“Anne Frank. Ein Mädchen aus Deutschland”

18. Juni 2004 | Von | Kategorie: Menschenrechte verstehen

von Gottfried Kößler

Eine interaktive Ausstellung für Jugendliche. Ein interkulturelles Projekt zur Erinnerungskultur. Ein Wagnis der Kooperation.

1. Das Thema “Anne Frank” – ein pädagogisches Versprechen

“… weil ich noch immer an das innere Gute im Menschen glaube.” (Anne Frank, 15. Juli 1944). Diese Formulierung prägt seit 50 Jahren die Rezeption des Tagebuchs, und sie ist die Grundlage seiner weltweiten Aufnahme in den Kanon der Jugendbücher. Otto Frank, Annes Vater und als überlebendes Familienhaupt für ihren Nachlass verantwortlich, hat aus diesem Glaubenssatz ein pädagogisches Programm gemacht. Der Glaube an das Gute im Menschen als Bildungsziel! Wenn das keine Perspektive ist, um die Schrecken des “Jahrhunderts der Genozide” zu überwinden.

Anne Franks Satz steht aber im Tagebuch in einem anderen Kontext. Sie schreibt: “Wir, die Jüngeren, haben doppelt Mühe, unsere Meinungen in einer Zeit zu behaupten, in der aller Idealismus zerstört und kaputtgemacht wird, in der sich die Menschen von ihrer hässlichsten Seite zeigen, in der an Wahrheit, Recht und Gott gezweifelt wird. Jemand, der dann noch behauptet, dass die Älteren es hier im Hinterhaus viel schwerer haben, macht sich nicht klar, in wie viel stärkerem Maß die Probleme auf uns einstürmen. (…) Es ist ein Wunder, dass ich nicht alle Erwartungen aufgegeben habe, denn sie scheinen absurd und unausführbar. Trotzdem halte ich an ihnen fest, trotz allem, weil ich noch immer an das innere Gute im Menschen glaube.” Hier sind die Themen angesprochen, die nach wie vor das Interesse junger Leser an diesem Text begründen: Generationenkonflikt, Infragestellung der Grundwerte, Religion und Glaube – und nicht zuletzt die eigenen Zukunftsentwürfe.

Auch die genauere Lektüre bestätigt also, wenn auch auf einer anderen Ebene, die Eignung dieses Buches für eine pädagogische Nutzung. Allerdings ist die Interpretation des eingangs zitierten Satzes dann falsch, wenn er als Kommentar zum Holocaust gelesen wird, als Geste des Verzeihens gegenüber der Menschheit insgesamt und damit als Exculpierung der Deutschen. Darum geht es ihr nicht. Es geht vielmehr um den Kampf einer Jugendlichen um ihr Selbstverständnis in einer Welt, die keine klaren Orientierungen mehr bietet. Gerade wegen der Fehlinterpretation konnte dieser Text seit der Premiere des Theaterstückes über Anne Frank am Broadway 1955 gerade in Deutschland eine derart wichtige Funktion bekommen. Anne Franks “… Geschichte wurde aus dem historischen Zusammenhang gerissen und zu einem individualisierten Text gemacht.” Aber eben diese Individualisierung bringt eine Chance auf einer ganz neuen Ebene mit sich, wenn es nicht um die Rekonstruktion einer Nationalgeschichte geht. Denn für die heutige pädagogische Nutzung der Geschichte Anne Franks heute steht die Frage nach ihrer Eignung für eine Verständigung über die Geschichte des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges in einem Deutschland an, das keine national homogene Bevölkerung mehr hat.

Für eine Geschichtsdidaktik, die Jugendlichen bei der Suche nach ihrem je eigenen Bezug auf Geschichte als Teil ihrer persönlichen Konzeption von Identität helfen will, hat es eine neue und völlig veränderte Bedeutung, von der Geschichte eines einzelnen Menschen auszugehen. Unter dieser Perspektive bedeutet dann Individualisierung nicht mehr ein Wegsehen von der jüdischen Identität Anne Franks, wie es bei der amerikanischen – und in ihrem Gefolge der deutschen – Rezeption in den 50er und 60er Jahren der Fall war. Im Gegenteil, die Auseinandersetzung mit der Frage, welcher Anteil der Familiengeschichte und der persönlichen Gegenwart für das Selbstverständnis am bedeutendsten ist, spielt für Anne Frank eine ebenso große Rolle, wie für Jugendliche in Deutschland heute – und nicht nur hier. Anne schreibt am 11. April 1944 unter dem Eindruck größter Gefahr, entdeckt zu werden: “Wer hat uns das auferlegt? Wer hat uns Juden zu einer Ausnahme unter allen Völkern gemacht? Wer hat uns bis jetzt so leiden lassen? (…) Wir können niemals nur Niederländer oder nur Engländer oder was auch immer werden, wir müssen daneben immer Juden bleiben. Aber wir wollen es auch bleiben.”

Es ist eine der Grundlagen der didaktischen Konzeption unserer Ausstellung, die “Universalisierung” der Botschaft des Tagebuchs gerade an diesem Punkt neu zu begreifen. “So gesehen, ist nationale Identität keine dominante (oder dominierende) kollektive Ideologie mehr, die auf mythologischen Vergangenheiten aufbaut, sondern eine selbstbewusste Wahl, die Individuen aufgrund ihrer Präferenzen für gewisse Erinnerungen treffen.” Diese Analyse von Daniel Levi und Natan Sznaider begründet ebenso wie die Ergebnisse der empirischen Studie von Viola Georgi über die Geschichtsbilder junger Migranten in Deutschland das didaktische Konzept dieser Ausstellung, deren Inhalt ich gemeinsam mit Wouter van der Sluis erarbeitet habe.

2. Die politische und institutionelle Rahmung der Entwicklung der “neuen” Anne Frank- Ausstellung

“Anne Frank – Ein Mädchen aus Deutschland” soll in drei Varianten eines Ausstellungskonzeptes entstehen. Nach Frankfurt am Main soll es auch in Berlin eine Dauerausstellung geben, dazu kommt eine Wanderausstellung. Das Projekt wird von drei Institutionen als binationales Projekt entwickelt.

Das “Anne Frank Haus” in Amsterdam verbindet den “authentischen Ort” des Untertauchens mit einem Netz von pädagogischen Angeboten, die neben der Erinnerung an den Holocaust vor allem die Erziehung zur Anerkennung des Anderen und zu demokratischen Haltungen zum Ziel haben.

In Deutschland gibt es zwei pädagogische Einrichtungen, die sich dem Vermächtnis Anne Franks in ähnlicher Weise widmen: Das Anne Frank Zentrum in Berlin und die Jugendbegegnungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main. Sie werden Standorte der beiden Dauerausstellungen sein.

Die Durchführung des Projektes wurde durch eine Förderung im Rahmen des Aktionsprogramms Entimon “Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus” beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ermöglicht. Diese Einbindung in den Zusammenhang politisch gewünschter Aktionen gegen den Rechtsextremismus legt eine eindeutig auf Jugendbildung orientierte Konzeption der Ausstellung nahe. Diese politische Vorgabe korrespondiert mit den Profilen der beteiligten Institutionen, die ich kurz vorstellen möchte.

2.1. Das Anne Frank Haus Amsterdam

Neben dem “authentischen Ort”, dem Haus an der Prinzengracht, ist ein Zentrum für pädagogische Konzepte und für die Produktion pädagogischer Materialien im Bereich interkultureller Erziehung und Menschenrechtsbildung entstanden. Das Anne Frank Haus nimmt die von Otto Frank als Auftrag angenommene Botschaft des Tagebuches der Anne Frank auf, für Menschenrechte und Demokratie zu kämpfen. Dabei ist bezeichnend, dass die Ebenen des Gedenkens und der pädagogischen Angebote für die Gegenwart hier nicht scharf getrennt werden. Eine Ausnahme ist das Hinterhaus selbst. Die vor wenigen Jahren denkmalgerecht durchgeführte Sanierung des Hauses und die danach eröffnete Ausstellung darin lassen den Spuren der Untertaucher und der Helfer viel Raum, ohne diese immer gleich zu interpretieren. Die leeren Räume mit den gezielt sakral inszenierten Erinnerungsstücken kontrastieren mit der aggressiv gegenwartsbezogenen interaktiven Installation “Grenzfälle”, die direkt am Ausgang des historischen Gebäudes im Neubau der Anne Frank Stiftung zu finden ist. Hier sollen sich die Besucher durch das Drücken von grünen oder roten Knöpfen in Grenzfällen demokratischer Freiheiten entscheiden. Ein Beispiel: Soll man EMINEM verbieten, weil er rassistisch und schwulenfeindlich ist?

Die pädagogische Arbeit der Anne Frank Stiftung findet aber nicht zuletzt außerhalb des Hauses in den schwierigen Handlungsfeldern der postkolonialen Gesellschaft der Niederlande statt. Dies geschieht in einem Umfeld, in dem die Verunsicherung über die “reine Weste” der Niederländer in der Besatzungszeit so weit geht, dass die Nachricht, Otto Frank habe an die Wehrmacht Gewürze verkauft, eine Meldung in den Hauptfernsehnachrichten wert ist.

Der Pflege des Erbes, das mit dem Hinterhaus verbunden ist, dient neben der vorbildlichen CD-ROM (“Anne Frank Haus. Ein Haus mit einer Geschichte”) nicht zuletzt die international vertriebene Wanderausstellung “Anne Frank. Eine Geschichte für heute”. Sie existiert mit gleichbleibender Grafik und gleichem Quellenbestand in einer Vielzahl von Sprachen. Ihre Präsentation wird jeweils mit einem kulturellen, politischen und pädagogischen Rahmenprogramm verbunden.

2.2. Das Anne Frank Zentrum Berlin

In Deutschland betreut das Anne Frank Zentrum Berlin als Partnerorganisation des Anne Frank Hauses Amsterdam die Wanderausstellung “Anne Frank. Eine Geschichte für heute”. Es hat aus der Vorbereitung der “Ausstellungsbegleitung” durch Jugendliche und dem Rahmenprogramm, sowie der Finanzierung der jeweiligen Ausstellungsstandorte ein kulturpädagogisches Gesamtkonzept gemacht. Die MitarbeiterInnen beraten interessierte Institutionen oder Initiativen bei der Planung und Durchführung der Ausstellungspräsentation, beim Begleitprogramm und bei der Sponsorensuche. Vor allem führen sie Seminare für die “BegleiterInnen” durch und haben dabei das peer-education Konzept des Anne Frank Hauses weiter entwickelt.

Im Arbeitsbereich “Interkulturelle Entwicklung und Qualifizierung” werden die interkulturellen Angebote des Anne Frank Hauses für die deutschen Nutzer zugänglich gemacht.

Das Zentrum hat seinen Standort in Berlin im gleichen Hinterhof mit dem Museum “Blindenwerkstatt Otto Weidt”. Dort treffen also in pädagogisch produktiver Weise verschiedene Geschichten vom Helfen zusammen.

2.3. Die Jugendbegegnungsstätte Anne Frank

Als Ort der Installation des Pilotprojektes für das Gesamtprojekt “Anne Frank. Ein Mädchen aus Deutschland” wurde die Jugendbegegnungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main ausgewählt. Hier sollen Erfahrungen mit der didaktischen und mit der technischen Umsetzung der Ausstellungskonzeption gemacht werden, die dann für die Wanderausstellung und die zweite Dauerausstellung in Berlin genutzt werden können. Daher soll diese Einrichtung ausführlicher vorgestellt werden.

í  Bild: Jugendbegegnungsstätte Anne Frank

Die Jugendbegegnungsstätte Anne Frank besteht seit Anfang 1997 in Räumen, in denen in den 1920er Jahren die Jugendherberge Frankfurts untergebracht war. Damit befindet sich die Institution zwar in einem historischen Gebäude, das für die Regionalgeschichte nicht gänzlich unbedeutend ist, das aber keinen direkten Bezug zu Anne Frank herstellen lässt – es handelt sich nicht um einen “authentischen Ort”. Auch die räumliche Nähe zum Geburtshaus Anne Franks erbringt nicht die Funktion der “Authentizität”.

Von der Erwartung, eine Gedenkstätte zu gestalten will sich die Jugendbegegnungsstätte Anne Frank seit ihrer Gründung deutlich abgrenzen. Sie ist eine pädagogische und auf die Fragen der Gegenwart bezogene Einrichtung. Sie setzt deutlich auf eine Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Perspektiven auf die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust und nimmt damit explizit Konflikt und Dissens in Kauf. Sie will damit sowohl dem Generationenproblem in der Beschäftigung mit diesem Teil der Geschichte als auch den Herausforderungen einer Einwanderungsgesellschaft Rechnung tragen, in der ein eindeutiger Bezugsrahmen auf die NS-Geschichte nicht (mehr) vorausgesetzt werden kann. Das pädagogische Konzept wird als thematisches Dreieck beschrieben. Die drei Seiten dieses Dreiecks bestehen aus Historischem Lernen, Begegnung und Menschenrechtsarbeit und sind konzeptuell gleich gewichtet. Auch der Informationsrundbrief, den die Jugendbegegnungsstätte Anne Frank zweimal im Jahr veröffentlicht, folgt dieser Struktur.

2.3.1. Projekte des Historischen Lernens

Dazu zählt in erster Linie die Ausstellung über Anne Frank, die jetzt neu eröffnet wurde. Außerdem werden monatlich moderierte Zeitzeugengespräche zur NS-Zeit angeboten. Zum Thema historisches Lernen zählt auch, Vorbereitungs- und Beratungstreffen für Gruppen anzubieten, die unabhängig von der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank Fahrten zu Gedenkstätten planen. Hintergrund der historisch orientierten Arbeit ist die Überzeugung, dass Gedenken nur möglich ist, wenn vorher Wissen über die Geschichte erworben worden ist und dass dieses erworbene Wissen Bedeutung für das eigene, heutige Leben hat. Historisches Lernen bedeutet somit eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der eigenen Gesellschaft, um die Gegenwart besser verstehen zu können.

2.3.2. Projekte der Begegnung

Mit diesen Projekten wird das Ziel verfolgt, Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund zu verschiedenen Themen zu versammeln. Das umfasst sowohl die Begegnung zwischen Angehörigen unterschiedlicher Nationen, Religionen und Ethnien als auch die Begegnung zwischen den Generationen. Die Verschiedenheit derer, die sich hier treffen, soll Ansporn zu Solidarität sein, die über ein bloßes Hinnehmen des Andersseins der Anderen hinausgeht: Unterschiede sollen nicht lediglich ertragen sondern auch zu schätzen gelernt werden. Exemplarisch sei hier die Veranstaltungsreihe “Interessante Erwachsene / Zeitzeugen Migration” genannt, in deren Rahmen ältere Migranten mit Jugendlichen ins Gespräch kommen.

2.3.3. Projekte zur Menschenrechtsarbeit

In diesem Arbeitsbereich ist das Ziel, Grundhaltungen und Kompetenzen zu vermitteln, die es ermöglichen sollen, sich – konkret und persönlich – für eine gerechte Gesellschaft einzusetzen. Die von der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank veranstalteten Mediationsseminare für Lehrerinnen und Mitarbeiter in der Jugendarbeit gehören zum Bereich “Konfliktmanagement”, für Jugendliche werden Streit-Schlichter-Gruppen angeboten, in denen Strategien trainiert werden können, die zur friedlichen Lösung von Konflikten befähigen sollen. Ein wichtiges Projekt befasst sich hier mit Fragen des Rechtsextremismus und des neuen Antisemitismus.

Natürlich ist die Trennung der Projektbereiche eine analytische, die für die Praxis lediglich Tendenzen für die bearbeiteten Schwerpunkte aufzeigt. Alle drei Bereiche der pädagogischen Arbeit haben immer wieder Berührungspunkte. Zeitzeugengespräche über die Erinnerung an Holocaust und Nationalsozialismus etwa sind Begegnungen, durch die historisches Lernen ermöglicht wird. In der von Bernd Fechler in einem Aufsatz beschriebenen Bearbeitung eines Gruppenkonflikts, der durch einen Besuch der Anne-Frank-Ausstellung ausgelöst wurde, bündeln sich die pädagogischen Schwerpunkte der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank in exemplarischer Weise: Mit Hilfe von Mediationsgesprächen mit der Schulklasse wird in diesem beschriebenen Fall ein Konflikt zwischen unterschiedlichen Ethnien in einer Schulklasse bearbeitbar gemacht, der während des Ausstellungsbesuchs eskaliert war. Die kontroverse Bezugnahme auf die deutsche Geschichte wird zum Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit aktuellen Konflikten in einer Besuchergruppe.

2.4. Erfahrungen mit den bisherigen Anne Frank- Ausstellungen im deutschen Sprachraum

“Das Schicksal der Anne Frank ist Ausgangspunkt, nicht einziger Inhalt unserer Arbeit”, heißt es im Informationsrundbrief der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank vom Mai 1999. Wie aber wird der Bogen von der historisch-pädagogischen Arbeit mit der Ausstellung zu den anderen Projekten geschlagen? “Das Schicksal Anne Franks verweist auf Themen wie Migration, Flucht und Vertreibung. Eng damit verknüpft sind die Themen Rassismus, Antisemitismus sowie andere Formen von Vorurteilsbildung und Diskriminierung, die das Zusammenleben unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen erschweren und bedrohen”, heißt es im Informationsrundbrief weiter. Durch die rein historische Ausrichtung der damaligen Ausstellung “Anne aus Frankfurt” konnte der Bogen zu den zwei weiteren pädagogischen Pfeilern der Einrichtung lediglich diskursiv hergestellt werden. In dieser Ausstellung materialisierten sich keine Gegenwartsbezüge, sie stellten sich aber während der Ausstellungsbesuche durchaus her und wurden durch die pädagogische Gesamtausrichtung der Jugendbegegnungsstätte auch aufgegriffen. Die oben erwähnte Bearbeitung eines während des Besuchs der Ausstellung ausgelösten Konflikts deutete eine Verbindungslinie zwischen der Ausstellung und den anderen pädagogischen Projekten bereits an. Allerdings war die Einbindung der Ausstellung in das Gesamtkonzept nicht immer so prägnant zu beschreiben wie im angedeuteten Fall.

Die neue Ausstellung soll wie alle anderen Projekte auch eine offene Auseinandersetzung befördern, in der kontroverse Meinungen zur Diskussion stehen.

Eine Beobachtung der Besucherzusammensetzung in der Wanderausstellung “Anne Frank. Eine Geschichte für heute” sowie der Ausstellung “Anne aus Frankfurt” ergab trotz der unterschiedlichen Kontexte der Nutzung eine deutliche Gemeinsamkeit: Die Schulklassen stellen bei weitem den größten Anteil der Besucher. Die meisten Besucher sind Jugendliche, wenige kommen in außerschulischen Gruppen, und Einzelbesucher sind eine Seltenheit. Die bisherigen Ausstellungen waren (und sind) also Orte, an denen schulisches Lernen außerhalb der Schule stattfindet.

í  Bild: Blick in die Ausstellung

3. Die didaktische Konzeption der Ausstellung

Die Wanderausstellungen des Anne Frank Hauses waren und sind bislang für eine internationale Nutzung konzipiert. Sie erzählen die Geschichte des Nationalsozialismus, der Untertaucher und des Holocaust für ein globales Publikum. Eine der ersten Festlegungen unter den Projektpartnern war, dass es für die pädagogische Arbeit mit dem Thema Holocaust in Deutschland erforderlich ist, die Besonderheiten der deutschen Gesellschaft der Gegenwart mit ihrem spezifischen Bezug auf die Geschichte des Nationalsozialismus konzeptionell zu berücksichtigen. Das Prinzip des Perspektivenwechsels, das Angebot unterschiedliche Wahrnehmungen historischer Ereignisse kennen zu lernen, ist grundlegend.

Die zweite Festlegung betrifft die Zielgruppe. Die Ausstellung “Anne Frank. Ein Mädchen aus Deutschland” richtet sich an Schulklassen. Sie ist ein Arbeitsinstrument für die jugendlichen “Begleiter”. Die Ausstellung soll also dem pädagogischen Konzept der peer-education zuarbeiten. Damit stand bereits vor der Konkretisierung der übliche Prozess einer Ausstellungsentwicklung auf dem Kopf: die Pädagogen werden in Gedenkstätten und Museen nur äußerst selten um ihre konzeptionellen Beiträge gebeten, bevor eine Ausstellung eröffnet wird.

Die dritte Festlegung ist ebenfalls aus der Nutzung der bisherigen Ausstellungen abgeleitet. Im Mittelpunkt der Ausstellung steht der Text des Tagebuches. Es ist keine Ausstellung über den Holocaust, auch nicht über den Nationalsozialismus oder die Juden in der Zeit der Verfolgung. Diese Ausstellung bemüht sich darum, möglich eng am Text ihrer zentralen Quelle zu bleiben. Dies ist keine Entscheidung aus der historischen Studierstube, sondern sie folgt den Interessen der Nutzer. Die Schulklassen kommen aus verschiedenen Gründen in die Anne Frank- Ausstellungen: Der schlechteste Grund ist, dass eine Lehrkraft den Unterricht über den Holocaust durch den Ausstellungsbesuch ersetzen will. Der beste Grund für den Besuch einer Ausstellung über Anne Frank ist die Lektüre des Tagebuches. Alle anderen möglichen Gründe für den Besuch liegen irgendwo dazwischen.

Schließlich geht die Ausstellung nicht von der Biographie oder der chronologischen Geschichtserzählung aus, sondern vom Text des Tagebuches. Sie ist als erweiterter Kommentar zum Tagebuch zu verstehen. aus der Lektüre haben Wouter van der Sluis und ich drei einfache Fragen abgeleitet, die Anne Frank sich stellt: “Wer bin ich?” “Was geschieht mit mir?” und “Was ist mir wichtig?” Diese drei Fragen sind es, die Anne Frank in ihrem Tagebuch beschäftigten. Es ist kein Zufall, dass es drei Fragen sind, die den Kernbestand der Suche nach Identität und Sinn für alle Heranwachsenden umspannen. Sie lassen sich auch abstrakt als die Themen Identität, Geschichte und Zukunft identifizieren.

3.1. Die räumliche Struktur der Ausstellung. Ein Rundgang

3.1.1. Das Tagebuch im Zentrum

Der Ausstellungsraum ist durch vier große Wände geprägt, die jeweils einem Thema gewidmet sind. Diese Themen antworten immer auf eine der drei Leitfragen. Zu der Frage “Was ist mir wichtig?” gibt es einen besonderen Raum.

Das Tagebuch steht im Zentrum der Ausstellung. Das ist nicht nur metaphorisch oder konzeptionell zu verstehen. Der Text ist faktisch das Steuermedium der Ausstellung. In der Mitte des Raumes steht ein Pult, auf dem in einer Vitrine ein Faksimile des Tagebuches gezeigt wird. Dieses Faksimile ist Symbol des Reliktes, um das sich die Ikone “Anne Frank” entwickelt hat: Das karierte Poesiealbum, mit den eingeklebten Fotos und der Kinderschrift in niederländischer Sprache. Ebenso auffällig ist aber ein Bildschirm, auf dem eine Reprofotografie des gleichen Büchleins oder einzelner Seiten daraus zu sehen ist. Dieser Bildschirm erschließt die Ausstellung. Berührt man seine Oberfläche, so erscheint ein Auszug aus dem Tagebuch in deutscher Sprache. Man kann nun die Seiten virtuell umblättern und so verschiedene Textauszüge lesen, die nach den Themen der Ausstellung zusammengestellt sind. Berührt ein Besucher eine farbig unterlegte Textstelle auf dem Bildschirm, so löst er in der Ausstellung eine Vorführung aus.

í  Bild: Der Tisch mit dem Tagebuch im Zentrum

3.1.2. Vorführungen

Diese Vorführung hat die Aufgabe, die Besucher mit einem der Themen der Ausstellung vertraut zu machen. Von dem Tagebuch-Bildschirm aus sind durch das Berühren des Textes etwa 20 solche Vorführungen aktivierbar.

Eine Vorführung ist ein auf eine große Fläche projizierter Film, der mit Licht- und Toneffekten auf Elemente der Ausstellungswände hinweist. Die Vorführungen gehen immer von einer Textstelle im Tagebuch aus, die von einer Sprecherin gelesen wird, sie führen dann durch die Geschichte der Familie Frank oder die Weltsicht Annes hindurch zu einer historischen Information und enden mit kurzen Meinungsäußerungen von Jugendlichen von heute. Diese Meinungsäußerungen beziehen sich jeweils auf die Themenstellung des Zitats aus dem Tagebuch bzw. der Ausstellungswand.

í  Bild: Ausstellungswand mit laufender Vorführung

3.1.3. Die Wände

Jede Ausstellungswand hat eine wiederkehrende Gestaltung. Die Wände haben zwei Funktionen. Bis auf etwa zwei Meter Höhe sind interaktive Angebote untergebracht, also PC-Arbeitsstationen oder “Hands-on” Installationen. Oberhalb von zwei Metern gibt es Großbilder und jeweils eine Projektionsfläche. Die Konstruktion dieser hohen Wände aus sichtbaren Eisenträgern soll zugleich die Konstruiertheit von Geschichte visualisieren. Vor diese Wände ist jeweils ein begehbares Bühnenbild gestellt, das die private Sphäre der Untertaucher symbolisiert. Es trägt zugleich die Informationen über die Familie Frank und das Schicksal der acht Untergetauchten.

Für die Präsentation in Frankfurt wurden auf der Rückseite der Wand zum Thema Identität regionalgeschichtliche Informationen zur Geschichte der Familie Frank in Frankfurt am Main hinzugefügt.

í  Bild: Die Ausstellungswand zum Thema “Krieg” oder “Wer bin ich?”

3.1.4. Die drei Fragen

3.1.4.1. Wer bin ich?

In dieser Abteilung, die eine der vier Wände des Hauptraumes füllt, beschäftigt sich die Ausstellung mit Fragen der Herkunft, der Heimat, der Zugehörigkeit.

Am Beispiel der Zugehörigkeit zur deutschen Nation wird die problematische Spannung zwischen den möglichen Entwürfen von nationaler Gemeinschaft – entweder als freier Gemeinschaft gleicher Bürger oder als völkischer Gemeinschaft gleicher Abstammung – gezeigt. Das Beispiel der deutsch-jüdischen Familie Frank macht diese Spannung als persönliches Schicksal erkennbar. Einer unbedachten Identifikation mit einer “nationalen Identität” soll die Schwierigkeit entgegengestellt werden, sich zugehörig zu fühlen.

Das Beispiel der Geschichte der jüdischen Minderheit in Deutschland macht deutlich, wie wenig für den einzelnen Menschen durch die Zugehörigkeit zu einer religiösen Minderheit zunächst festgelegt sein muss. Zugleich wird deutlich, wie stark sich die Zugehörigkeit zu einer Minderheit auf die persönliche Entwicklung auswirkt. Die Trennung zwischen der Wahrnehmung der minoritären Gruppe aus ihrer eigenen Sicht und derjenigen aus der Sicht der Mehrheit ist ein weiteres Lernfeld, das hier eröffnet wird.

Das Schicksal, Mitglied einer verfolgten Minderheit zu sein, gehört zu den bestimmenden Anteilen der Persönlichkeit von Anne Frank. Für die politische Bildung in unserer Gesellschaft, die heute von Einwanderung mit all den Mühen der Integration und der Toleranz geprägt ist, bietet diese Geschichte Material für die Arbeit an Problemen, die im eigenen Alltag bestehen, aber oft nicht formuliert werden. Das historische Schicksal, das weit entfernt und zugleich als persönliche Geschichte konkret und fassbar ist, lässt es zu, über die Erfahrungen mit Migration zu sprechen, die sonst oft verdeckt bleiben.

Diese Erfahrungen machen nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Einheimische. So war es auch in den Niederlanden der 1940er Jahre. Probleme mit den Fremden, mit der Sprache, mit den kulturellen Unterschieden verhandelt Anne Frank in ihrem Buch. Die Ausstellung versucht von diesen Berichten und Überlegungen ausgehend, Themen der Gegenwart zu eröffnen. Dabei geht es an dieser Stelle darum, das individuelle Ringen um einen eigenen Ort in der Gesellschaft zu zeigen.

í  Bild: Die Inszenierung der individuelle Sphäre der Familie Frank zum Thema “Wer bin ich”

3.1.4.2. Was geschieht mit mir?

Diese Frage wird in drei Ausstellungsabteilungen bzw. Wänden des Hauptraumes behandelt. Die Überlegungen zu den Ereignissen des Krieges und zu den Informationen über die Verfolgung der Juden haben einen großen Stellenwert in Anne Franks Aufzeichnungen. Daher sind dies die zentralen Themen für eine Ausstellung, die eine Unterstützung der Lektüre des Buches zum Ziel hat.

Es gibt aber auch weitergehende didaktische Überlegungen, die diese Schwerpunktsetzung begründen. sie sollen an den einzelnen Themen erläutert werden.

3.1.4.2.1. Thema “Krieg”

Mit den beiden Themen Krieg und Genozid sind Zugänge zu ethischen Grundfragen verbunden. Die Gedenkstättenpädagogik und die pädagogischen Konzepte zum Thema Holocaust haben bislang in aller Regel die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges kaum thematisiert. Auch die “Wehrmachtsausstellung” ist nicht durch ihr Konzept, sondern allein durch die politische Rezeption zu einer pädagogischen Veranstaltung geworden. Für “Anne Frank. Ein Mädchen aus Deutschland” haben wir uns entschieden, den Bombenkrieg als eines der wichtigen Themen zu präsentieren. Diese Entscheidung fiel bereits vor der breiten Diskussion über die Erinnerung an den Bombenkrieg, die 2003 durch Jörg Friedrichs “Der Brand” angestoßen wurde. Es gab mehrere Motive dafür: Zunächst bringt die gründliche Lektüre des Tagebuches zu Tage, wie wichtig der jugendlichen Beobachterin Anne Frank in ihrem Versteck das Geschehen des Krieges war. Sie notiert Informationen über den Verlauf der Schlachten und über die beginnende Invasion in der Normandie. Aber sie reflektiert auch über die Ängste der Zivilbevölkerung unter den Bombardements. Die Untergetauchten selbst erleben Luftangriffe auf Amsterdam, ohne die Chance zu haben, in einem Bunker Zuflucht zu finden.

Das zweite Motiv geht auf die naheliegende Beobachtung zurück, dass junge Männer mit dem Tagebuch der Anne Frank häufig wenig anfangen können. Es ist ein Mädchentagebuch und behandelt in weiten Teilen Pubertätsprobleme von Mädchen. Die Jungen in den Besuchergruppen brauchen also einen starken Impuls, um zu einer Erkundung der Ausstellung motiviert zu werden. Ob es uns gefällt oder nicht, bringt der Krieg eine Reihe von Themen mit sich, die hier anschlussfähig sind: Technikgeschichte, die Erfahrung von Grenzsituationen, Strategie, aber vor allem die heute hoch aktuelle Frage nach der Legitimität des Krieges. Das ist denn auch unser drittes Motiv für diese Schwerpunktsetzung.

Die Frage nach der Möglichkeit eines legitimen Krieges ist der didaktische Horizont dieser Ausstellungsabteilung. Anne Frank formuliert zwei völlig entgegengesetzte moralische Positionen zum Krieg. Sie ist einmal radikal pazifistisch. Fast gleichzeitig erwartet sie voll Hoffnung die militärische Befreiung durch die Alliierten. Dieser Gegensatz ist das Thema der Ausstellungswand. Er steht auch hinter der Frage, die mit den Meinungsäußerungen von heutigen Jugendlichen in der entsprechenden Vorführung angesprochen wird: Kann es einen gerechten Krieg geben?

Die Ausstellung bietet in der inszenierten Privatwelt der Untertaucher die Informationsmedien als Reproduktionen an, die Anne Frank verwendet hat. Zu einer Textstelle aus dem Tagebuch finden sich also exakt die entsprechenden Zeitungen und Radiosendungen. Auf der Ebene der allgemeinen Geschichte werden darüber hinaus Informationen und Quellen zu den unterschiedlichen Perspektiven auf die Geschichte des Krieges angeboten. Bombardements werden in historischen Fotografien und Quellentexten aus der Sicht der Politiker, der Bomberpiloten und der Zivilisten vorgestellt. Diese drei Perspektiven werden jeweils aus alliierter und deutscher Sicht gezeigt. Materialien zur Kriegspropaganda beider Seiten kommen hinzu. Die vom zentralen Tagebuch-Interface ausgelösten Vorführungen bieten Einführungen in die Geschichte des Bombenkrieges, Informationen zum deutschen Angriffskrieg und nicht zuletzt die Meinungen der Jugendlichen aus Frankfurt am Main heute, die während des Irak- Krieges im Frühjahr 2003 sehr differenzierte Ansichten zu der Frage vortragen, ob es Gründe geben kann, einen Krieg zu beginnen.

í  Bild: Installation zur Visualisierung der unterschiedlichen Perspektiven auf den Bombenkrieg

3.1.4.2.2. Thema “Holocaust”

Der Zugang zum Thema Holocaust über die Aufzeichnungen der Verfolgten bringt hier eine sehr persönliche Ebene mit sich. Mit großem Mitgefühl beschreibt Anne Frank, wie immer mehr jüdische Menschen aus ihrer Umgebung verschleppt werden und wie die eigene Angst wächst.

Diese private und zugleich sehr weitsichtige Perspektive löst Mitgefühl aus. Dies allein kann aber nicht didaktisches Ziel der Ausstellung sein. Daher ist die Frage nach dem Verhalten der “ganz normalen Deutschen” das inhaltliche Zentrum dieser Abteilung. Die Besucher sollen hier in tradierten stereotypen Ansichten über die NS-Zeit verunsichert werden, indem alltägliche Situationen des Profitierens, des Wegsehens, aber auch der Hilfe vorgestellt werden. Die Unsicherheit der Tagebuchschreiberin darüber, wie es eigentlich möglich ist, dass ein Volk, das doch eine lange Geschichte der Gemeinsamkeit von Minderheit und Mehrheit hat, einen Völkermord begeht, ist der didaktische Ausgangspunkt dazu. Als Kommentar zu der Textstelle “Ein schönes Volk, die Deutschen, und da gehöre ich eigentlich auch noch dazu!” (Anne Frank, 9. Oktober 1942) wurde eine Reihe von Fragen entwickelt, die sich mit der Mehrheit der Deutschen und ihrem Verhältnis zur Verfolgung der Juden befassen. Zu jeder dieser Fragen gehört ein historisches Bild, ein kurzer Hörtext und ein Leseordner mit einem breiteren Quellenangebot.

Die historischen Hintergründe des Massenmordes sind auch über ein zweites Angebot erschließbar. In einer Arbeitsstation steht eine virtuelle Zeitleiste über die Geschichte des Holocaust mit dem Schwerpunkt Niederlande zur Verfügung. Diese Datenbank stammt aus der CD-ROM des Anne Frank Hauses, sie konnte leider nicht vollständig für die Bedürfnisse im Zusammenhang der Ausstellung angepasst werden.

Besonders in einigen Vorführungen stehen Erzählungen, die das Schicksal der Juden insgesamt und der Untergetauchten im Besonderen behandeln, im Mittelpunkt. Die Vorführungen mit ihrer engen Verbindung zum Relikt “Tagebuch” und zum Interface sprechen vor allem die affektive Ebene an. Inhaltlich beschäftigen sie sich mit der Geschichte der Untertaucher nach der Verhaftung, mit der antisemitischen NS-Politik in den Niederlanden und mit der NS-Rassenpolitik insgesamt.

Die aktuellen Meinungsbeiträge von Jugendlichen beschäftigen sich im Bezug auf das Thema Genozid mit der Frage, wie wir selbst auf die Präsentation solcher Verbrechen in den Medien reagieren: Schauen wir hin oder sehen wir weg? Welche Konsequenzen kann das Wissen über einen Genozid irgendwo in der Welt für uns selbst haben?

í  Bild: Installation zum Wissen der Deutschen über das Mordgeschehen

3.1.4.2.3. Thema “Untertauchen”

Die Situation im Versteck spielt für viele Leserinnen und Leser des Tagebuches eine besondere Rolle. Sie wird daher in dieser Abteilung besonders anschaulich vorgestellt. Ein virtuelles Modell des Hinterhauses, das bereits auf der CD-ROM “Ein Haus mit einer Geschichte” verwendet wird, dient diesem Zweck.

Die Unsicherheit der Untergetauchten war auch durch die Ambivalenz der niederländischen Gesellschaft zum Besatzungsregime geprägt. In Gestalt von zwei anonymen Figuren aus Blech, die durch Berührung Informationen zu verschiedenen Personen frei geben, wird das repräsentiert. Die Personen sind, dem Zufall folgend: Ein Nachbar des Hinterhauses, der die Existenz der Untergetauchten ahnte; ein niederländischer Polizist, der die Untergetauchten verhaftete; ein niederländischer Widerstandskämpfer, der zum Tode verurteilt wurde und der deutsche SS-Kommandant der Niederlande. Bei der Konzeption dieser Installation haben wir uns an der Frage nach den Verhaltensoptionen des Einzelnen angesichts der wachsenden antisemitischen Aktionen der deutschen Besatzer orientiert. Sie soll Nachfragen über die Motive der Menschen in den Niederlanden zwischen 1940 und 1944 auslösen, sich für den Widerstand, die Kollaboration oder das Abtauchen zu entscheiden. Diese Überlegungen leiten zu der aktuell relevanten Frage, welches die Hintergründe von Entscheidungen in moralischen Konfliktsituationen jeweils sind. Aus der Sicht der niederländischen Projektpartner bedeutet die Thematisierung der Kollaboration und des Alltags unter der deutschen Besatzung hier eine Öffnung für neue Themen. Aus der deutschen Sicht ist es gerade deshalb wichtig, den SS-Kommandanten Rauter vorzustellen, um die Verantwortlichkeiten nicht zu verschleiern.

Die symbolische Inszenierung der Privatsphäre des Hinterhauses erfolgt hier durch die Installation eines Regals, das einen Durchgang verdeckt – wie es auch in der Prinzengracht zu finden ist. In diesem Regal stehen Aktenordner, die weiterführendes Material zu den Untertauchern, ihren Helfern, den Rollen-Personen und zu weiteren Themen der Ausstellung enthalten.

í  Bild: Die anonymen Figuren zur Inszenierung der verschiedenen Haltungen gegenüber dem Mordgeschehen

3.1.4.3. Was ist mir wichtig?

Das Regal und der Durchgang in der Inszenierung zum Thema “Untertauchen” leiten in einen abgedunkelten Raum. Darin können Hörbilder zu drei Themen aktiviert werden, die Anne Frank besonders bewegten: Gewissen, Liebe und Schreiben.

Der Raum soll nicht zuletzt Anne Frank als Schriftstellerin zeigen. Einige der Dialoge aus dem Tagebuch wurden vorsichtig so redigiert, dass sie als kleine Hörspiele funktionieren. Um das Hören zu unterstützen sind zu jedem der drei Themen Schattenrisse mit den an den Gesprächen Beteiligten Hinterhausbewohnern auf einer Projektionsfläche zu sehen. So entsteht ein Raum der Konzentration auf den Text und des Nachsinnens über die alltäglichen Dinge, die Anne Frank – wie viele 14-Jährige – umtrieben.

Dieser Raum soll eine Ausnahme von der starken visuellen Dynamik der Ausstellung bilden. Er eignet sich nicht zur Rezeption von Wissen, sondern nimmt die emotionale Hinwendung zu Anne Frank auf, die viele jugendliche Leserinnen mitbringen.

í  Bild: Das Regal und der Durchgang zum Hörraum

3.1.5. Besucherbuch und Besprechungsraum

Ein eigener Raum ist den Reaktionen der Besucher gewidmet. Einerseits gibt es ein Kommunikationsangebot durch große metallene Pinwände und variable Sitzmöglichkeiten, andererseits steht ein elektronisches Besucherbuch bereit. Das Besucherbuch ist so konzipiert, dass Einträge (nach einer Auswahl durch die Pädagogen) auf einem Schriftband im Eingangsbereich der Ausstellung erscheinen. Das soll vor allem die Wertschätzung für die Gedanken der Nutzer betonen.

3.2. Problem Gegenwart

Die Konzeption des Gegenwartsbezuges ist in dieser Ausstellung ebenso innovativ, wie die technische Lösung des Verhältnisses von Text und Exponaten. Die Entwicklung der Haltung zum Verhältnis von Geschichte und Gegenwart war in der Planungsphase das Thema, das die meisten Kontroversen mit sich brachte. Das niederländische Verständnis einer pädagogischen Vermittlung der Geschichte des Holocaust lässt eine bei weitem unbefangenere Universalisierung der Geschichtserzählung zu. Die Debatten folgten oft den von Daniel Levi und Nathan Sznaider in ihren Analysen über die Entwicklung des Anne Frank- Mythos beschriebenen Linien. Dabei ist das Interessanteste an diesem Einigungsprozesses in unserem Projekt die Rollenverteilung. Die niederländische Seite votierte sehr vehement und mit der Macht der Institution für die Universalisierung, also für eine zukunftsbezogene Erzählung der Geschichte. Die deutsche Seite stellte neben die didaktischen Anforderungen an die Menschenrechtserziehung eine Arbeit an Geschichtsbildern und nicht zuletzt die Trauerarbeit, die mit der Auseinandersetzung mit dem Holocaust immer verbunden sein sollte.

Der erste Vorschlag war, generell die Texte von Anne Frank mit aktuellem Fernsehbildmaterial zu konfrontieren. Dadurch sollte die Grundlage für eine Diskussion in der Gruppe der Ausstellungsbesucher geschaffen werden. Diese Option wurde schließlich prinzipiell aufgegeben. Statt dessen wurden zu jedem der vier zentralen Themen (Identität, Holocaust, Krieg, Untertauchen) eine Reihe von kurzen Stellungnahmen von jungen Menschen aus Frankfurt am Main aufgezeichnet und zu einem Kurzfilm zusammengeschnitten. Diese Stellungnahmen haben didaktisch mehrere Funktionen. Erstens: Sie sollen Gegenwärtigkeit in die Ausstellung bringen, indem sie – ähnlich wie die jugendlichen Begleiter – eine Nähe zwischen den Besuchern und dem Thema symbolisieren. Es sind junge Menschen, die sich mit der Geschichte des Holocaust auseinandersetzen. Zweitens: Sie sollen möglichst kontroverse Positionen in die Gruppe der Besucher bringen, um eine Diskussion anzuregen. Drittens: Sie sollen die Frage nach Parallelen und Unterschieden zwischen heutigen Erfahrungen und der Geschichte Anne Franks auf die Tagesordnung bringen.

í  Bild: Jugendliche bei ihrer Stellungnahme

Diese Konzeption wurde in unserer Ausstellung nicht in allen Punkten konsequent umgesetzt. Die Kollegen vom Anne Frank Haus halten eine Präsentation von aktuellem Nachrichtenmaterial z.B. zum Irak-Krieg für geeigneter, eine Diskussion anzuregen. Hier gab es keine Einigung, aber es gibt inzwischen Erfahrungen. Die Kontroversen darüber, ob diese Filmausschnitte in dieser Ausstellung angemessen sind, findet bei vielen Besuchen statt. Es entstehen also – teilweise hitzige – Diskussionen. Nicht zuletzt auch die BegleiterInnen debattieren über diese Frage in ihrem Gesprächskreis. Wir werden weiter zu beobachten haben, ob diese Diskussionen pädagogisch sinnvoll sind.

í  Bild: Vorführung mit Bilder aus dem Irak-Krieg

4. Konzeption der pädagogischen Arbeit mit der Ausstellung

4.1 Begleitungskonzept und Ausstellungsdidaktik

Wie in der Wanderausstellung “Anne Frank. Eine Geschichte für heute” werden Jugendliche von Jugendlichen durch die Ausstellung begleitet. Im Gegensatz zur Wanderausstellung arbeitet die Gruppe der Begleiterinnen aber über einen deutlich längeren Zeitraum mit der Ausstellung. Der pädagogisch wesentliche Vorteil dieses Begleitungskonzeptes liegt in der altersmäßigen Nähe der Begleiterinnen zu den Besuchern. Dadurch kann Distanz zum Thema der Ausstellung abgebaut werden: Die Geschichte verliert etwas von ihrer historischen und damit auch lebensgeschichtlichen Ferne. Moralische Forderungen, die – tatsächlich oder vermeintlich – von Erwachsenen mit dem Thema verknüpft werden, sind dadurch weniger mächtig. Auch für die Rückmeldung aus den Ausstellungsbesuchen stellen die jugendlichen Begleiterinnen ein wertvolles Verbindungsglied zur Konzeptionsebene des Gesamtprojektes dar: Da die Begleiterinnen selbst Amateurinnen sind, ist die Vermittlung von historischen und aktuellen Fragen eher den Interessen, Fähigkeiten und dem Wissen der Besucher angepasst und bietet somit Aufschluss zum Verstehens- und Wahrnehmungshorizont der Zielgruppe.

Die didaktische Mechanik von “Anne Frank. Ein Mädchen aus Deutschland” soll diesem pädagogischen Konzept zuarbeiten. Da die jugendlichen Begleiter oft keine Fachleute sind (und sein sollen), brauchen sie ein zuverlässiges “Geländer”, um bei ihrer Arbeit nicht ins Dozieren zu kommen oder unsicher zu werden. Dieses “Geländer” bietet die Ausstellung durch die insgesamt geplante Choreografie des Besuches. Der Ablauf ist durch die Anlage des Raumes und das Verhältnis zwischen Interface, Vorführungen und Explorationsangeboten weitgehend vorgegeben. Dabei können die Begleiter aber zwischen verschiedenen Schwerpunkten wählen. In jedem Fall ist die Phase des Besuches, in der die Gruppe arbeitsteilig forscht, der Kern des Besuches. In dieser Phase ist die Begleitung auf die Rolle der Beratung festgelegt.

í  Bild: Gruppe in der Ausstellung

4.2. Die Gruppe der Begleiterinnen

Die Gruppe der Begleiterinnen kommt in regelmäßigen Abständen zu Arbeitstreffen zusammen. Gemeinsam mit einer betreuenden Mitarbeiterin der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank werden nicht nur die Erfahrungen der Begleitungen ausgetauscht, sondern auch inhaltliche Auseinandersetzungen geführt. Die Fortbildung der Begleiterinnen und das Training in pädagogischen Arbeitsformen gehören ebenfalls zu den Aufgaben der für die Ausstellung zuständigen Mitarbeiterin.

4.3. Vor- und Nachbereitung und Website

Zu der Frankfurter Ausstellung ist im Dezember 2003 eine eigene Website online gegangen: www.ein-maedchen-aus-deutschland.de. Diese im Internet interaktive Seite soll nicht nur eine Einführung in die Ausstellung bieten. Sie soll möglichst bald zu einem Arbeitsinstrument ausgebaut werden, das sich zur Planung der Vor- und Nachbereitung des Ausstellungsbesuches eignet. Dazu werden neben den in vereinfachter Form präsentierten Elementen der Ausstellung auch Arbeitsvorschläge und Vertiefungsmaterialien gehören, die bei den Begleitungen in der Ausstellung zum Einsatz kommen.

í  Bild: Screenschot von der Website www.ein-maedchen-aus-deutschland.de

Im Rahmen des Begleitungskonzeptes sollen auch Vorbereitungsstunden angeboten werden, bei denen die Begleiter bereits vor dem Ausstellungsbesuch in die Schule gehen, um Kontakt zu der Gruppe aufzunehmen und erste Eindrücke von den besonderen Lernformen zu vermitteln, mit denen die Besucher zu rechnen haben. Dazu gehört auch eine vorbereitende Klärung der Rolle der Lehrkraft im Verhältnis zu den Begleitern. Vor allem sollen die thematischen Schwerpunkte des Besuches mit der Gruppe gemeinsam definiert werden.

Ohne diese Vorklärung kann ein Teil des Ausstellungskonzeptes nicht zum tragen kommen, nämlich die Möglichkeit, Schwerpunkte zu setzen, also die Eindrücke der Lektüre des Tagebuches in Anfragen an eine vertiefende Beschäftigung mit der Welt der Anne Frank umzusetzen.

Die minimale Variante dieser Vorklärung wird ein auf der Website abrufbarer Anmeldebogen sein, der einige thematische und methodische Grundinformationen vermittelt und abfragt. Er wird die Grundlage einer Kontaktaufnahme der Begleiter bei der Lehrkraft sein. Erste Erfahrungen haben gezeigt, dass auch bei unserer Ausstellung die Gefahr groß ist, dass standardisierte Begleitungen ablaufen, die nicht auf die Besonderheiten der einzelnen Besuchergruppe eingehen und die vielfältigen thematischen und methodischen Möglichkeiten der Ausstellung ungenutzt lassen. Diese Form des Einschleifens von festgelegten Arbeitsformen soll so weit als möglich vermieden werden.

5. Erste Erfahrungen mit “Anne Frank. Ein Mädchen aus Deutschland”

In den ersten Monaten haben täglich 1 bis 2 Gruppen und eine große Zahl von Einzelbesuchern die Ausstellung genutzt. Die Erfahrungen dabei haben im Wesentlichen die konzeptionellen Entscheidungen bestätigt. Der Einstieg durch eine vom Text des Tagebuches ausgehende “Show”, die alle wesentlichen Themen anreißt, motiviert die Besucher für die anschließende Erkundung der Details. Erst die Unterbrechung dieser Tätigkeit mit dem Ziel einer Auswertung führt regelmäßig zu einem Einbruch der Motivation. Die schulische Form des Lernens ist anscheinend in der didaktischen Konstruktion der Ausstellung tatsächlich vermieden worden. Allerdings sind die Aneignungsformen der Besucher und die methodischen Werkzeuge, die Begleitern bei ihrer pädagogischen Arbeit zur Verfügung stehen, am Ende dann doch dem schulischen Unterricht oft sehr nahe.

Ich halte es für realistisch, wenn wir die Motivation der Besucher in unserer Ausstellung eher auf die “Mechanik” als auf den Inhalt zurückführen. In vielen Fällen gelingt es trotz der methodischen Probleme, diese Chance für die inhaltliche Arbeit zu nutzen. Wie diese Abläufe im Detail zu verstehen sind und was wir daraus lernen können, werden wir in der nächsten Zeit erforschen.

Wenn wir die Eintragungen im Besucherbuch ernst nehmen, müssen wir uns jedenfalls über die Wirkung auf die jugendlichen Besucher keine Sorgen machen. Besonders erfreulich sind natürlich diejenigen, die sich in ihrer Erwartung, in “Anne Frank. Ein Mädchen aus Deutschland” belehrt und mit dem Zeigefinger auf die richtige Haltung hingewiesen zu werden, enttäuscht sehen – und die deshalb versprechen, die Ausstellung weiterzuempfehlen.

6. Produktion

Die Konzeption und die Realisierung von “Anne Frank. Ein Mädchen aus Deutschland” war bislang ein konfliktreicher Arbeitsprozess, der hoffentlich auch bei den noch ausstehenden Produkten so erfolgreich verlaufen wird wie bei der Pilotversion der Ausstellung in Frankfurt am Main. Bisher haben mitgewirkt:

  • Anne Frank Stichting, Amsterdam
  • Anne Frank Zentrum, Berlin
  • Jugendbegegnungsstätte Anne Frank, Frankfurt am Main
  • Inhaltliche und didaktische Konzeption: Wouter van der Sluis, Gottfried Kößler
  • Ausstellungskonzeption und Gestaltung: Unit-E, Karlsruhe
  • Audiovisuelle Gestaltung: Gerrit Netten
  • Medientechnik: Vidco Communications
  • Ausstellungsproduktion und Aufbau: AMF – Theaterbauten
  • Wissenschaftliche Begleitung: Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main
  • Konzeption der Begleitung: Janina Hertel und Deborah Krieg.

Schlagworte: ,

Kommentare sind geschlossen