Justiz und Vergangenheitspolitik in Spanien

18. November 2013 | Von | Kategorie: Weltregionen, Rezensionen, Vergangenheitspolitik, Europa

Tamarit Sumalla, Josep M.: Historical Memory and Criminal Justice in Spain. A Case of Late Transitional Justice, Cambridge/Antwerpen/Portland (Intersentia) 2013, 209 Seiten

Wer in den letzten Jahren in Spanien eine größere Buchhandlung – es gibt sie noch! – betreten hat, ist unweigerlich auf Tische gestoßen, voller aktueller Literatur über den spanischen Bürgerkrieg, die Diktatur Francos, und immer mehr auch über die Aufarbeitung dieser düsteren spanischen Vergangenheit – „The Spanish Holocaust“ überschreibt der angesehene britische Historiker Paul Preston seine umfangreiche Studie, die zum Bestseller wurde. Die Suche nach den Massengräbern, die Bemühungen, so etwas wie eine offizielle Wahrheitssuche oder auch Strafverfahren in Gang zu bringen, zahlreiche persönliche Memoiren und zuletzt der Skandal der Tausenden von verschleppten Kindern scheinen die spanische Öffentlichkeit zu bewegen. Josep Tamarit, Strafrechtler und Kriminologe an der Universität Barcelona, sieht darin Zeichen einer späten Phase von „transitional justice“. In seinem Buch durchmisst er in konziser und systematischer Weise, was auf der Ebene von Politik, Justiz und öffentlicher Erinnerungskultur seit dem Ende der Franco-Diktatur mit Blick auf das Erbe dieser Zeit geschehen ist – und was noch zu tun ist.
Nach einer erfreulich knappen Einführung in die ausufernde akademische Debatte um „Transitional Justice“ gibt der Autor einen kurzen Überblick über die aktuellen vergangenheitspolitischen Debatten in Spanien. Diese Vergangenheit, eben die Zeit der Francoherrschaft, ist Gegenstand des nächsten Kapitels, wobei Tamarit sich nicht bei der Schilderung der zahlreichen Gräueltaten aufhält, die er als im Kern bekannt voraussetzt, sondern sich darauf konzentriert, wie das Regime seine Herrschaft legal absicherte. Damit stellt er den Bezug für die folgenden Kapitel her, in denen es um die erstaunliche Kontinuität der franquistischen Institutionen auch nach Francos Tod geht, und um die bis heute ausgebliebene volle Rehabilitierung der Opfer seiner Herrschaft. Schon 1977 wurde mit Zustimmung auch der gerade wieder legal gewordenen Linken eine Generalamnestie beschlossen, die bis heute in Kraft ist.
Deren Legitimität angesichts der Fortschritte im internationalen Menschenrecht untersucht Tamarit in den zentralen Kapiteln seines Buches, in denen er sich mit den juristischen Möglichkeiten beschäftigt, in einer Art nachgeholter „transitional justice“ auch heute noch mit den Mitteln des Strafrechts die Verbrechen der Francozeit zu ahnden. Neben der Frage der Amnestie geht es dabei auch um die Reichweite von Verjährungsvorschriften. Beide bilden die wesentlichen Hürden, dank derer die spanische Justiz sich der strafrechtlichen Aufarbeitung der Vergangenheit entzieht. Dass es aber nicht nur daran lag, wenn Richter Garzón mit seinem Vorhaben, die Verbrechen der Vergangenheit durch Strafverfahren gegen längst verstorbene Angehörige des Francoregimes zu ahnden gescheitert ist, macht Tamarit in einem informativen Unterabschnitt ebenfalls deutlich. Klare Worte findet er auch bei der Kritik des halbherzigen Gesetzes über die historische Erinnerung, das nach langem politischem Tauziehen schließlich 2007 vom Parlament verabschiedet wurde. Es stelle zwar eine deutliche Verurteilung des Francoregimes dar, aber weder habe es eine zureichende Rehabilitierung der Opfer noch eine staatliche Politik der Aufklärung über die Verbrechen, insbesondere der Identifizierung der zahllosen noch immer in Massengräbern verscharrten Toten gebracht.
Warum der Autor angesichts der von ihm geschilderten und durchwegs gut und verständlich belegten Defizite den Begriff einer „late transitional justice“ für den Sonderfall Spanien einführen will, wird dabei nicht ganz klar, zumindest wenn man den Anteil der „justice“ im Sinne von Strafjustiz dabei nicht unter den Tisch fallen lassen will. In gewisser Weise läuft Tamarits Fazit aber genau darauf hinaus. Nach bis über siebzig Jahren tauge das Strafrecht kaum noch für die Bewältigung der Vergangenheit. Stattdessen plädiert er für eine umfassende Wahrheitskommission, ein Vorschlag, der erstaunlicher Weise in Spanien trotz der Welle von Initiativen und Forschungen über die langen Jahre der Diktatur bis vor Kurzem kaum artikuliert worden ist. Statt einer offiziellen Kommission türmen sich privat oder im akademischen Bereich erarbeitete Stücke der historischen Wahrheit auf den eingangs erwähnten Büchertischen. Das Buch „Historical Memory and Criminal Justice“ schlägt für sein internationales Zielpublikum eine willkommene Schneise in diese Bücherstapel. Der Überblick über vor allem die juristischen, aber auch die politischen und erinnerungspolitischen Probleme der spanischen „Transition“ ist souverän geschrieben, richtet den Blick immer wieder auch auf die internationale Diskussion und stellt durchwegs die wesentlichen Fragen. Tamarit präsentiert dazu jeweils die kontroversen Antworten und versucht, die darin enthaltenen Positionen mit objektivem Blick verständlich zu machen. Das hält ihn nicht davon ab, in vielen Fällen auch selbst klar Stellung zu beziehen. Auch wer nicht mit allen seinen Positionen konform geht, wird die sachliche und klare Darstellung oft komplexer Fragestellungen zu schätzen wissen.
Bedauerlich ist allenfalls die sehr unvollständige Bibliografie, in der viele in den Fußnoten des Textes in Kurzform angeführten Quellen fehlen. Auch ein Index sollte in Zeiten der Computertexterstellung eigentlich nicht fehlen.

Rainer Huhle

Schlagworte: ,

Kommentare sind geschlossen