.“. Mit den geplanten Sachinvestitionen könne man die Bildungsabteilungen vieler Einrichtungen auf Jahrzehnte hinaus finanzieren.

 

Zum Stand der Diskussion:
http://museen.nuernberg.de/dokuzentrum/themen/das-gelaende/kuenftiger-umgang-mit-dem-reichsparteitagsgelaende/
https://www.nuernberg.de/internet/stadtportal/projekt_lernort_zeppelinfeld.htmlund

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