Die Hölle vor Gericht

4. Februar 2014 | Von | Kategorie: Aktuelles, Strafgerichtsbarkeit

Die Hölle vor Gericht
Vor 50 Jahren begann der Auschwitz-Prozess

von Otto Böhm

Die wenigen schlimmen Nazis sind verurteilt, die vielen weniger schlimmen müssen wir integrieren und damit einen Schlussstrich ziehen: Diese populäre Maxime Adenauers wurde Ende der 50er Jahre brüchig. 1958 richteten die Innenminister die Ludwigsburger „Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen“ ein. Damit dann am 20. Dezember 1963 im Frankfurter Römer der erste große NS-Prozess beginnen konnte, bedurfte es jedoch der Zielstrebigkeit zweier Männer – und des Zufalls.

Breslau/Wroclaw: Im Januar 1959 erhält der Frankfurter Journalist Thomas Gnielka von Emil Wulkan, einem NS-Opfer, Unterlagen, die Wulkan aus einem von der SS in Brand gesteckten Haus gerettet hatte. Es sind Formulare mit Listen von KZ-Wachleuten, die ebenfalls namentlich aufgelistete Häftlinge „auf der Flucht erschossen“ hatten. Sie dienten der automatischen Einstellung von Strafverfahren wegen Tötung von Gefangenen. Gnielka übergibt diese so genannten Breslauer Dokumente dem Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer.
Stuttgart: Im März 1958 geht bei der Stuttgarter Staatsanwaltschaft ein Brief von Adolf Rögner ein. Der Mann sitzt wegen Betrugs in Bruchsal im Gefängnis und gibt in dem Schreiben den aktuellen Wohnort des SS-Lagergestapo-Mannes Wilhelm Boger an und zeigt ihn wegen seiner Grausamkeiten an.
Wien: Der österreichische Kommunist Hermann Langbein, Sekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees, pflegt viele Kontakte zu überlebenden Häftlingen. Sie empfinden die mangelnde Strafverfolgung in Deutschland als Parteinahme für ihre Peiniger. Langbein hat Auschwitz in der Schreibstube überlebt. Auch ihm ist Boger wohlbekannt. Und er kann Material liefern und Zeugen benennen.
Frankfurt am Main: Beim hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer sollen die Fäden zusammenlaufen. Der Jurist aus deutsch-jüdischem Elternhaus war in der Weimarer Zeit zur SPD gestoßen. 1933 wurde er von der SA ins KZ Heuberg verschleppt, nach acht Monaten kam er frei und flüchtete nach Dänemark, später nach Schweden. 1948 ging er zurück, um ein demokratisches, rechtsstaatliches Deutschland aufzubauen. Ihm ging es nicht um Sühne oder gar Rache. Sein Prinzip: „Wir müssen Gerichtstag halten über uns selbst, über die gefährlichen Faktoren in unserer Geschichte.“ Ohne die Wirkung von Strafprozessen gibt es für ihn keinen politisch-rechtlichen Lernprozess. Unterstützt von einigen jungen Staatsanwälten, beginnt Bauer die Vorbereitung des Prozesses.
In der „Strafsache gegen Mulka u.a.“ unter dem Aktenzeichen 4 Ks 2/63 waren neben Boger weitere 21 Männer wegen vielfachen Mordes oder Beihilfe zum Mord angeklagt: Robert Mulka als Stellvertreter des in Polen hingerichteten Lagerkommandanten Höss; drei Lagerärzte, der Apotheker, der als besonders grausam gefürchtete, oft betrunkene Oswald Kaduk. Sie alle hatten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft Fuß gefasst. Ihrem Umfeld waren sie nicht als brutal oder gefährlich aufgefallen. Im Prozess zeigten sie allerdings auch kein Schuldbewusstsein, keine Reue oder gar Mitgefühl mit den Opfern. Die Anklage hatte aus aller Welt 311 Zeuginnen und Zeugen geladen, darunter über 200 Überlebende aus dem Lager. Für sie konnte das formale juristische Verfahren allerdings nur unbefriedigend sein, die ganze Dimension der „Hölle von Auschwitz“ ließ sich hier nicht darstellen. Richter Hans Hofmeyer wollte absolut korrekt im Sinne der geltenden Rechtsordnung vorgehen. Verbrechen gegen die Menschlichkeit gab es als Straftatbestand nicht mehr, seit der Bundestag 1956 das Kontrollratsgesetz Nr. 10 außer Kraft gesetzt hatte. Den 22 Angeklagten musste jeweils die konkrete Tatbeteiligung, der persönliche Antrieb oder Heimtücke und niedere Beweggründe nachgewiesen werden. Denn auch in Auschwitz war nach der Logik des StGB einfacher Mord außerhalb des Gesamt-Vernichtungsplanes verboten.
Im August 1965 wurden sechs Angeklagte im neu erbauten Haus Gallus, in das der Prozess inzwischen verlegt worden war, wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Bei den anderen konnte das Gericht keinen „eigenen Tatwillen“ feststellen, sie hatten auf Befehl getötet und kamen so mit relativ niedrigen Freiheitsstrafen davon. Drei Angeklagte wurden freigesprochen.
Der Prozess fand in der heißen Phase des innerdeutschen Konfliktes statt. Die DDR war mit einem Nebenkläger im Gerichtssaal präsent. Der SED-Staat wollte sich selbst als den wahren Erben des Antifaschismus darstellen, die Bundesrepublik aber als das Land, das in vielfacher Hinsicht in der Tradition des Nationalsozialismus steht. Auschwitz sollte als eine Einrichtung im Interesse des deutschen Kapitals, konkret der IG Farben, verstanden werden.
Die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung hielt damals – nach einer Allensbach-Umfrage – das Auschwitz-Verfahren, dem noch zwei weitere folgen sollten, für überflüssig. Aber in der politischen, juristischen und intellektuellen Öffentlichkeit war der Prozess ein Ereignis. Dazu trug wesentlich der Schriftsteller Peter Weiss (1916 – 1982) mit seinem Stück „Ermittlung – Oratorium in elf Akten“ bei. Es wurde jüngst im Nürnberger Dokumentationszentrum aufgeführt.
Im Gerichtssaal waren zum ersten Mal für die deutsche Öffentlichkeit die brutalen Details des Lageralltags mit den Quälereien, willkürlichen Erschießungen und Tötungen von Kranken vor allem im „Stammlager“ dargestellt worden. Auschwitz bestand ja aus drei Bereichen, dem ursprünglichen „Stamm“-Konzentrationslager, dem Vernichtungslager und dem Arbeitslager Monowitz für die Fabriken der IG Farben.
Dem ursprünglichen Ziel von Fritz Bauer, die ganze Dimension der „Mordmaschine“, wie er sie nannte, zu zeigen, war das Verfahren nicht angemessen. Das machte sich auch Richter Hofmeyer in seinem Schlusswort bewusst: „Angesichts der unzähligen Opfer eines verbrecherischen Regimes und dem unsäglichen Leid, das die in der Geschichte beispiellose, planmäßig betriebene, auf teuflische Weise ersonnene Ausrottung von Hunderttausenden von Familien nicht nur über die Opfer selbst, sondern über unzählige Menschen, vor allem über das gesamte jüdische Volk gebracht und das deutsche Volk mit einem Makel belastet hat, erscheint es kaum möglich, durch irdische Strafen eine dem Umfang und der Schwere der im Konzentrationslager Auschwitz begangenen Verbrechen angemessene Sühne zu finden.“

Medien zur Auseinandersetzung mit dem Prozess:

Irmtrud Wojak/Fritz-Bauer-Institut: „Auschwitz-Prozess 4 Ks 2/63 Frankfurt am Main“ Snoeck-Verlag Köln, 871 Seiten

Raphael Gross und Werner Renz (Hg.): “Der Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-1965)”. Kommentierte Quellenedition, 2 Bände. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2013, 1.402 Seiten

Devin O Pendas: „Der Auschwitz-Prozess. Völkermord vor Gericht“, Siedler-Verlag, 433 Seiten

Irmtrud Wojak: „Fritz Bauer 1903 – 1968“, Beck-Verlag, 638 Seiten

Ronen Steinke: „Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht“, Piper-Verlag, 348 Seiten

Die ursprünglich als Gedächtnisstütze des Gerichts gedachten Tonbandmitschnitte des Prozesses sind unter auschwitz-prozess.de im Netz zugänglich.

Im Nürnberger Memorium gíbt es ein Bildungsangebot zum Prozess:
http://www.didanat.de/DIDANAT_Begleitangebot_Memorium.pdf

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