Der “Goldstone-Bericht”

21. Januar 2010 | Von | Kategorie: Strafgerichtsbarkeit

von Otto Böhm

1995 – 50 Jahre nach Beginn des Nürnberger Prozesses – fand auf Initiative des Nürnberger Menschenrechtszentrums die Tagung „Von Nürnberg nach Den Haag“ statt. Zusammen mit der Stadt Nürnberg und der Evangelischen Akademie Tutzing wollten wir vor dem Hintergrund des ad-hoc-Tribunals zu den Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien gerade von Nürnberg aus die Diskussion um einen Ständigen Internationalen Strafgerichtshof weiterbringen. Der südafrikanische Richter Richard Goldstone, engagiert im Kampf gegen die Apartheid, kam damals als Chefankläger des Jugoslawientribunals aus Den Haag und unterzeichnete mit den übrigen ReferentInnen einen “Nürnberger Appell“. In ihm heißt es:

„Die Regierungen der Welt haben jetzt die seltene Gelegenheit, das System internationaler Rechtsprechung auszubauen. Sie können bekräftigen, dass ein Internationaler Strafgerichtshof ein entscheidendes Instrument ist, den Menschenrechten weltweit mehr Geltung zu verschaffen.“

Diesen Strafgerichtshof gibt es inzwischen, Chefankläger ist der Argentinier Luis Moreno Ocampo. Mit dem Namen Goldstone verbindet sich heute jedoch in der Weltöffentlichkeit vor allem die Frage nach dem richtigen Umgang mit den beiderseitigen Menschenrechtsverbrechen im Gazakrieg zur Jahreswende 2008/2009. Goldstone führte eine Kommission des UN-Menschenrechtsrates an und legte im Juli einen umfassenden Bericht vor, der beide Seiten zur Untersuchung ihrer Kriegführung auffordert. Anlass und Grund genug, uns mit diesem schwierigen Thema auseinander zusetzen.

In der deutschsprachigen Öffentlichkeit bleibt die Bewertung israelischer und palästinensischer Politik und Kriegführung – positiv formuliert: die Frage nach den Friedensmöglichkeiten und Solidaritätsverpflichtungen – nach wie vor ein hochemotionales Thema, belastet mit Traumata, umstrittenen Schlussfolgerungen und gegenseitigen Unterstellungen. Das hat sich wieder deutlich an der Bewertung des Gazakrieges gezeigt: Deutsche Juden wie Ralph Giordano oder der Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, Arno Hamburger, (sie verstehen sich beide als „Deutsche Juden“) geben ihr Bundesverdienstkreuz zurück, weil die jüdische Israelkritikerin Felicia Langer für ihre Friedensarbeit ebenfalls das Bundesverdienstkreuz bekommen hat.

In Nürnberg hatten die Vorwürfe gegen die Kriegführung der israelischen Armee Wochen vorher schon Arno Hamburger auf den Plan gerufen. Seinem Protest gegen die Vorwürfe schloss sich auch der freikirchliche Arbeitskreis „Suchet der Stadt Bestes“ an.

In der FAZ löste der katholische Philosoph Robert Spaemann einen Streit aus, indem er schlicht (für seine Kritiker zu schlicht – wegen der Problematik der „menschlichen Schutzschilde“, siehe unten) auf die 1.400 palästinensischen Opfer, darunter 960 Zivilisten) gegenüber 13 Israelis, hingewiesen hat. Die Zahlen werden von Palestinian Center for Human Rights oder von der israelischen Menschenrechtsorganisation Betselem (NZZ vom 10. September 2009) bestätigt.

Das Palestinian Center for Human Rights geht von 1.417 Toten aus (926 Zivilisten, 255 nicht kämpfende Polizisten, 236 Kombattanten). Das israelische Militär beziffert die Toten auf 1.166 (709 „Hamas-Terroristen“, 295 „nicht beteiligte Palästinenser“).

Die Frage ist: Kann das Anlegen strenger Menschenrechtsmaßstäbe an das Handeln der Konfliktparteien den engagierten Menschen hierzulande bei der Bewertung helfen?

Der Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen spielt in diesem Streit immer schon eine Rolle als Vorwurf an die israelische Besatzungspolitik, beziehungsweise als prinzipielle Kritik von Vertreibung und Besatzung. Der bekannteste und umstrittene Autor ist hier Ludwig Watzal, der auch für die Bundeszentrale für Politische Bildung geschrieben hat.

Die Gegenseite konnte immer leicht kontern mit dem Hinweis auf die Blindheit der Kritiker gegenüber der dauerhaften Bedrohung der israelischen Zivilbevölkerung durch die auf sie gerichteten Raketen – kamen sie aus Gaza und aus dem Südlibanon oder kommen sie aus dem Iran. Diese Bedrohung und Betroffenheit muss bei Stellungnahmen immer mit bedacht werden. Zudem gehört es inzwischen auch zum Grundverständnis der Menschenrechte, dass terroristische Angriffe auf Zivilisten, hier auf israelische Siedlungen, auch dann als Verbrechen verfolgt werden können, wenn keine klare staatliche Befehlsstruktur zu erkennen ist.

Wir sollten allerdings, trotz des alltäglichen Bedrohungsszenarios in Israel, auch die Stimme der palästinensischen Menschenrechtsorganisationen hören: Die Frankfurter Organisation medico international (Frankfurt/Main) stellt der deutschen Öffentlichkeit regelmäßig die Arbeit ihrer Partnerorganisation, die Menschenrechtsgruppe Al Mezan („Die Waage“) vor. Deren Direktor Issam Yunis erhielt 2008 den Menschenrechtspreis der Stadt Weimar. Al Mezan beklagte 2008 zuerst die Entführungs- und Folterpraktiken von Fatah gegen Hamas und nach dem Sieg der Hamas die umgekehrte Praxis. Nach der Bombardierung des Gazastreifens beklagt sie vor allem die Schwierigkeit der medizinischen Versorgung.

Die Bilanz der Ärzte für Menschenrechte, die sowohl in Israel als auch in Palästina arbeiten, stellt The Guardian am 7. April 2009 vor:

„The Israeli military attacked civilians and medics and delayed – sometimes for hours – the evacuation of the injured during the January war in Gaza, according to an independent fact-finding mission commissioned by Israeli and Palestinian medical human rights groups. Physicians for Human Rights-Israel and the Palestinian Medical Relief Society yesterday said their findings showed Israel’s military committed serious violations of international humanitarian law. In their 92-page report, compiled by five senior health experts from across the world, they documented several specific attacks, with interviews from 44 separate witnesses. Human rights groups have accused Israel’s military, as well as Palestinian militants in Gaza, of war crimes. “The underlying meaning of the attack on the Gaza Strip, or at least its final consequence, appears to be one of creating terror without mercy to anyone,” the report said.“

Um noch eine Stimme aus der internationalen Menschenrechtsarbeit zu zitieren: Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat die im Gazastreifen herrschende Hamas-Organisation zur Untersuchung von Kriegsverbrechen auch auf palästinensischer Seite aufgefordert. Dies sei eine der Empfehlungen des Goldstone-Berichts zum Gaza-Krieg, hieß es. Der Bericht war zu dem Schluss gekommen, dass sowohl Israel als auch Hamas Kriegsverbrechen verübt hätten. (Nürnberger Nachrichten, 20.10.2009)

Ein massiver völkerrechtlicher Konflikt deutet sich indessen in der Folge des so genannten Goldstone-Berichtes an: Der UN-Menschenrechtsrat untersucht mit Hilfe von Fact-Finding-Missions die Menschenrechtslage in bestimmten Regionen und Situationen, so zum Beispiel im Bürgerkrieg in Kolumbien. Zwar sollte es gegenüber der Tatsache der üblichen Israel-feindlichen UN-Mehrheiten keine Naivität geben; aber die israelische Regierung kann den Bericht des weltweit respektierten Richters Goldstone (eines südafrikanischen Juden, der der erste Chefankläger in Den Haag im Jugoslawien-Tribunal war) nicht mit diesem üblichen UNO-kritischen Argument abtun.

Der den israelischen Angriff auslösende Raketenbeschuss ziviler israelischer Siedlungen wird im Bericht durchaus auch als Menschenrechtsverbrechen bezeichnet. Ich zitiere aus der Zusammenfassung des Berichts:

“The destruction of food supply installations, water sanitation systems, concrete factories and residential houses was the result of a deliberate and systematic policy which has made the daily process of living, and dignified living, more difficult for the civilian population. The Report states that Israeli acts that deprive Palestinians in the Gaza Strip of their means of subsistence, employment, housing and water, that deny their freedom of movement and their right to leave and enter their own country, that limit their rights to access a court of law and an effective remedy, could lead a competent court to find that the crime of persecution, a crime against humanity, has been committed [“¦] The Fact-Finding Mission also found that the repeated acts of firing rockets and mortars into Southern Israel by Palestinian armed groups constitute war crimes and may amount to crimes against humanity, by failing to distinguish between military targets and the civilian population. The launching of rockets and mortars which cannot be aimed with sufficient precisions at military targets breaches the fundamental principle of distinction.“

(Der ganze Text ist online abrufbar  unter:  http://www2.ohchr.org/english/bodies/hrcouncil/specialsession/9/FactFindingMission.htm).

Die neuartige völkerrechtliche Eskalation besteht nun in der Verknüpfung der Berichtsergebnisse mit der Aufforderung an beide Seiten, innerhalb eines halben Jahres Schritte zur Ermittlung von Straftaten einzuleiten. Andernfalls wird der Sicherheitsrat aufgefordert, die Situation als Untersuchungsauftrag an den ICC zu überweisen. Damit wäre nach Uganda, Ost-Kongo, Uganda, Kolumbien Kenia, der Zentralafrikanischen Republik und dem Sudan der Fall Israel/Hamas der fünfte Ermittlungsfall für den Ständigen Internationalen Strafgerichtshof.

Nur nebenbei möchte ich darauf hinweisen, dass einen Kernpunkt des Streits um die israelische Verteidigungspolitik die beiden bekannten Philosophen Avishai Margalit und Michael Walzer schon 2004 aufgegriffen haben. Sie genießen sowohl in Israel als auch in den Vereinigten Staaten hohes Ansehen. Ihre Ausgangsfrage ist angesichts der Opferzahlen in Gaza unverändert aktuell: Wie muss, wie kann eine reguläre Armee Zivilisten schonen und dabei Terroristen bekämpfen, die ihre eigene Bevölkerung als Schutzschild missbrauchen?

Schon 2005 veröffentlichten zwei hochrangige Berater der Israelischen Armee, Asa Kasher und Amos Yadlin, eine Verteidigung der Armee-Richtlinien zur Vermeidung eigener Opfer auch um den Preis des Tötens von Zivilisten. Kernsatz des Armee-Arguments: „Dort, wo der Staat nicht in der Lage ist, das unmittelbare Umfeld von Terroristen zu kontrollieren, braucht er keine Verantwortung dafür zu übernehmen, dass Terroristen im Umfeld von Menschen operieren, die nicht in terroristische Handlungen verwickelt sind.“ ( „Military Ethics and Fighting Terrorism: An Israeli Perspective“, in: Journal of Military Ethics, April 2005, zitiert von Margalit/Walzer ohne Seitenangabe).

Demgegenüber berufen sich Walzer/Margalit auf das geltende Kriegsvölkerrecht, das Kriegsführung, Kriegsgründe und das Ausmaß von Kriegen regulieren und begrenzen soll: „Zwischenstaatliche Kriege sollen unter keinen Umständen zu totalen Kriegen zwischen Nationen und Völkern ausarten. Was mit den aufeinanderstoßenden Armeen auch geschieht, wer gewinnt oder verliert, welcher Art die Kampfhandlungen und wie hoch die Verluste auch sind – am Ende müssen die gegnerischen Nationen und Völker funktionierende Gemeinwesen bleiben. Krieg darf nicht Auslöschung oder ethnische Säuberung bedeuten. Das gilt für Staaten, und das gilt auch für staatsähnliche politische Organisationen wie Hamas oder Hisbollah, ob sie nun terroristisch sind oder nicht.“

Wenn also Zivilisten als Schutzschilde missbraucht werden, muss nach Margalit/Walzer dennoch die Maxime gelten: „Führt den Krieg, aber behandelt gegnerische Zivilisten so, als seien es eure eigenen Staatsbürger.“ (Margalit,A./Walzer, M: „Völkerrecht im asymmetrischen Krieg Oder: Wie bekämpft man Terroristen und schützt Zivilisten?“ in: Internationale Politik, Ausgabe Juli/August 2009, S.63; herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Berlin). Im Zweifelsfall also nicht draufschlagen, um pro zehn Zivilisten zwei Hamas-Kämpfer zu töten!

Zurück zum „Goldstone-Bericht“:

Er wurde im Oktober zur Grundlage einer Verurteilung Israels im Menschenrechtsrat. Mit einer Mehrheit von 25 der 47 Mitglieder des Gremiums wurde eine von den Palästinensern, Ägypten, Nigeria, Tunesien und Pakistan eingereichte Resolution angenommen. Die meisten westlichen Staaten, darunter die der EU und die USA, lehnten die Resolution ab oder enthielten sich. Russland stimmte dafür. Der Menschenrechtsrat empfiehlt in den folgenden Passagen ein weiteres Vorgehen der Vereinten Nationen auf der Basis der Goldstone-Mission:

“The HRC “¦

2. Welcomes the report of the Independent International Fact-Finding Mission (A/HRC/12/48);

3. Endorses the recommendations contained in the report of the Independent International Fact-Finding Mission, and calls upon all concerned parties including United Nations bodies, to ensure their implementation in accordance with their respective mandates;

4. Recommends the General Assembly to consider the report of the Independent International Fact-Finding Mission, during the main part of its 64th session;

5. Requests the United Nations Secretary General to submit to the 13th Human Rights Council‘s session, a report, on the status of implementation of paragraph 3.above;“

Führende Politiker Israels wie Shimon Peres oder Ehud Barak sehen die Forderungen des Berichts nach wie vor als eine Beschneidung des israelischen Selbstverteidigungsrechtes, als ein Hindernis im Kampf gegen Terrorismus. Eine differenzierte, weiter führende Position zum Bericht vertritt der ehemalige israelische Botschafter in Berlin, Avi Primor: „Manche nennen den Richter Richard Goldstone einen mit Selbsthass belasteten Juden beziehungsweise einen Antisemiten; und dies, obwohl der Zionist Goldstone sein Leben lang mit der jüdischen Gemeinde in Südafrika sowie mit Israel eng verbunden war. “¦Der von der UN-Menschenrechtskommission in Auftrag gegebene Goldstone-Bericht ist möglicherweise nicht abzuschütteln. Zwar sitzen in diesem Gremium namhafte Verteidiger der Menschenrechte wie die Vertreter Saudi-Arabiens, Kubas, Pakistans, Chinas und anderer Diktaturen, die immer parteiisch genug sind, ausschließlich Israel unter die Lupe zu nehmen. Der Goldstone-Bericht scheint dennoch ein Novum zu sein.“ Primor moniert zwar auch, dass dem Bericht die Erklärung, warum es überhaupt zu diesem Krieg gekommen ist, wer ihn entfesselt und wer sich lange zurückgehalten hat, fehle. Aber Israel könne, wenn überhaupt, die Anschuldigungen des Berichtes nur wiederlegen, wenn es an den internationalen Verfahren teilnehme, die, in diesem Falle, eine unabhängige israelische Untersuchungskommission fordern. Damit könne gezeigt werden kann, dass Israel eine „international anerkannte, echte Demokratie mit einem starken Justizsystem ist.“ (in: Süddeutsche Zeitung vom 21.10.2009 unter dem Titel „Der Klügere nimmt teil“).

Zum Schluss sei noch auf die Forderung der Hochkommissarin für Menschenrechte hingewiesen, die sich, ausdrücklicher als die Empfehlungen in der Resolution des Menschenrechtsrates, an beide Seiten richtet: Laut Zeit Online vom 16.10.2009 hat die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, zum Auftakt der Sitzung des Menschenrechtsrates Israel und die Palästinenser aufgefordert, den Berichten über die Kriegsverbrechen nachzugehen. „Alle am Konflikt beteiligten Parteien verletzten weiterhin das Völkerrecht“¦. Es bestehe die Gefahr, dass die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen würden“¦.In den besetzten Gebieten und Israel entwickelt sich eine Tendenz zur Straflosigkeit.“

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