Die Vereinten Nationen als Wertesystem

8. Dezember 2012 | Von | Kategorie: Rezensionen

Otto Spijkers: The United Nations, the Evolution of Global Values and International Law, Cambridge, Antwerpen, Portland (Intersentia), 2012, 520 Seiten

Den Schrecken der faschistischen Diktaturen und des Zweiten Weltkriegs wollten die Gründer der Vereinten Nationen ein Gegenmodell einer auf Frieden und Menschenrechte gegründeten Weltordnung entgegensetzen. In der Präambel zur Charta der neuen Weltorganisation formulierten sie ihre „Entschlossenheit“, künftig Kriege zu vermeiden, ihren „Glauben“ an die Grundrechte und den Wert und die Würde der menschlichen Persönlichkeit sowie an die Gleichberechtigung von Mann und Frau und aller Nationen. Außerdem bekräftigten sie ihre Entschlossenheit, den sozialen Fortschritt zu fördern und Bedingungen für eine gerechte Weltordnung zu schaffen. Im ersten Kapitel der Charta formulierten sie dementsprechende „Ziele“ und „Grundsätze“.

Ausgangspunkt von Otto Spijkers Buch ist sein Bedauern, dass die UN-Charta solche Ziele und Grundsätze formuliert hat, nicht aber „Werte“. Zu zeigen, dass die Vereinten Nationen gleichwohl eine Reihe von globalen Wertvorstellungen verfolgen, ist dann der Inhalt des umfangreichen Bandes. Zunächst stellt der Autor eine Reihe philosophischer übergreifender („globaler“) Wert-Konzepte von der Antike bis in die Gegenwart vor, aus denen sich für ihn logisch die Frage nach dem Träger solcher globaler Wertvorstellungen ergibt, und die ebenso logische Antwort findet er bei den Vereinten Nationen. Die Definitionen, die der Autor dabei für globale Werte findet, sind so allgemein und interpretationsfähig wie zu erwarten. Folgerichtig wendet sich Spijker in den folgenden großen Kapiteln der Entwicklung und Umsetzung dieser Werte zu, so wie er sie in der Geschichte der Vereinten Nationen entdeckt. Zunächst widmet er sich der Entstehungsphase der UNO und interpretiert sie als einen Prozess, in dem auf legitime Weise wertebasierte Entscheidungen getroffen wurden. In weiten Teilen rekapituliert der Autor hier die mehr oder weniger bekannte Entstehungsgeschichte der Charta, der Allgemeinen Erklärung und anderer Grundsatzdokumente der frühen UN-Jahre, ohne Entscheidendes hinzuzufügen über die Feststellung hinaus, dass es sich dabei jeweils auch um eine Wertediskussion handelte. Kritische Fragen wie z.B. nach der tatsächlichen Globalität der damals getroffenen Wertentscheidungen, erledigt er dabei relativ nonchalant.

Der Hauptteil des Buches ist dann der Entwicklung der wesentlichen Werte in der UNO seit der Charta unter umfassender Auswertung der relevanten der mittlerweile über 15.000 UN-Resolutionen gewidmet. Ohne nochmals auf die Versuche des ersten Kapitels, Werte philosophisch grundsätzlich herzuleiten, einzugehen, identifiziert Spijkers dabei vier Hauptwerte, die die Vereinten Nationen fördern, und denen jeweils ein langes Kapitel gewidmet ist: Frieden und Sicherheit, Sozialer Fortschritt und Entwicklung, Menschenwürde und Selbstbestimmung der Völker. Das sind zwar Kategorien, die in groben Strichen die schon in der Charta gesetzten Themen nachzeichnen, aber kaum als Werte gleichartiger Kategorie verstanden werden können. Am wenigsten problematisch ist die Reinterpretation der UN-Ziele als Werte gewiss bei dem Kapitel „Menschenwürde“, das de facto vor allem von Menschenrechten handelt. Die Menschenrechte noch einmal gewissermaßen gegen den Strich als Entfaltung von Werten, in diesem Fall als Ausbuchstabieren der Menschenwürde zu lesen, ergibt im Einzelfall ein interessantes Blitzlicht, im Ganzen aber nichts wirklich Neues.

Schwieriger ist es bei „Werten“ wie „Frieden und Sicherheit“. Spijkers‘ Bemühen, dieses „Ziel“ als menschlichen Wert zu interpretieren, fördert zwar fleißig die zahlreichen UN-Dokumente zu menschlicher Sicherheit, „Responsibility to Protect“ bis hin zu den jüngsten Bemühungen, ein „Menschenrecht auf Frieden“ zu formulieren. Letztlich aber gerät ihm das zu einer additiven Übung, bei der dann vom Klimaschutz bis zur Völkermordprävention nahezu Alles zu subsumieren ist, ohne dass irgendwie erkennbar wäre, wie diese zahllosen schönen Ziele der Vereinten Nationen einem in sich stimmigen Wertesystem zuordenbar wären. Das gleich gilt für die Kapitel „Sozialer Fortschritt und Entwicklung“ und „Selbstbestimmung der Völker“. In einem philosophisch begründeten Wertesystem gleich welcher Art könnten sie, wie hoch auch immer man ihre Bedeutung innerhalb des realen UN-Systems einschätzt, nicht auf einer Ebene stehen mit Würde oder Frieden. So zeigt sich hier erst recht die Crux des Buches, dass die Suche nach den Werten im UN-System nicht von einer – vielleicht ja auch nicht möglichen – systematischen Bestimmung menschlicher Werte ausgeht, sondern sich an den Windungen der realen Zielentwicklung der Vereinten Nationen entlang hangelt. Das führt in vielen Fällen auf die Spur von Gleisen dieser Entwicklung, die nicht so häufig in den Blick geraten. Insofern lässt sich das Buch gewinnbringend als gelegentlich produktiv provozierende Bestandsaufnahme wesentlicher Entwicklungslinien des UN-Systems lesen, zumal es sorgfältig und ausführlich gegliedert ist und ein Sachindex bei Querverbindungen hilft. Aber ohne eine wirkliche These über das Postulat hinaus, dass die UN auch eine „werteproduzierende Maschine“ seien, kann das Werk im Ganzen nicht befriedigen.

Rainer Huhle

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