Rezension: Transitional Justice im Kontext. Zur Genese eines Forschungsgebietes im Spannungsfeld von Wissenschaft, Praxis und Rechtssprechung (Constanze Schimmel)

3. November 2017 | Von | Kategorie: Strafgerichtsbarkeit, Rezensionen

Rezension: Schimmel, Constanze: Transitional Justice im Kontext. Zur Genese eines Forschungsgebietes im Spannungsfeld von Wissenschaft, Praxis und Rechtsprechung, Berlin (Duncker&Humblot) 2016, 595 Seiten

von Rainer Huhle

Für den seit den frühen 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts aufgekommenen Begriff einer „Transitional Justice“ (im Folgenden „TJ“) hat sich bis heute kein deutsches Äquivalent durchgesetzt. Die Literatur zu dem damit gemeinten komplexen Themenbereich ist überwiegend in englischer Sprache. Umso bemerkenswerter ist es daher, dass die bisher umfassendste Monografie, die eine Gesamtdarstellung des Themenfelds unternimmt, in deutscher Sprache erscheint. Allein schon deswegen darf das 2015 abgeschlossene, auf ihrer juristischen Dissertation beruhende Buch von Constanze Schimmel als ein Meilenstein in dem inzwischen uferlosen Schrifttum zu TJ gelten. Schimmels Anspruch geht deutlich über das im Titel Versprochene hinaus. Sie liefert nicht nur eine ausgezeichnet informierte Darstellung der Genese des TJ-Ansatzes, sondern zeichnet dessen Entwicklung und Auffächerung über rund zwei Jahrzehnte bis etwa zum  Jahr 2010 ausführlich nach. Im Zentrum dieser juristischen Arbeit steht dabei die Frage, wie das Völkerrecht TJ-Problemstellungen aufnimmt bzw. auch ablehnt. Doch Schimmel bezieht von vornherein in systematischer Weise andere Disziplinen in die Untersuchung ein, um dem interdisziplinären, oder wie sie einschränkend formuliert „multidisziplinären“ Charakter dieses Forschungsfeldes gerecht zu werden. Das „Forschungsfeld“ wiederum ist nur einer der Untersuchungsgegenstände, denn eine der Stärken des Buches ist es gerade, dass Schimmel neben der breiten Darstellung der akademischen Literatur zu TJ auch das „Praxisfeld“, also die umfangreichen Bemühungen von internationalen Organisationen und nationalen oder internationalen zivilgesellschaftlichen Gruppen in den Blick nimmt, und sich auch mit der TJ-relevanten Rechtsprechung  durch regionale Menschenrechtsgerichtshöfe, den IStGH und UN-Vertragsorgane ausführlich auseinandersetzt.

All das packt Constanze Schimmel in ihre nicht nur quantitativ beeindruckende Gesamtdarstellung, bei der schon das Inhaltsverzeichnis neun Seiten umfasst. Gegliedert ist die Arbeit in drei Hauptteile. Der erste, kürzeste Teil unternimmt einen Überblick über die TJ-Publikationen seit der Entstehung eines Diskurszusammenhangs über TJ, der zu Recht von fast allen Autoren auf die Phase der Überwindung der lateinamerikanischen Diktaturen seit Mitte der achtziger Jahre zurückgeführt wird. Schimmel zeichnet dann anhand einer quantitativen Analyse  von Literaturdatenbanken den erst langsamen, seit Beginn des 21. Jahrhunderts dann sprunghaften Anstieg der Publikationen zu TJ nach und kann dabei schon unterschiedliche Schwerpunkte bei den verschiedenen Teilgebieten des TJ-Diskurses konstatieren, denen sie später ausführlich nachgeht.

Im zweiten Hauptteil unternimmt die Autorin dann ein „Mapping“ des TJ-Diskurses, in dem sie die beiden begrifflichen Bestandteile von TJ analysiert. Den aus der Politikwissenschaft kommenden, entscheidend von dem 1989 vorgelegten mehrbändigen Werk „Transitions from Authoritarian Rule“ von O‘Donnell/Schmitter geprägten Begriff der „Transition“ handelt sie dabei recht knapp ab, was auch in späteren Teilen ihres Buches dazu führt, dass die schillernden Wandlungen dieses Begriffs im TJ-Kontext unterbelichtet bleiben. Das gilt insbesondere für die Ausweitung des Transitionsbegriffs, der ursprünglich nur den Übergang von autoritären Regimen zu demokratischen Regierungsformen meinte, in Richtung von Bürgerkriegs- oder gar Kriegsszenarien und ihrer Bewältigung. Schimmel beklagt an einer Stelle, dass der TJ-Diskurs diesen Wandel nicht thematisiere (was nicht ganz stimmt), tut es aber selbst auch nur am Rande. Umso ausführlicher beschäftigt sie sich hier mit verschiedenen philosophischen und juristischen Begriffen von Gerechtigkeit, woraus sie eine Übersicht über das weit gefächerte Vokabular der verschiedenen TJ-Diskurse entfaltet. Dem schließt sich ein knapper Überblick über das Forschungsgebiet der TJ insgesamt an, bei dem die Autorin u.a. zu dem für ihre weitere Entfaltung des Themas wichtigen Schluss kommt, dass der Praxisbezug des wissenschaftlichen Diskurses für die TJ ein konstitutives Element ist. Deutlich wird das dann im letzten Abschnitt dieses zweiten Hauptteils, der den verschiedenen „Akteuren“ der TJ gewidmet ist. Hier wird das Buch geradezu zu einem Nachschlagewerk, in dem man sich über die wichtigsten AutorInnen und Institutionen des Feldes informieren kann, z.B. auch über die große Rolle, die nordamerikanische Stiftungen und eines ihrer Kinder, das International Center for Transitional Justice (ICTJ) bei der Erarbeitung und Diffusion des TJ-Konzeptes als weltweitem Gebrauchsmuster spielten.

Bildquelle: Duncker & Humblot Verlag

Der mit rund 350 Seiten umfassendste Teil des Werkes ist der schlicht „Entwicklung von Transitional Justice“ überschriebene dritte Hauptteil. Hier nimmt Schimmel die im „Mapping“ skizzierten Entwicklungsstränge jeweils ausführlich auf. Untergliedert ist dieser Teil zunächst nach den drei anfangs ausgemachten Akteursfeldern Wissenschaft, (politische) Praxis und Justiz, wobei der Darstellung der wissenschaftlichen Diskurse der bei weitem größte Teil gewidmet ist. Alle drei Abschnitte sind chronologisch organisiert, wobei die Chronologie bei der Darstellung der wissenschaftlichen Diskurse besonders erhellend ist. Wie Schimmel hier auf Basis einer staunenswert breiten Literaturkenntnis die diskursive Entwicklung des Feldes nachzeichnet, ist sicherlich das Kernstück des Buches und macht es zu einem Referenzwerk weit über den deutschsprachigen Raum hinaus. Dass dieser Teil nicht einfach zu lesen ist und es sicherlich über die eine oder andere Einordnung verschiedene Meinungen geben kann, liegt in der Natur der Sache. Die quantitativ kaum noch überschaubare und qualitativ oft fragwürdige TJ-Literatur überhaupt in eine stimmige Übersicht gebracht zu haben, ist ein enormes Verdienst. Schimmel identifiziert dabei – nach einem Blick auf die Vorgeschichte der TJ seit 1945, die noch ohne den Terminus TJ auskommt – vier Phasen der Entwicklung des TJ-Diskurses: seine Entstehung vom Ende des Kalten Kriegs bis 1994; dann die definitive Konsolidierung von TJ als multidisziplinärem Forschungsfeld bis etwa 2002, in dem sich wesentliche Forschungseinrichtungen herausbilden; und schließlich die von ihr nochmals untergliederte (2003-2005 und 2006-2010) Phase einer stetigen Ausdifferenzierung, disziplinären Erweiterung und kritischen Hinterfragung des Gebietes. Mit Geschick kombiniert Schimmel hier jeweils systematische Fragestellungen (vor allem nach dem Anteil des Völkerrechts, der Menschenrechte und der Politikwissenschaft sowie anderer Disziplinen) mit einer historisch-genetischen Darstellung, in die sie immer auch die politischen Rahmenbedingungen, die die Diskursentwicklung beeinflussen, in den Blick nimmt. Vor allem der nach wie vor akute Streit um die Berechtigung von Amnestien, die Rolle von Wahrheitskommissionen, die Debatten um das Verhältnis von Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung sind die wesentlichen Themen, die, neben der Akteursentwicklung, diese umfangreiche Darstellung durchziehen. Trotz der Länge dieses Abschnitts vermisst man dabei den nicht unwesentlichen Themenkomplex der Erinnerungskultur, die ja durchaus auch in den Bereich der Justiz Eingang gefunden hat. Bei der Beschäftigung mit Wahrheitskommissionen blendet leider auch Schimmel, wie die meisten AutorInnen, andere Formen der Wahrheitssuche wie „Commissions of Inquiry“ oder ein Instrument wie die UN-Strafermittlungsbehörde  CICIG in Guatemala aus. Gleiches gilt für zivilgesellschaftliche Unternehmungen wie die Russell-Tribunale und ihre Nachfolger. Auch die große Bedeutung, die das Auffinden, Sichern und Auswerten von Archiven der staatlichen Unterdrückungsapparate für die TJ hatte, kommt nicht zur Sprache.

Auch hinsichtlich der enormen Fülle an Literatur, die Schimmel gerade auch in diesem Teil der Arbeit verarbeitet hat, ist allerdings eine Einschränkung zu machen: Die Autorin hat keinen Zugriff auf die inhaltlich wie quantitativ bedeutende Literatur aus dem spanischen (lateinamerikanischen) Bereich. Das macht sich in Kleinigkeiten bemerkbar, wie der Behauptung, dass in der peruanischen Wahrheitskommission auch die bewaffneten Oppositionsgruppen beteiligt gewesen seien, oder der falschen Zitierung von spanischen Nachnamen (die chilenische Menschenrechtsexpertin und ehemalige Präsidentin des Interamerikanischen Menschenrechts-Gerichtshofs Cecilia Medina verbirgt sich hinter ihrem Muttersnamen „Quiroga“, ebenso der frühere Vizepräsident des Gerichtshofs, Alirio Abreu, der als „Burelli“ firmiert; aus dem argentinischen Rechtsphilosophen Carlos Nino wird bei Schimmel ein „Niño“, Kind). Zwar haben viele AutorInnen aus Lateinamerika auch in englischsprachigen Fachzeitschriften publiziert, doch gibt es kaum Übersetzungen aus dem Spanischen ins Englische oder andere Fremdsprachen, sodass doch ein bedeutender Teil der lateinamerikanischen Debatten, denen Schimmel zu Recht große Aufmerksamkeit schenkt, und wie sie etwa an Forschungszentren und Universitäten in Santiago, Buenos Aires oder Bogotá geführt werden, verloren geht. Englisch ist doch noch nicht ganz die lingua franca von TJ, wie Schimmel behauptet. Für Carlos Nino gilt das Sprachproblem freilich  nicht, da seine wesentlichen Schriften dank seiner ausgedehnten Lehrtätigkeit in den USA auch auf Englisch publiziert wurden. Dass er in Schimmels umfassender Darstellung dennoch nur am Rande erscheint, ist insofern bedauerlich, als er u.a. in der Anfangszeit der TJ-Debatte im Yale Law Journal eine berühmte Kontroverse mit einer der Pionierinnen der TJ, Diane F. Orentlicher, über die Notwendigkeit der Bestrafung der Junta-Generäle in Argentinien führte. Entgangen ist Schimmel so auch die Serie von zivilgesellschaftlichen Tribunalen gegen die Straflosigkeit, die 1990 in zahlreichen lateinamerikanischen Ländern stattfanden und 1991 in einem prominent besetzten internationalen Tribunal in Bogotá gipfelten, das wesentliche Impulse für die Diskussion um die Straflosigkeit einbrachte. Die Konzentration auf den angelsächsischen Bereich (insbesondere USA, Südafrika und Nordirland) ergibt auch in der Gesamtbewertung ein etwas schiefes Bild. So erstaunt, dass Schimmel die Debatten um die (auch juristische) Aufarbeitung der DDR-Diktatur kaum diskutiert, wie ihr überhaupt die sicherlich im internationalen Vergleich geringe, aber doch beträchtliche deutsche TJ-Diskussion, wie etwa an der Universität Marburg oder bei Autoren um das Hamburger Institut für Sozialforschung, kaum der Erwähnung wert sind. Auch die 2007 in Nürnberg von Deutschland, Jordanien und Finnland in Zusammenarbeit mit dem ICTJ veranstaltete internationale Konferenz „Building a Future on Peace and Justice“ bleibt trotz ihrer beträchtlichen Ausstrahlung in Schimmels Kapitel über das Verhältnis von Frieden und Gerechtigkeit unerwähnt.

Nach ihrer trotz dieser Einschränkungen geradezu enzyklopädischen Auseinandersetzung mit den in den Wissenschaften verhandelten Themen untersucht Schimmel im Anschluss, ebenfalls chronologisch angelegt, die Entwicklung auf der Ebene der TJ-„Praxis“, insbesondere der Vereinten Nationen. Sie fragt, inwieweit Peacekeeping-Missionen der UNO Fragestellungen der TJ aufgenommen bzw. zu ihnen beigetragen haben und stellt die wesentlichen Dokumente der UNO zu TJ-Fragen vor, die dort häufig unter dem Label „Rule of Law“ veröffentlich wurden, sowie die wegweisenden guidelines zu Opferrechten und dem Kampf gegen die Straflosigkeit. Die Arbeit des 2012 eingesetzten UN-Sonderberichterstatters „zur Förderung der Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Entschädigung und der Garantien der Nichtwiederholung“, Pablo de Greiff, dem früheren Forschungsdirektor des ICTJ, der seither ebenfalls Wesentliches zur Systematisierung des TJ-Feldes beigetragen hat, kann sie im zeitlichen Rahmen ihrer Untersuchung nur streifen. Kurz geht sie dann noch auf andere politische Akteure wie die wichtigsten zwischenstaatlichen regionalen Organisationen, Nichtregierungsaktionen und die erkennbare Staatenpraxis ein.

Der dritte Komplex innerhalb dieses großen zentralen Kapitels beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit der TJ-Diskurs auch in den Bereich des (internationalen) Rechts Eingang gefunden hat. Die Autorin untersucht dabei sowohl die Vertragsorgane (insbesondere den Menschenrechtsausschuss), die Rechtsprechung der internationalen Strafgerichtshöfe, mögliche Auswirkungen der TJ auf das Humanitäre Völkerrecht und das Völkergewohnheitsrecht, vor allem aber die Arbeit der regionalen Menschenrechtsschutzsysteme. Nicht überraschend erhält dabei das interamerikanische System besonderes Gewicht, in dessen Bereich ja die entscheidenden „Transitionen“ stattgefunden haben, die für die Herausbildung der TJ-Diskurse ausschlaggebend waren. Schimmels Fazit ist hier vielleicht für Manche überraschend, aber sehr eindeutig: Der TJ-Diskurs hat in die Sphäre des Rechts wenig Eingang gefunden. Dieser Befund ist eines der wichtigen Ergebnisse ihrer Studie. Denn Schimmel vermeidet konsequent einen in der TJ-Literatur häufig zu findenden methodischen Fehler, nämlich alle Ereignisse, die im zeitlichen Rahmen oder inhaltlichen Kontext von Transitionen stattfinden, umstandslos als Ausdruck von Transitional Justice zu verstehen. Sehr klar macht sie dies sowohl bei der Diskussion der UN-Prinzipien wie am Beispiel des Interamerikanischen Menschenrechts-Schutzsystems: Obwohl sowohl die Interamerikanische Menschenrechtskommission wie der Gerichtshof die meisten ihrer für die Aufarbeitung der Diktaturverbrechen wegweisenden Entscheidungen im Kontext von Transitionen getroffen haben, sind sie gerade nicht transitions-spezifisch, sondern als generelle Rechtsprinzipien formuliert. Gleiches konstatiert sie zu Recht für die beiden grundlegenden Sammlungen von soft law-Prinzipien bei der UNO (die van Boven/Bassiouni-Prinzipien zu Opferrechten und die Joinet/Orentlicher-Prinzipien gegen Straflosigkeit), deren Entstehung sich deutlich im Kontext des Strebens nach Überwindung der Unrechtsregime vor allem in Lateinamerika verortet, die jedoch beide ebenfalls keine Prinzipien für eine Übergangsperiode, sondern allgemeine Grundsätze formulieren.

Insgesamt hat Schimmels Buch die Qualitäten, zu einem Standardwerk – leider wohl nur im deutschsprachigen Raum – zu werden, das erstmals einen ausführlichen Überblick über Geschichte, Themen, Methoden und Problem der TJ bietet. Die verschiedenen Ansätze, die oft genug im polemischen Clinch miteinander liegen, referiert sie mit der Gelassenheit der außenstehenden Analytikerin. Erst im letzten Kapitel geht die Autorin in ihren Schlussfolgerungen ein bisschen aus der Deckung. Sie stellt, vor allem aus völkerrechtlicher Sicht, die kritische Frage nach der Berechtigung des grundlegenden TJ-Arguments von der Notwendigkeit exzeptioneller rechtlicher Antworten auf exzeptionelle Situationen, die meist nicht so exzeptionell sind wie behauptet. Sie konstatiert, offenbar nicht begeistert, dass der TJ-Diskurs sich erfolgreich auf der Agenda der internationalen Politik festgesetzt hat (nicht zuletzt dank der UNO), auch wenn der menschenrechts- und friedenspolitische Ertrag dieses Erfolgs im Licht der andauernden Konflikte in weiten Teilen der Erde gering erscheint. Und sie hofft, dass eine vertiefte rechtswissenschaftliche Diskussion dem von ihr konstatierten Primat der Politik Schranken setzen wird. Man darf gespannt sein.

 

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