Ein historisches Urteil gegen die Führung der Colonia Dignidad

7. Juni 2010 | Von | Kategorie: Weltregionen, Amerika

von Dieter Maier

Am 27. November 2008 verurteilte Richter Jorge Zepeda Arancibia (Santiago) Paul Schäfer, Kurt Schnellenkamp (beide Führungsmitglieder der Colonia Dignidad) und Rudolf Cöllen wegen des Mordes 1974 an dem Chilenen Miguel Becerra (AZ: Rol Nº 12.293-2005) zu Haftstrafen. Schäfer, der bereits wegen Kindesmissbrauchs in Santiago in Haft sitzt, erhielt sieben Jahre Gefängnis, seine Mittäter je 541 Tage auf Bewährung wegen Verdunklung der Tat. Zudem wurden die Drei in einer parallel verhandelten Zivilklage zu 170 Millionen Pesos Entschädigung “wegen erlittener moralischer Schäden” an die Familie Becerras verurteilt:

Zur Vorgeschichte:
Die Führung der 1961 gegründeten deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad in Südchile verübte unter dem sozialistischen Präsidenten Allende zusammen mit der rechtsterroristischen Vereinigung Patria y Libertad (Vaterland und Freiheit) Sabotageakte und Attentate, bei denen es zahlreiche Tote gab. Einer der Männer von Patria y Libertad, die mit der Colonia Dignidad zusammenarbeiteten, war Miguel Becerra. Becerras Bruder berichtete später, dass seit dieser Begegnung Patria y Libertad sein Hauptquartier in der Colonia Dignidad hatte. Nach dem Putsch wurde Becerra Agent des Geheimdienstes DINA. Ende 1973 brachte er seinen ältesten Sohn Miguel zur Erziehung in die Siedlung, wo er selbst lebte. Der kleine Miguel nahm weinend Abschied von seiner Mutter, denn er war schon zu einem kurzen Besuch bei den Deutschen gewesen. Etwas musste ihn erschreckt haben. Die Mutter hatte das Gefühl, das Kind wolle etwas verbergen.

Becerra wollte 1974 aus der DINA aussteigen und mit seinem Sohn die Siedlung verlassen. Im Juli 1974 wurde er dort ermordet. Vier Deutsche – Udo Hopp, Kurt Schnellenkamp, Gerd Mücke und Rudi Cöllen – sorgten dafür, dass die Leiche außerhalb des Geländes gefunden wurde. Schnellenkamp, Mücke und Cöllen luden sie auf einen gelben Merdes-Benz-PKW. Sie trugen dabei Handschuhe, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, und säuberten den Wagen von Spuren. Die Leiche wurde sechs Kilometer entfernt von der Siedlung in einem Peugeot gefunden. Den ersten Hinweis erhielt die Polizei von der Artillerieschule von Linares, die enge Verbindungen mit der Colonia Dignidad hatte. Ein Fotograf dieser Artillerieschule hatte die Leiche bereits fotografiert, als der Fund gemeldet wurde. Die Autopsie ergab als Todesursache eine Vergiftung. Das Auto, in dem Becerras Leiche transportiert wurde, verkaufte die Colonia Dignidad, um Spuren zu verwischen. Becerras dreizehnjähriger Sohn Miguel blieb in der Colonia Dignidad. Die Deutschen ließen ihn nicht gehen. Heute lebt er in Deutschland (s. Friedrich Paul Heller: Lederhosen, Dutt und Giftgas: Die Hintergründe der Colonia Dignidad. Schmetterlingverlag Stuttgart 3. Aufl. 2008).

Das Urteil gegen Schäfer, Schnellenkamp und Cöllen schildert den Mord mit Gift und die Beseitigung der Leiche durch Schnellenkamp und Cöllen. Die Leiche wies “Verhörspuren” auf. Das Urteil enthält eine Aussage von Federico Willoughby (ex-Generalsekretär der Regierung Pinochet). Willoughby beschreibt, wie die Colonia Dignidad bei der Putschvorbereitung half. Nach dem Putsch 1973 veranstaltete sie eine Waffenschau, an der Pinochet teilnahm, und führte kopierte Schusswaffen mit Schalldämpfung vor. Die Colonia Dignidad behauptete von sich, sie hätte mit ihrer Mannschaft, den Waffen und der Artillerie die chilenische Stadt Los Angeles erobern können.

Im Oktober und November 1974 fand in der Siedlung unter Beteiligung Deutscher ein Folterlehrgang der DINA statt. Die Deutschen hatten hierfür ein Folterhandbuch in deutscher Sprache erstellt, das auf Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgreift. Das Urteil zitiert Passagen daraus. Sie entsprechen dem, was die früheren politischen .Gefangene Erick Zott, Luis Peebles und Adriana Bórquez von ihren Folterungen in der Siedlung berichten. Amnesty International hatte 1977 diese Folterungen dokumentiert.

Das Urteil enthält weiterhin die Aussage eines Militärpolizisten, der bei einer Straßenkontrolle eine Lastwagenladung mit Waffen fand, die auf dem Weg in die Colonia Dignidad war. Der Polizist wurde wegen Überschreitung seiner Zuständigkeit diszipliniert. Schäfer erschien damals auf der Polizeiwache und zeigte einen von Pinochet persönlich unterzeichneten Freibrief vor.

Das Urteil qualifiziert den Mord an Becerra als Verbrechen gegen die Menschlichkeit (crimen de lesa humanidad), da er in einem systematischen und allgemeinen gegen einen Teil der Bevölkerung gerichteten politischen Kontext begangen worden sei. Damit verankert das Gericht eine entscheidende Kategorie des internationalen Menschenrechts in der nationalen Jurisprudenz – ein wichtiger Schritt für die künftige Rechtsprechung.

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