William A. Schabas: Genozid im Völkerrecht

10. März 2006 | Von | Kategorie: Rezensionen

Hamburger Edition, Hamburg 2003, 792 Seiten

Genozid, oder Völkermord wie es im Deutschen meist heißt, ist sicher einer der emotionsgeladensten und zugleich umstrittensten juristischen Begriffe. Bedenkt man, was er in einem einzigen Wort zu fassen sucht, die Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen, kann das nicht verwundern. Was Völkermord sei und was nicht, welchen geschichtlichen Ereignissen diese Bezeichnung zukomme, ob dieses Verbrechen etwas Verwerflicheres sei als andere Menschenrechtsverbrechen, ob man den Begriff überhaupt benötige, um all dies wurde schon bei seiner “Erfindung” teils heftig gestritten und Vieles davon ist bis heute Gegenstand nicht selten polemischer Auseinandersetzungen. Mehr noch als bei anderen zentralen Rechtsbegriffen ist es daher angezeigt, ihn nicht nur rechtsdogmatisch zu analysieren, sondern sich die historische Genese und den politischen Kontext zu vergegenwärtigen, der zu seiner Herausbildung geführt hat. All dies lässt sich nun anhand des gewaltigen und doch auch für juristische Laien immer verständlichen Buches des amerikanischen Völkerrechtlers William A. Schabas in hervorragender Weise tun.

“Völkermord” als juristischer Terminus war zunächst wie kaum ein anderer Begriff die Idee eines Einzelnen. Der 1900 in Ostpolen geborene brillante polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin widmete praktisch sein ganzes Leben der “Erfindung” und dann der Propagierung und Durchsetzung dieses Begriffs. Im Holocaust verlor er seine Eltern und nahezu seine gesamte Großfamilie, den Anstoß für die Suche nach einem Begriff für das, was die Nazis dann mit den Juden und anderen ethnischen Gruppen und Völkern taten, hatte ihm jedoch lange zuvor schon das Entsetzen über die Ermordung von vielen Hunderttausend Armeniern durch die türkische Regierung während des ersten Weltkriegs gegeben. Was für Lemkin den Völkermord von anderen Verbrechen unterschied und ihn sein Leben lang leidenschaftlich für die Besonderheit dieses Begriffs eintreten ließ, war nicht nur der ungeheure Umfang dieser Verbrechen, sondern vor allem ihre Absicht: eine bestimmte meist ethnisch, national oder religiös bestimmbare Gruppe von Menschen als solche, also aus keinem andern Grund als eben wegen dieser Zugehörigkeiten, zu vernichten. Dieses Verbrechen des Völkermords, das war dann seine bis zum Nürnberger Prozess – und vielfach noch lange danach – von der herrschenden Meinung abgelehnte Konsequenz, müsse dann als Verbrechen von internationalem Charakter, ähnlich wie z.B. die Piraterie, betrachtet und dementsprechend international verfolgt werden, und zwar unabhängig davon, ob es im Rahmen von Kriegshandlungen begangen wurde oder nicht. Im ersten Kapitel zeichnet Schabas diese ideengeschichtliche Herleitung des Völkermordbegriffs nach. Im Nürnberger Prozess fanden Lemkins Ideen – die er dort persönlich als unermüdlicher Lobbyist vertrat – nur indirekt Eingang. Der Begriff “Völkermord” oder “Genocidium” wurde gelegentlich, auch unter Verweis auf Lemkins Hauptwerk “Axis Rule in Occupied Europe” erwähnt, gewann aber gegenüber den im Londoner Statut des Internationalen Militärtribunals definierten Anklagepunkten wie Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschheit keine eigene Kontur. Lemkins zweites Anliegen, die internationale strafrechtliche Ahndung des Völkermords als eigenständigem Verbrechen auch außerhalb von Kriegshandlungen, wurde in Nürnberg im Rahmen des Tatbestands der Verbrechen gegen die Menschheit auch nur in Ansätzen verwirklicht.

So nutzte Lemkin die kurz vor dem Nürnberger Tribunal neugeschaffene Plattform der Vereinten Nationen, um sein Anliegen dort voranzubringen. Diese Bemühungen führten noch 1946 zu einer entsprechenden Resolution der Vollversammlung der VN und schließlich, am 9. Dezember 1948, zu der als “Völkermordkonvention” bekannten “Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes”, in der dieser verbindlich definiert und seine Bestrafung als internationales Verbrechen verpflichtend für alle Vertragsstaaten festgeschrieben wurde. In seinem zweiten Kapitel zeichnet Schabas die komplexen juristischen Debatten und politischen Verhandlungen nach, die schließlich zu einem Text führten, der politisch ein erstaunlicher Erfolg (auch wenn die USA 40 Jahre zögerten, ihn zu ratifizieren) und völkerrechtlich zweifellos bahnbrechend war, seinem Inhalt nach aber auch große Probleme aufweist, die bis heute dazu beigetragen haben, dass die Völkermordkonvention wenig reale Wirkung entfaltet hat. Schabas’ Erzählung der Entstehungsgeschichte der Konvention macht auch deutlich, dass viele alternative Formulierungen bestanden. So schloss etwa die UN-Resolution von 1946 noch “politische Gruppen” ein, die im Vertragstext dann, u.a. auf Verlangen der Sowjetunion. nicht mehr als durch die Konvention zu schützende Gruppen auftauchen.

Ausführlich geht Schabas in den folgenden Kapiteln auf die Definition der Handlungen ein, die als Völkermord zu betrachten sind und derjenigen, die eben nicht unter die Bestimmungen der Konvention fallen. Nicht zuletzt gehört dazu eine Auseinandersetzung mit dem Erfordernis eines subjektiven Willens zur Vernichtung, den die Konvention in ihrem Art. 2 als eine der Voraussetzungen für den Tatbestand des Völkermords nennt. In diesen Kapiteln, die nach und nach die gesamte Konvention abhandeln, geht Schabas immer von deren Text und den bei ihrer Abfassung diskutierten Absichten aus, bezieht aber zugleich ausführlich die seitherige Entwicklung ein. Dazu gehören insbesondere die Aufnahme des Völkermordbegriffs in die Statuten der internationalen Strafgerichtshöfe (Jugoslawien, Ruanda und IstGh) und die Interpretationen, die sich in den Urteilen dieser Gerichtshöfe bei Anklagen nach Völkermord ergeben haben. Hier wird das Buch zu einem umfassend informierenden Nachschlagewerk, das kaum eine Frage offen lässt. Immer wieder geht Schabas dabei neben der Textinterpretation und dem Bericht über die bisherige rechtliche Rezeption der einzelnen Artikel der Konvention auf die politischen Kontexte ein. Wann von wem wofür der Begriff Völkermord ins Feld geführt wird, und wann er vermieden wird, das sind bis heute weit mehr politische als rechtliche Entscheidungen, und diese politische Geschichte des Begriffs, die Schabas nicht zusammenfassend darlegt aber doch immer wieder durchscheinen lässt, ist bis heute deprimierend.

Deutlich wird das auch in dem Kapitel über die im Titel der Konvention angesprochene und im Art. 8 ausgeführte Frage der Verhütung des Völkermords. Gerade hier bleibt der Text der Konvention gegenüber den vorangegangenen Entwürfen erheblich zurück, und auch in der fast sechzigjährigen Geschichte des Vertrags haben die angesprochenen Organe der VN und die ebenfalls angesprochenen Staaten nur selten ernsthafte Anstrengungen zur Verhütung erkennbar bevorstehender Völkermorde unternommen. Zumindest kurze Informationen kann man zu den herausragenden Ereignissen in diesem Zusammenhang, aber auch zu den Debatten um dazugehörige Probleme wie die “humanitären Interventionen” in diesem Kapitel finden. Abschließend behandelt der Autor noch alle Fragen, die mit der Gestalt der Konvention als Vertragswerk zusammenhängen. Dabei beleuchtet er auch nochmals kurz die Geschichte der Ratifizierung, die wie so Vieles an dieser Konvention durch Überraschungen und leidenschaftliches persönliches Engagement geprägt war. Während die Konvention nur wenig mehr als zwei Jahre nach ihrer Verabschiedung durch die Generalversammlung bereits in Kraft treten konnte, kostete die Ratifizierung durch einen an ihrer Ausarbeitung aktiv beteiligten Staat, die USA, fast vierzig Jahre. Erst 1986 stimmte der US-Senat der Ratifizierung zu, und zwar nachdem Senator William Proxmire neunzehn Jahre lang auf allen 3211 Sitzungstagen des Senats das Wort für die Ratifizierung der Völkermordkonvention ergriffen hatte – und dabei keine einzige Rede wiederholte, sondern jedesmal neue Gründe für die Konvention anführte, oft genug aus traurigem aktuellen Anlass.

Vielleicht findet sich ja schon bald ein Senator, der beginnt, für die Unterzeichnung des römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs zu reden?

Rainer Huhle

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