Walther Rauff – eine Biografie und eine Aktenöffnung

26. November 2011 | Von | Kategorie: Rezensionen

Heinz Schneppen: Walther Rauff: Organisator der Gaswagenmorde: eine Biografie. Reihe ZeitgeschichteN Bd. 7. Berlin, Metropolverlag 2011

Mit Walther Rauff: Organisator der Gaswagenmorde hat Heinz Schneppen, Historiker und deutscher Botschafter a.D., im September 2011 die weltweit erste Biografie des Mannes veröffentlicht, der für die Ermordung von mehr als Hunderttausend Juden in von Hitlerdeutschland besetzten osteuropäischen Ländern verantwortlich war. Die Opfer wurden in geschlossene LKWs gezwungen und während der Fahrt durch Abgase ermordet. Es war ein grausamer Tod durch Ersticken. Die von Schneppen benutzten Unterlagen sind fast alle seit langem zugänglich, aber noch niemand hatte sich die Mühe gemacht sie durchzuarbeiten. Ähnliches gilt für die beiden vorigen Bücher Schneppens, der sich als Pensionär zügig an die Arbeit machte: eines zu ODESSA  (der angeblichen Fluchtorganisation der SS nach 1945, deren Existenz Schneppen zum ersten Mal widerlegt), das zweite zu Eduard Roschmann, dem Judenmörder in Riga. Solche Bücher[1] sind erste Schritte, das Leben von NS-Tätern auch nach 1945 zu erforschen. Zusammengenommen zeichnen sie –bisher nur fragmentarisch, da die Historikerzunft das Thema lange verschlafen hat – die Nachgeschichte des einzigartigen Verbrechens an den Juden.

Auch Zeitgeschichte bedarf der Distanz zu ihrem Gegenstand. Aber musste das Jahrhundert, in dem das Verbrechen geschah, erst zu Ende sein, ehe diese Nachgeschichte bearbeitet werden konnte? So schwierig die Antwort auf diese Frage ist, sie hat in jedem Fall etwas mit Erinnerungspolitik zu tun. Schneppens Buch erschien fast am selben Tag, an dem der Bundesnachrichtendienst (BND) seine Akten zu Rauff freigegeben hat. Rauff war, was Schneppen bereits vermutete, Agent des BND. Die Gleichzeitigkeit der Veröffentlichung mag Zufall gewesen sein, die Informationspolitik des BND hat System und ist selektiv. Schneppen und Andere[2] haben beim BND seit langem Akteneinsicht zu Rauff beantragt und erst aus der Zeitung erfahren, dass diese Akten nun verfügbar sind, aber vom BND-Sitz Pullach ans Bundesarchiv in Koblenz abgegeben worden waren, wodurch sie einige Wochen lang eben nicht verfügbar waren. Der BND hat zu einem Wochenende (24.-25.9.2011, ein gefundenes Fressen für Bild am Sonntag und Spiegel online, die der BND vorab telefonisch informiert hat[3]) und damit ohne Rückfragemöglichkeit für Journalisten seine Version der Zusammenarbeit mit Rauff an die Presse gegeben. Diese Version ging breit durch die Presse. Wer die 900 Dokumente im Bundesarchiv durcharbeitet, mit anderen Daten vergleicht und zu neuen Schlussfolgerungen gelangt, hat danach Mühe, Abnehmer für seine Analyse zu finden. Auch in wissenschaftlicher Hinsicht enttäuscht die Aktenfreigabe, denn der BND hat derart viele Seiten weiterhin gesperrt, dass nicht einmal klar wird, worum es dabei geht und welche Spionageergebnisse Rauff lieferte. Eine Bundestagsanfrage[4] der Partei „Die Linke“ ergab, dass darüberhinaus ein Bestand an vertraulichen Rauff-Akten im Verschlusssachenarchiv des Bundesarchiv Koblenz liegt, das nicht zugänglich ist.

Ähnlich verfuhr der BND mit Informationen zu Adolf Eichmann, dessen Aufenthaltsort er früher wusste als bisher zugegeben. Er nahm der Journalistin Gaby Weber, die den Zugang zu diesen Akten gerichtlich erstritten hatte, durch eigene Veröffentlichung die Butter vom Brot. Dann fand ein Historiker seine in Pullach gewonnen Rechercheergebnisse zu Klaus Barbie, dem „Schlächter von Lyon“, der auch im Dienst des BND stand, in der Presse. Auch diese beiden Fälle waren 2011. Die Erklärung dürfte sein, dass 2011 eine Unabhängige Historikerkommission begonnen hat, die Vergangenheit des BND zu erforschen, und der BND nun auf seine Weise Leichen aus dem Keller schafft. Wenn die Kommission ihre Ergebnisse vorlegt, kann der BND darauf verweisen, dass er seit Jahren Akten freigibt.

Rauff (geb. 1906) war Offizier der deutschen Kriegsmarine, musste aber wegen seiner Ehescheidung den Dienst quittieren. Als Alternative bot sich ihm wie vielen seiner Generation die SS. Er wurde Leiter der „Gruppe Technik“ im Reichsicherheitshauptamt in Berlin. In dieser Funktion war er für den Einsatz der Gaswagen verantwortlich. Nachdem die SS die Gaswagen auf die effektiveren Gaskammern umgestellt hatte, schickte sie Rauff ins deutsch besetzte Tunesien, um die dortigen Juden zu deportieren. Dazu kam es nicht, da das deutsche Afrikacorps die Juden als Arbeitskommandos einsetzte, die Befehlshaber der mit Deutschland verbündeten Truppen und wohl auch Offiziere der Wehrmacht sich querstellten und offenbar Transportkapazitäten fehlten.

1943 ging Rauff nach Italien, das gerade von der Wehrmacht besetzt worden war, um Streiks niederzuschlagen und andere Widerstandformen zu bekämpfen. 1945 nahmen ihn die Alliierten gefangen. 1946 floh er aus dem Lager. Er versteckte sich mit Hilfe der katholischen Kirche und ging 1948 nach Syrien, um den dortigen Geheimdienst aufzubauen, wozu er allerdings nicht qualifiziert war. Dort hat er für den israelischen Geheimdienst gearbeitet[5]. Dem gerade gegründeten Staat Israel ging es ums pure Überleben, da waren alle Mittel recht. Sein Geheimdienst warb wissentlich Judenmörder an, um den syrischen Sicherheitsapparat auszuspionieren.

Nach einem Putsch in Syrien ging Rauff nach Italien zurück und floh mit Frau und zwei Söhnen mit falschen, von Israel besorgten Papieren[6]) nach Ecuador. Dort freundete er sich mit dem späteren chilenischen Diktator Pinochet an, der in Ecuador als Militärberater tätig war. 1958 ging die Familie Rauff nach Chile, wo ihn, wie wir nun wissen, der BND im selben Jahr als Agent V-7410 anwarb, um ein Spionagenetz in Lateinamerika aufzubauen. Wahrscheinlich wollte der BND von Rauffs Geheimdiensterfahrung profitieren. Sie wussten, wer er war, wenn sie auch  – nach Aktenlage –  nichts von den Gaswagenmorden wussten. Offenbar richtete sich der BND nach der Faustregel, dass, wer in Hitlerdeutschland gegen den Bolschewismus gut war, auch die Nachkriegskommunisten ausspionieren konnte. Auch der Fall des vom BND in Bolivien rekrutierten GESTAPO-Mannes Klaus Barbie („Henker von Lyon“) und Rauffs Rekrutierungsversuche neuer Agenten[7] zeigen dieses Schema. Dass der Sicherheitsdienst (SD) der SS eine krude Mischung aus Repression und Bespitzelungen betrieb und unter demokratischen Bedingungen andere Arbeitsmethoden geboten waren, störte den BND offenbar nicht.

Rauff sollte das revolutionäre Cuba ausspionieren, bekam aber keine Einreiserlaubnis. Er kassierte gut, lieferte schlecht und wurde 1963 vom BND abgehängt. Hierfür liefern die BND-Akten zwei unterschiedliche Begründungen: „Unergiebigkeit“ seiner Berichte (Blatt 272, s.a. 91) und Rauffs Verhaftung 1963 in Chile (s.u., Bl. 297).

Rauff besuchte während seiner Agententätigkeit zwei Mal die Bundesrepublik und blieb trotz eines am 13. März 1961 erlassenen, aber nicht veröffentlichten Haftbefehls unbehelligt. Die Frage, ob der BND von diesem Haftbefehl wusste, ist aus den freigegebenen Dokumenten nicht zu klären, denn sie enthalten zu viele Lücken. Immerhin machte der Dienst Routineanfragen bei der Zentralstelle in Ludwigsburg (Bl. 29). Sollte er aber nichts von dem Haftbefehl gewusst haben, wäre das sträflich. 1962 schulte der BND Rauff in Deutschland (was Schneppen noch nicht wissen konnte). Dass eine hohe deutsche Bundesbehörde einen Massenmörder anheuert und womöglich einen Haftbefehl gegen ihn ignoriert, gehört zum großen moralischen Versagen der Wirtschaftswunder-BRD. Prof. Jost Dülffer, Mitglied der Unabhängigen Historikerkommission für den BND, geht in seinem ganzseitigen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am Dienstag nach dem erwähnten Wochenende (27.9.2011) über diesen entscheidenden Punkt hinweg.

Die BRD stellte einen Auslieferungsantrag an Chile. Im Dezember 1962 wurde Rauff dort verhaftet. Seine Briefe aus dem Gefängnis, die der BND abfing, zeugen von einem strammen Offizier, für den Rauff sich immer noch hielt, mit ebensolcher deutscher Gesinnung und mit Seitenhieben gegen „die Juden“ (später bezeichnete er sich als „staatlich geprüften Kriegsverbrecher“). Im Auslieferungsverfahren stellte das chilenische Gericht verwundert fest, dass Deutschland einen Mann haben wollte, den es kurz zuvor noch auf eigenem Staatsgebiet hätte festnehmen können. Die deutsche Justiz hielt das für eine Schutzbehauptung, und musste dann kleinlaut eingestehen, dass es stimmte. Da Rauffs Taten nach chilenischem Recht verjährt waren, verließ er Anfang 1963 die Auslieferungshaft als freier Mann. Einen Versuch, über seinen ebenfalls für den BND arbeitenden Sohn Walter neuen Kontakt zum Dienst herzustellen, wies der BND strikt ab (Bl. 239). Mit dem Jahr 1963 endete (bis auf ein paar spätere Dokumente zur Einschätzungen des Vorgangs) die BND Akte zu „V-7410“.

Rauff ging nach Punta Arenas und Porvenir im schwer zugänglichen Süden Chiles und betrieb ein Fischereiunternehmen. Er verhielt sich unauffällig. Als ihm ein jüdischer Emigrant das Gesicht blutig schlug, verzichtete er auf Anzeige. Er gab ein Fernsehinterview, in dem er keinerlei Reue zeigte und einen Holocaustleugner zitierte. 1972, während der Regierung des Sozialisten Salvador Allende, gab es eine von Simon Wiesenthal ausgehende Initiative, Rauff auszuliefern oder auszuweisen. Schneppen rückt hier Wiesenthals Schilderung und die irrige Interpretation von Victor Farías zurecht. Die Initiative scheiterte, als 1973 Rauffs alter Freund Pinochet putschte.

Unter der Militärdiktatur war Rauff endgültig sicher. Er spielte eine noch nicht genügend aufgeklärte, aber belegbare Rolle in Pinochets Foltergeheimdienst DINA und der deutschen Foltersiedlung Colonia Dignidad, die wiederum mit dem BND zusammenarbeitete[8]. Rauff starb 1984 kurz nach einem weiteren Auslieferungsbegehren der BRD in Santiago. Miguel Serrano, chilenischer Hitler-Esoteriker und Freund der Colonia Dignidad, schickt ihm ein „Heil Hitler“ mit ins Grab.

Schneppens Buch Walther Rauff : Organisator der Gaswagenmorde hätte in der Substanz durch eine vorige Einsicht in die BND-Akten durch den Autor wenig gewonnen. Längst zugängliche Akten des CIA deuteten ohnehin auf eine BND-Tätigkeit Rauffs hin. Das Buch ist auch so gewichtig genug. Es schildert einen NS-Täter, der auch nach seiner Flucht nicht aufhören konnte, zu spionieren und der Macht zu dienen. Es erlaubt eine differenzierte Beurteilung der unterschiedlichen bundesdeutschen Akteure bezüglich Rauff. Die Justiz hat getan, was ihre Pflicht war, und einzelne Staatsanwälte haben es an Nachdruck nicht fehlen lassen. Auswärtiges Amt und Deutsche Botschaft in Santiago haben Auslieferungsbegehren teils energisch – etwa durch Beauftragung eines weiteren Rechtsanwalts, da der erste das Begehren für aussichtslos hielt –, teils mit vermeidbaren Verzögerungen und Fehlern betrieben.

Der BND benutzte und deckte Rauff, wie er jetzt zugab. Rauff wurde zwei Mal nicht aus Chile ausgeliefert mit der Begründung, dass er die Gesetze des Landes nicht verletzt habe. Das hatte er aber, denn er hat für einen ausländischen Staat spioniert. Die BRD hätte ihn beim Auslieferungsverfahren 1963 und sicher auch 1972 haben können, wenn sie 1962/63 die Agententätigkeit des „staatlich geprüften Kriegsverbrechers“ offengelegt hätte. Das ist aus der Sicht eines Geheimdienstes eine völlig irreale Vorstellung, aber warum siegte in einer Demokratie automatisch der Geheimdienst, wenn er mit der Justiz konkurriert? Warum wiegt der Schutz eines reuelosen Massenmörders und ineffektiven Agenten mehr als die Gerechtigkeit? War damals das Bundeskanzleramt als Aufsichtsbehörde des BND involviert? Weitere Fragen bleiben nach Schneppens Buch und vor allen der BND-Veröffentlichung offen. Beging der BND Strafvereitlung im Amt, indem er Rauffs Verhaftung bei seinen Aufenthalten in Deutschland verhinderte? Was wussten deutsche Behörden von Rauffs Arbeit für die Pinochet-Diktatur? Und warum veröffentlicht ein Mitglied der Unabhängigen Historikerkommission zeitgleich mit dem BND eine Vorabversion eines Teilergebnisses der gerade erst angelaufenen wissenschaftlichen Aufarbeitung?

Dieter Maier

  1. [1] Zu erwähnen ist hier auch Bettina Stangneth: Eichmann vor Jerusalem: das unbehelligte Leben eines Massenmörders. Zürich 2011
  2. [2] Ich selbst ein Jahr vor der Aktenfreigabe, benachrichtigt wurde ich Wochen danach.. Zürich 2011
  3. [3] Bundestags-Drucksache Nr. 17/7271. Zürich 2011
  4. [4] Bundestags-Drucksache Nr. 17/7271. Zürich 2011
  5. [5] Nach Schneppen besteht der „begründete Verdacht“, dass Rauff dort für den israelischen Geheimdienst gearbeitet hat. Elam, Whitehead und Segev halten das für erwiesen (Shraga Elam, Dennis Whitehead: In the Service of the Jewish State. www.haarez.com, 27.9.2011. Segev in: Tom Segev: Simon Wiesenthal : die Biografie. München, Siedlerverlag 2010).
  6. [6] (Elam / Whitehead a.a.O.)
  7. [7] Ehemalige Mitglieder der rumänischen „Eisernen Garde“ und ein Deutscher, der „zu meiner Zeit eine sehr hohe Stellung in Berlin innehatte“ (Bl. 34)
  8. [8] Hierzu findet sich in den freigegebenen Akten nichts.

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