Philippe Sands: East West Street

6. August 2016 | Von | Kategorie: Rezensionen

Sands, Philippe: East West Street. On the Origins of Genocide and Crimes against Humanity, London (Weidenfeld & Nicholson) 2016, 464 Seiten

jetzt auch auf deutsch:

Rückkehr nach Lemberg. Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Frankfurt/M (Fischer) 2018, 592 Seiten

Philippe Sands ist ein englischer Rechtswissenschaftler und Strafverteidiger, der an verschiedenen internationalen Strafgerichtshöfen tätig ist. Sein leidenschaftliches Interesse gerade auch an der Geschichte des internationalen Strafrechts hat er des Öfteren bei Veranstaltungen im historischen Gerichtssaal des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg (IMT) bewiesen. Eine Summe seiner Forschungen hat er nun in seinem neuen Buch „East West Street“ vorgelegt. Das Buch sticht aus der Fülle der Literatur über das IMT und die Geschichte des Völkerstrafrechts auf originelle Weise heraus.

Sands erzählt darin mehrere ineinander verwobene Geschichten. Im Zentrum steht ein Ort: das alte Lemberg, einst kulturelles Zentrum der Region Galizien am östlichen Rand der österreichischen K.u.K.-Monarchie und zugleich der ostjüdischen Gelehrsamkeit. Vielfach seine politische Verortung zwischen Polen, der Ukraine, Nazi-Deutschland der Sowjetunion, und heute wieder der Ukraine wechselnd, wurde aus Lemberg Lwow und heute Lwiw. Dort geht Sands den Spuren zweier der einflussreichsten jüdischen Juristen des 20. Jahrhunderts nach: Hersch Lauterpacht, der schon in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts über Wien nach London auswanderte, sowie Raphael Lemkin, der an der damals polnischen Universität Lwowfünf Jahre Jura studierte und später in einer abenteuerlichen Flucht vor den Nazis über das Baltikum, Schweden, die UdSSR und Japan in die USA gelangte. Bei dieser aufwendigen Spurensuche entdeckte Sands eine weitere Geschichte, nämlich die seiner eigenen Familie, die ebenfalls Wurzeln in Lemberg hatte. Und schließlich verwebt der Autor noch die Figur des NS-Starjuristen und Gouverneurs des besetzen Ostpolens, Hans Frank, in seine Erzählung, der 1946 in Nürnberg hingerichtet wurde. Diese verschiedenen biografischen Stränge verfolgt der Autor nun nebeneinander und beleuchtet, teilweise in eigenen dazwischengeschalteten Kapiteln, ihre Bedeutung im Kontext der großen Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Lemkin und Lauterpacht stehen in der Entwicklung des menschenrechtlichen Völkerrechts an entgegengesetzten Polen. Beide suchen nach Antworten auf massive staatliche Gewalt, wie sie im Nationalsozialismus einen bisher nicht bekannten (und nicht vorstellbaren) Höhepunkt fand. Beide hatten ihre Lösungsvorschläge aber bereits im Kern vor dem Nationalsozialismus entwickelt. Sands bringt den Gegensatz der beiden Gelehrten auf die griffige Formel „individuelle Menschenrechte“ (Lauterpacht) vs. „Gruppenrechte“ (Lemkin). Ohne dass er daraus einen bedeutsamen Punkt macht, wird aus diesen so gegensätzlichen Konsequenzen aus den gleichen historischen und sogar biografischen Erfahrungen (sowohl Lemkin wie Lauterpacht verloren einen großen Teil ihrer Familie im Holocaust) deutlich, dass diese persönlichen Schicksale eben nicht zur Erklärung für die Entstehung der neuen völkerstraf- und menschenrechtlichen Normen taugen. Lemkin und Lauterpacht entstammten beide ostjüdischen Familien, holten sich beide ihr juristische Rüstzeug an verschiedenen Universitäten in Ost und West, teilten das Interesse an einer Bestrafung der NS-Täter nach neuen völkerrechtlichen Normen, die sie in Nürnberg angewandt sehen wollten, doch weder biografisch noch intellektuell fanden sie zusammen. Sands selbst beschreibt beider Weg detailreich (gestützt auch auf viele eigene Archivrecherchen) und einfühlsam, versucht beiden Positionen gerecht zu werden und lässt nur andeutungsweise durchblicken, dass ihm die menschenrechtliche Position Lauterpachts näher steht als Lemkins Beharren auf dem Schutz von Volksgruppen durch seinen Begriff des Genozids. Das macht seine Darstellung von beider Leben und Werk einprägsam und flüssig zu lesen. Angesichts des Untertitels des Buches mag es manche Leser aber auch enttäuschen, dass Sands diese für die Menschenrechtsgeschichte entscheidende Kontroverse nicht zu Ende austrägt.

Das aber ist offensichtlich nicht die Absicht des Autors. Er schreibt in der besten Tradition angelsächsischen Sachbuchstils zuallererst eine Erzählung. Die verschiedenen biografischen Fäden – Lauterpacht, Lemkin, Frank und schließlich die seiner eigenen Familie – entwickelt er zunächst getrennt voneinander. Ihre erzählerische Verknüpfung ergibt sich weniger aus fachhistorischer rechtspolitischer Perspektive, sondern über zwei Orte. In Lemberg/Lwow/Lwiw finden sich die Spuren aller Akteure, von Lauterpacht, Lemkin, Sands‘ Vorfahren und ihrem gemeinsamen Henker, Hans Frank. Und in Nürnberg finden sich zwar am Ende nicht alle wieder, aber alle ihre Wege führen doch dorthin. Lauterpacht und (vermutlich auch) Lemkin konnten den Herrn über Leben und Tod ihrer Familien dort auf der Anklagebank beobachten. Das zumindest hatten sie Hans Frank voraus, der davon wohl kaum Kenntnis hatte. Und Philippe Sands, der diese Geschichten erzählt, holt seine Begegnung mit dem Völkerstrafrecht zwei Generationen später in Den Haag und schließlich immer wieder auch in Nürnberg selbst nach. Das ist große Erzählkunst, von der man sich gerne mittragen lässt, auch wenn der streng rechtshistorische Ertrag keine Sensationen bietet. Und die Kapitel, die zunächst verstören mögen, weil sie für den roten Faden der Erzählung randständig erscheinen, erweisen sich für die Balance des Ganzen als glücklich. Es sind Bruchstücke von Sands‘ eigener Familienforschung, die Weg seiner Großeltern und Eltern von Galizien über Wien bis nach England betreffen. Dabei lässt Sands seine Leser unmittelbar an seinen Nachforschungen teilhaben, verschweigt auch Umwege und Sackgassen dieser Forschungen nicht und lässt Lücken offen, die nicht zu schließen waren. Wir können rekonstruieren, wie komplex und kontingent schon die Fluchtgeschichte einer einzigen Familie war, welche unbekannten Heldinnen und Antihelden in ihr auftauchen können, und warum manche Geschichten auch heute nicht erzählt werden wollen. Sands tut hier das Gegenteil von dem, was vor allem vielfach mit Lemkin gemacht worden ist: Aus einem Leben, das von Fehlschlägen ebenso wie Erfolgen, von Irrtümern wie von wichtigen Einsichten durchzogen war, eine teleologisch aufgeladene Heldengeschichte zu konstruieren. So fügen sich die familiengeschichtlichen Kapitel nicht nur als Komplement zur Haupterzählung, sondern auch als methodisches Korrektiv ein, das unausgesprochen die Forderung nach quellenkritischer Sicht auf tradierte Bilder der drei Protagonisten wach hält – eine Forderung, dem die unbändige Neugier des Autors auch auf die Details seiner Geschichten fast immer nachkommt. Spannend und flüssig geschrieben, liest sich „East West Street“ streckenweise wie ein Roman und ist doch sorgfältig recherchiert. Mir fiel es schwer, das Buch aus der Hand zu legen.

Rainer Huhle

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