Das Bild vom Täter

14. Juni 2010 | Von | Kategorie: Rezensionen

Heinz Schneppen: Ghettokommandant in Riga. Eduard Roschmann: Fakten und Fiktionen. Berlin, Metropol Verlag, 2009. ISBN 978-3-938690-93-2, 343 S.

Jeder Versuch, sich von NS-Tätern ein Bildnis zu machen, galt nach 1945 als anstößig. Hannah Arendts Eichmann in Jerusalem brach mit diesem Tabu. Seitdem haben sich unterschiedliche methodische Ansätze von Biografien der NS-Täter herausgebildet. Heinz Schneppen, ehemaliger deutscher Botschafter (u.a. in Paraguay) und promovierter Historiker, wählt in seiner Biografie des durch Frederick Forsyths „Akte ODESSA“ berühmt gewordenen zweiten und letzten Ghetto-Kommandanten von Riga, Eduard Roschmann, den virtuellen Prozess als Methode. Gegen Roschmann hat die bundesdeutsche Justiz ermittelt, das Verfahren wegen der dessen Abwesenheit aber nie eröffnet. Schneppen wertet  zahlreiche Zeugenaussagen, Überlebendenberichte und Briefe aus und fragt dann, was ein Gericht damit gemacht hätte, wäre es Roschmanns habhaft geworden. Das Gericht aber muss sich ein Bild des Angeklagten machen, und in diesem Sinn, also ohne Psychologisierungen, Apologetik und persönliche Wertung, unternimmt Schneppen die undankbare Aufgabe, sich in Roschmanns Leben hineinzudenken. Das freilich tun alle Biografen, und sie sind gut beraten, wenn sie sich davon Rechenschaft ablegen. Schneppens Methode in Ghettokommandant in Riga, die Roschmann-Legende zu zerstören und einen möglichen Justizfall Roschmann durchzuspielen, erweist sich als produktive Lösung des Dilemmas, ohne dauernde verbale Distanzierung über einen Mann zu schreiben, der Abscheu provoziert.

Der Österreicher Roschmann schlug sich früh zum Nationalsozialismus und stieg nach der Annexion seines Landes zum mittleren Rang des Untersturmführers der SS auf. Roschmann kam mit dem Einsatzkommando 2 der Einsatzgruppe A nach Lettland. Das Baltikum war eines der Experimentierfelder für den Holocaust. Die meisten Judentransporte aus dem Reich endeten dort. Die Gaswagen, die auch im Baltikum eingesetzt wurden, waren die Vorstufe der Gaskammern.

Forsyths Bestseller „Die Akte ODESSA“, zu dem Simon Wiesenthal das „Tatsachenmaterial“ lieferte, hat diesen Schauplatz weltbekannt gemacht und Roschmann zum besessenen Haupttäter stilisiert. Dem stellt Schneppen den realen Roschmann gegenüber. Er unterzieht die Aussagen Überlebender einer Kritik, deren Problematik er ein eigenes Kapitel widmet. Gelegentlich schmerzt das, und vor allem diejenigen, die den Ansatz verfolgten, die Geschichte des Holocaust aus der Perspektive der Opfer zu schreiben. Das entscheidende Problem ist, wie immer man den Ansatz wählt, dass es zum Kern des Terrors, den Massenerschießungen und dem Wiederausgraben („Enterdung“) und Verbrennen der Leichen durch jüdische Arbeitskommandos, nur wenige Zeugenaussagen gibt, die fast alle von Tätern stammen. Die Juden wurden nach Ende der Arbeit mit in die Gruben gelegt oder auf den Holzstößen verbrannt. Der Einsatz dieses jeweils aus dem Ghetto neu aufgefüllten Kommandos 1005B war eine „rationale Kombination von Mord und Entsorgung“. Roschmanns Rolle dabei ist unklar.

Die Zeugenaussagen, die es gibt, sind Annäherungen, die oft von Traumata, Rachegefühlen und Gedächtnislücken beeinflusst sind. Mit Gewaltenteilung, der Trennung von objektiver Beweiserhebung und rechtlicher Würdigung, überhaupt mit dem Rechtsstaat hatten viele Zeugen, die unmittelbar nach dem Krieg befragt wurden, keine Erfahrung. Die differenzierten NS-Ränge waren nicht im Erfahrungshorizont der Häftlinge, und es kam gelegentlich zu nachweisbaren Personenverwechslungen. Das Bild, das von Roschmann bleibt, ist unscharf. Oft stand er geistesabwesend vor seiner Kommandantur, sagte eine Zeugin. Sadistischen Tätern, von denen Roschmann umgeben war, kann man individuelle Schuld eindeutiger nachweisen. Roschmann, der sich in der SS eher funktional und unauffällig verhielt, ist schwerer zu belangen. Die dramatischsten Roschmann–Szenen in Forsyths Roman sind, wie Schneppen zeigt, erfunden. Die anderen SS-Oberen in Riga schossen, sie schossen fast täglich. Roschmann konnte nicht schießen, er ließ ins Gefängnis einliefern, was häufig einem Todesurteil gleichkam, was aber Roschmann nicht zum Mörder macht. Schuld innerhalb einer Befehlsstruktur ist schwer nachweisbar. Man müsste Roschmann also bei einem Ausrutscher ertappen (der ist nachweisbar, er war Mittäter bei zwei Mordaktionen, wobei er selbst je eine Person erschoss). Schneppen konnte auch keinen überzeugenden Beweis finden, dass Roschmann für die Selektionen bei Schließung des Ghettos verantwortlich war. Gehörte das nicht zu Roschmanns Aufgaben oder gab es keine überlebenden Zeugen?

Roschmann wurde nach dem Krieg festgenommen, konnte aber fliehen. Er schlug sich nach Rom durch, wo ihm katholische Stellen und das Internationale Komitee des Roten Kreuzes zur Flucht nach Argentinien verhalfen. Forsyth lässt ihn mithilfe der ODESSA (Organisation ehemaliger SS-Angehöriger) fliehen. Es gehört zu Schneppens Verdiensten, in seinem Buch Odessa und das Vierte Reich : Mythen der Zeitgeschichte (Berlin, Metropol 2007, 279 S.) nachgewiesen zu haben, dass es ODESSA nie gab. Wiesenthal und der StaSi haben aus unterschiedlichen Gründen diese Organisation erfunden. Roschmanns Flucht war, wie die der meisten SS-Leute, schlecht organisiert, individuell und von Zufälligkeiten abhängig. Roschmann schlug sich in Argentinien mühsam durch. Eine Schreinerei, die er aufmachte, ging pleite. Er beging den Fehler, unter seinem falschen Namen ein zweites Mal zu heiraten, obwohl er nicht geschieden war. Ein Scheidungsbegehren ließ seine wahre Identität auffliegen. 1972 wurde er, der so unauffällig wie möglich bleiben wollte, durch Forsyths Roman weltberühmt. Die deutsche Justiz wusste wegen der Bigamie-Nachfrage, wo er war, und die Bundesrepublik stellte ein Auslieferungsbegehren. Offenbar warnte ihn die argentinische Militärdiktatur. Roschmann setzte sich nach Paraguay ab und starb 1977, einige Wochen nach seiner Flucht, gehetzt und krank.

Schneppen fragt in seinem Buch, was geschehen wäre, wenn Roschmann ausgeliefert worden wäre. Die Beweislage war dünn. Die deutsche Justiz hätte ihn nicht ohne weiteres verurteilen können. Wegen seines schlechten Gesundheitszustandes wäre er vielleicht von der Untersuchungshaft verschont worden. Als anonymer Flüchtling konnte er gegen Forsyths Schilderungen nicht vorgehen, als Angeklagter hätte er den Autor wegen Verleumdung verklagen können, ja fast müssen, um seine Glaubwürdigkeit zu beweisen. Was Schneppen hier andeutet, wäre ein gefundenes Fressen für Holocaustleugner gewesen: Roschmann wehrt sich als (wenn auch vorläufig) freier Mann in Deutschland erfolgreich gegen Darstellungen, die Simon Wiesenthal persönlich autorisiert hat, und stirbt, ehe der Prozess gegen ihn beendet ist! Wer wissenschaftliches Arbeiten zum Leben von NS-Tätern nach 1945 betreibt, gerät in solche Untiefen. Schneppen spricht Roschmann in seinem „virtuellen Prozess“ keinesfalls frei, aber er weist auf Probleme der Wahrheitsfindung, der zwischenstaatlichen Rechtshilfe und der Täterforschung hin, die sich bis heute nicht erledigt haben. Selbst banale Dinge wie die Übersendung von Fingerabdrücken dauerten bei Roschmanns Auslieferungsverfahren Monate.

Was Wiesenthal betrifft, bleibt Schneppen ganz Diplomat. Stellt man aber die zahlreichen Wiesenthal-Stellen in seinen beiden Büchern zusammen, ergibt sich der Nachweis, dass Wiesenthal, was dessen Bücher betrifft, ein von sich selbst allzu überzeugter Scharlatan war. Seine Verdienste beim Insistieren auf Strafverfolgung für NS-Täter stehen außer Zweifel, aber die ihm im Nachkriegsösterreich aufgezwungene Rolle des jüdischen Querulanten und seine spätere Prominenz verführten ihn zu sorglosem Umgang mit den Fakten. Als ich ihn einmal in seinem Wiener Büro, in dem Verlängerungskabel über Aktenstöße liefen, auf eine Meldung ansprach, die ich nicht glauben konnte, die aber Uneingeweihten plausibel erscheinen musste, sagte er, Briefmarken ausschneidend, diese Information habe er erfunden, um einen geflohenen Nazi aus der Reserve zu locken. Es gab Tausende von Menschen, die NS-Täter gesucht, belastet und angezeigt haben. Den meisten ging es um die Sache, nicht um den Rummel. Wiesenthal hat sich als Nazijäger stilisiert und dabei fremde Verdienste zugerechnet. Wer sich mit der Thematik beschäftigt, weiß viele Anekdoten darüber zu berichten. Je eher man seine Arbeit wissenschaftlich kritisiert, desto mehr Wind nimmt man den Antisemiten aus den Segeln, die das Thema irgendwann einmal entdecken werden.

Nach der Lektüre von Ghettokommandant in Riga bleibt die Frage offen, ob es innerhalb eines Terrorapparats wie der SS Abstufungen des Bösen geben kann. Steht Eichmann, der persönlich nie einen Juden ermordet hat, auf derselben Stufe wie ein SS-Mann, der im Vorbeigehen einen Juden erschoss? Die Frage ist bereits in den Differenzierungen der Aussagen von Überlebenden angelegt. Sie wird im Falle des „jüdischen SS-Offiziers“ Scherwitz, über den Anita Kugler eine vergleichbare Einzelstudie geliefert hat, zur fast unlösbaren Aufgabe. Scherwitz, der in einem Außenlager in Riga Juden vor der Ermordung rettete, wurde nach dem Krieg, möglicherweise wegen vorschneller Beschuldigungen, in Westdeutschland zu Haft verurteilt. Wie immer man zu dieser Problematik steht: Arbeiten wie die Schneppens und Kuglers schärfen in ihrer Spannung zwischen Faktenreichtum und dem Leser überlassener Wertung den Blick auf die Judenvernichtung. Beide Autoren durchbrechen den cordon sanitaire der NS-Forschung  – das Jahr 1945 –  und stoßen in die Nachkriegsgeschichte vor. Die implizit vorausgesetzte Verurteilung der Täter oder der Gestus wertfreier Forschung versagen hier den Dienst. Zu der Frage, wie im Stimmengewirr von Nachkriegsdeutschland NS-Täter begründet zu beurteilen sind, hat Schneppen eine nachdenkenswerte Einzelstudie geliefert.

von Dieter Maier

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