Menschenrechtsverbrechen vor Gericht

12. Juli 2002 | Von | Kategorie: Menschenrechte verstehen, Strafgerichtsbarkeit

(aus: Von Nürnberg nach Den Haag: Menschenrechtsverbrechen vor Gericht. Zur Aktualität des Nürnberger Prozesses / hrsg. vom Nürnberger Menschenrechtszentrum. In Zusammenarbeit mit der Stadt Nürnberg / Jugendzentrum für kulturelle und politische Bildung, und der Ev. Akademie Tutzing, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1996)

von Rainer Huhle

„Wer heute Gesetze zur Garantie der Straflosigkeit einbringt, macht sich genau so schuldig wie diejenigen, die einst den Finger am Abzug hatten.“

Sola Sierra1

I. Vom Kriegsverbrechen zum Verbrechen gegen die Menschheit. Die schwere Geburt des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes aus dem Kriegsvölkerrecht.

II. Völkerstrafrechtliche Verantwortlichkeit von Menschenrechtsverbrechen seit Nürnberg – der Kampf gegen die Straflosigkeit

III. Menschenrechtsschutz durch Strafrecht: Zum Problem der politischen und gesellschaftlichen Funktion der Strafe im Zusammenhang mit dem Schutz der Menschenrechte

I. Vom Kriegsverbrechen zum Verbrechen gegen die Menschheit. Die schwere Geburt des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes aus dem Kriegsvölkerrecht.

50 Jahre nach dem Internationalen Militärtribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher des NS-Regimes in Nürnberg ist in aller Welt wieder von der historischen Bedeutung dieses Prozesses die Rede. Wie so manche allgemein akzeptierte Wahrheit erweist sich jedoch auch diese bei näherem Hinsehen als keineswegs so evident wie es ihre Popularität nahelegte. Worin besteht die historische Bedeutung des als „Nürnberger Prozeß“ in die Geschichtsbücher eingegangenen gigantischen Gerichtsverfahrens, das gleichwohl nicht einmal ein Jahr dauerte?

Die Antworten auf diese recht grob gestellte Frage werden unterschiedlich ausfallen, je nachdem, auf welchen Aspekt des Verfahrens man die Aufmerksamkeit richtet. Zu unterscheiden sind mindestens drei Gesichtspunkte, die sich etwas schematisch auch drei Abschnitten des Prozesses zuordnen lassen:

1. Das Warum: die Begründung dafür, daß überhaupt ein Gerichtsverfahren in Gang gesetzt wurde, und seine Legitimation. Sie findet sich in schriftlicher Form vor allem in zwei wichtigen Dokumenten, im Londoner Abkommen vom August 1945 und im Statut des Militärtribunals. Sie bildet im zeitlichen Verlauf die Vorgeschichte des Prozesses.

2. Das Wie: die Durchführung des Verfahrens, die dabei beachteten Regeln der Prozeßführung und der Austausch von juristischen und politischen Argumenten, der mit der Eröffnung des Prozesses am 20. November 1945 begann und mit der Verkündung des Urteils am 1. Oktober des folgenden Jahres beendet wurde.

3. Das Wozu: die Verkündung und der Vollzug des Urteils gegen 24 hohe Repräsentanten des NS-Regimes, als symbolischer Schlußstrich, und in den 12 Fällen, in denen die Todesstrafe verhängt wurde, auch das physische Ende für die Vertreter eines der schlimmsten Unrechtsregime, das die Geschichte kennt.

Es scheint, daß die öffentliche Wahrnehmung die historische Bedeutung des Nürnberger Prozesses vor allem in diesem letzten Punkt erkennt: als symbolischen und faktischen Bruch mit einer vergangenen Epoche, gewissermaßen die Fortsetzung der im Mai 1945 besiegelten Kapitulation auf der Ebene der Justiz.

Gerade dieser Aspekt jedoch erscheint der wenigst interessante aus heutiger Sicht. Als Machtfaktor war der Nationalsozialismus bereits überwunden, der Prozeß konnte zu einer als Ereignisgeschichte verstandenen historischen Entwicklung wenig hinzufügen. Nicht als Abschluß einer historischen Epoche, als Schlußakt des Zweiten Weltkriegs erhält der Prozeß seine historische Bedeutung. Diese mißt sich vielmehr daran, inwieweit er als Eröffnung einer durch neue Regeln des Zusammenlebens bestimmten Nachkriegswelt, als Präzedenzfall einer erweiterten Geltung des Rechts als prägendem Faktor dieser neuen Ordnung gelten kann. Die Bedeutung des Nürnberger Prozesses hängt aus dieser Perspektive sowohl von seinen eigenen Grundlagen und Verfahrensweisen, von dem also, was seine Planer und Akteure leisteten, als auch von der Entwicklung der folgenden Jahre und Jahrzehnte, die kaum noch dem direkten Einfluß der Nürnberger Akteure unterlag, ab.

Denn für das Recht ganz allgemein, und das Völkerrecht im besonderen gilt, daß es sich im Gebrauch nicht abnutzt, sondern kräftigt. Recht, auch wenn es so weltweit beachtet und so feierlich verkündet wird wie im Nürnberger Prozeß, verliert seine normsetzende Kraft, wenn sich diese nicht durch tatsächliche Anwendung ständig erneuert. Gerade weil Völkerrecht noch immer mehr als die meisten anderen Bereiche des Rechts Gewohnheitsrecht ist, leidet es unter mangelnder Gewöhnung besonders. In den 50 Jahren seit dem Prozeß wurde der Name Nürnbergs immer wieder ins Feld geführt, wenn es um die Forderung nach Strafen für Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen ging. Die „Nürnberger Prinzipien“ wurden sogar durch die UNO ausformuliert und in einige internationale Abkommen mehr oder weniger zaghaft eingeführt. Und das Stichwort „Nürnberg“ geriet in Menschenrechtskreisen in aller Welt zu einer fast mythischen Ikone. Dennoch: wirklich fortgeführt wurde von der Idee, schwerste Völkerrechts- und Menschenrechtsverletzungen durch internationale Strafgerichte zu verfolgen, wenig – die Beiträge im ersten Teil dieses Bandes belegen und erklären diese Tatsache aus unterschiedlichen Perspektiven.

Inwieweit das singuläre Ereignis des Nürnberger Prozesses sich tasächlich als Präzedenzfall entfalten konnte, hing vor allem von zwei rechtspolitischen Grundentscheidungen ab: Von den Regeln, nach denen sich das Gericht konstituierte und nach denen es Recht sprach; und zum andern von der Definition der Verbrechen, für die es sich zuständig erklären wollte. Beide Aspekte waren von den spezifischen Umständen geprägt, die der historische Moment des Sieges über Hitler-Deutschland hervorgebracht hatte. Ganz besonders gilt dies natürlich für die Zusammensetzung des Gerichtshofs. Die Beschränkung der Richter und Ankläger auf Angehörige der vier großen Siegermächte konnte sicher nicht als Vorbild für eine weltumfassende neue Nachkriegsordnung gelten. Bemerkenswert ist immerhin, daß dies schon damals als Mangel erkannt wurde. Vorschläge, das Gericht bereits als UNO-Gerichtshof zu konstituieren, kamen jedoch 1945 offensichtlich zu früh.

Die Verfahrensfragen wurden in Nürnberg zufriedenstellend gelöst, sind aber nicht das entscheidende Problem in unserm Zusammenhang. Dieses liegt vielmehr in der Frage der Jurisdiktion. Für welche völkerrechtlichen oder menschenrechtlichen Delikte konnte und wollte das Internationale Militärtribunal zuständig sein? Die Antwort darauf findet sich im Statut des Gerichtshofs, insbesondere in den berühmten drei Buchstaben des Artikels 6. Sie umschreiben die Verbrechen, die in Nürnberg abgehandelt werden sollten, als

a) Verbrechen gegen den Frieden. Hier ging es um die Frage, ob der Angriffskrieg, den die Verantwortlichen des Dritten Reiches geführt hatten, völkerrechtlich unzulässig war – eine im Völkerrecht bezeichnenderweise umstrittene Frage, die in den Beiträgen von Merkel und Tomuschat in diesem Band ausführlich behandelt wird. Dabei wird auch deutlich, daß gerade in dieser Frage bis heute wenig weiterführende Klärungen erfolgt sind.

b) Kriegsverbrechen, also nicht das Verbrechen des Krieges an sich, sondern die im Krieg selbst begangenen Verstöße gegen das gewohnheitsmäßige bzw. auch völkerrechtlich bereits relativ genau definierte Maß dessen, was als erlaubte Kriegshandlung zu gelten hatte.

c) Verbrechen gegen die „Menschlichkeit2“. Liest man aus heutiger Sicht die Definition, die das Statut für diesen als zulässig erachteten Anklagepunkt gab, scheint die Sache denkbar einfach und vernünftig: Zu fassen sind darunter „Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, begangen an irgendeiner Zivilbevölkerung vor oder während des Krieges, Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen“.

Umschrieben ist hier der größte Teil – auffällig ist das Fehlen der Folter – der Verbrechen, die wir heute gewohnt sind, als schwerste Menschenrechtsverletzungen zu bezeichnen, und die seither in verschiedenster Weise durch internationale Konventionen auch explizit geächtet worden sind, insbesondere das Verbrechen des Völkermords.

Ganz so einfach jedoch war die Sache damals nicht. Zunächst fällt auf, daß der Begriff „Menschenrechte“ zur Bezeichnung der beschriebenen Verbrechen in diesem Artikel 6 (c) nicht verwendet wird. Er kommt auch in den übrigen Dokumenten des Nürnberger Prozesses nicht vor, und das, obschon mit Frankreich, den USA und Großbritannien die drei Staaten am Richtertisch saßen, in deren Ideen- und Verfassungsgeschichte das Konzept der Menschenrechte hauptsächlich entwickelt worden ist. Doch 1945 gehörte der Begriff der Menschenrechte noch ausschließlich in den Bereich der Rechtsphilosophie bzw. des Verfassungsrechts. Weder im Völkerrecht noch im Strafrecht hatte er sich in direkter Form niedergeschlagen. Aber auch der verwendete Begriff der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zeigt schon in den Schwierigkeiten, die seine Übersetzung aufwarf, wie neuartig er damals war3. „Crimes against humanity“, wie es im Englischen heißt, erschien in der offiziellen französischen Version des Statuts als „Crimes contre l‘humanité“, in der vom Sekretariat des Gerichtshofs herausgegebenen, also ebenfalls offiziellen, deutschen Übersetzung4 aber in verschiedenen Varianten. Da heißt es einmal „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ – so im Statut, in der Anklagerede von Robert Jackson (II, S. 132) und im Urteil (I, S. 285) – an anderer Stelle hingegen „Verbrechen gegen die Humanität“ – so in der Anklageschrift (I, S. 70) und im Protokoll ihrer Verlesung (II, S. 84). Die angemessene Übersetzung des mehrdeutigen Worts „humanity“ bzw. „humanité“ befindet sich leider nicht darunter. Sie kann nur „Verbrechen gegen die Menschheit“ lauten, wenn man die damit umschriebenen Verbrechen bedenkt, bei denen es schließlich nicht um einen Mangel an Menschlichkeit, sondern in der Tat um Verbrechen ging, die sich potentiell gegen die ganze Menschheit richteten5. Hannah Arendt bezeichnete im Epilog ihres Buches über den Eichmannprozeß den Begriff der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ daher als „das Understatement des Jahrhunderts“6. Es war der französische Chefankläger François de Menthon, der mit der Bezeichnung „crimes contre la condition humaine“ den vielleicht treffendsten Ausdruck fand. Gemeint sei damit, so Menthon, „ein schweres Verbrechen gegen das Bewußtsein, das die Menschheit heute von dem, was sie als Menschheit auszeichnet, hat.“7

War schon der Begriff der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ ungewohnt und schwierig zu handhaben, so hätte eine Anklage wegen „Menschenrechtsverletzungen“ noch weit größere Probleme aufgeworfen. Eine solche Anklage hätte 1945 ein völlig neues Recht formulieren müssen und wäre damit in eklatanter Weise vor dem Dilemma des „Rückwirkungsverbots“ gestanden, dem Rechtsprinzip also, wonach niemand wegen einer Sache angeklagt werden kann, die zum Zeitpunkt der Tat nicht als Verbrechenstatbestand normiert war. Reinhard Merkel zeigt in seinem Beitrag zu diesem Band, daß das Problem des Rückwirkungsverbots auch für die Formulierung des Tatbestands der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bestand (und trotz des Briand-Kellogg-Pakts auch für das Verbrechen des Angriffskriegs). Die Diskussionen um das Statut von Nürnberg, die Debatten während des Prozesses und viele andere Quellen machen sehr deutlich, daß sich die Ankläger von Nürnberg dieses Dilemmas bewußt waren und es auf verschiedene Weise zu überwinden versuchten. Wie stark diese Unsicherheit sogar noch bis in die Formulierung des Statuts durchschlug, zeigt selbst der oben zitierte Satz des Artikel 6 (c), der die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in so klarer Weise definierte, dann aber die Aufzählung der darunter fallenden Taten mit der folgenden merkwürdigen Einschränkung schloß: „¼begangen in Ausführung eines Verbrechens oder in Verbindung mit einem Verbrechen, für das der Gerichtshof zuständig ist, und zwar unabhängig davon, ob die Handlung gegen das Recht des Landes verstieß, in dem sie begangen wurde, oder nicht.“

Nun ist aber der Artikel 6 des Statuts gerade der, der die Verbrechen festlegte, für die das Gericht zuständig war. Der Verweis in diesem Artikel auf die Verbrechen, für die das Gericht zuständig ist, dreht sich also im Kreis, verweist auf sich selbst. Logisch macht das keinen Sinn, sehr wohl aber als Ausdruck der Unsicherheit, die sich ergeben mußte, wenn man zugleich juristisches Neuland betreten, den sicheren Boden des alten positiven Rechts aber nicht verlassen wollte. Der Verweis in Artikel 6 (c) des Statuts auf die „Verbrechen, für die das Gericht zuständig ist“, hat offensichtlich die in Artikel 6 (b) genannten Kriegsverbrechen im Blick, für die es eine positive Rechtsgrundlage im Völkerrecht gab. Der Verlauf der Verhandlungen machte deutlich, wie sich die juristisch geschulten Ankläger immer wieder an den Anklagepunkt „Kriegsverbrechen“ als festen Haltepunkt klammerten, um von dort aus zaghafte Vorstöße auf das unbekannte Terrain der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu unternehmen. Immerhin war noch im Potsdamer Abkommen, also inmitten der Verhandlungen über das Statut für das Internationale Militärtribunal und wenige Tage vor der Beschlußfassung über seine Formulierung in London, lediglich von der Absicht, die Hauptkriegsverbrecher vor Gericht zu stellen, die Rede gewesen. Und auch der in Nürnberg dann tatsächlich unter den genannten drei Anklagepunkten geführte Prozeß führt in seinem offiziellen Namen lediglich die Kriegsverbrecher als Zielgruppe an: „Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof“. Exemplarisch für die Unsicherheit der Gehversuche in Richtung einer autonomen Definition der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ war die Anklageschrift: Nach dem unter Punkt Drei ausführlich eine Reihe von Untaten als Kriegsverbrechen angeklagt worden waren, fuhr die Anklage unter Punkt Vier mit der Erklärung fort, sie werde „die im Anklagepunkt Drei vorgetragenen Tatsachen gleichzeitig als Verbrechen gegen die Humanität geltend machen.“ (II, S. 85)

Das Ergebnis dieser eigenartigen „Gleichzeitigkeit“ zeigte sich dann im Urteil, das die Richter am 1. Oktober 1946 verkündeten, als praktische Zurücknahme des Anklagepunkts der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Selbstverständlich nimmt das Urteil zunächst Bezug auf die Rechtsgrundlage des Statuts, zitiert auch den Anklagepunkt der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (I, S. 192). Ausführlich belegt es dann die Verbrechen gegen die Juden und andere Verbrechen der Angeklagten. Bei der Bewertung dieser Verbrechen jedoch zählen sie für das Gericht in seiner Urteilsbegründung nur als Kriegsverbrechen. Obwohl ausdrücklich festgestellt wird, daß auch vor 1939 eine „Politik der Verfolgung, der Unterdrückung und der Ermordung von Zivilpersonen ¼ auf das erbarmungsloseste durchgeführt“ wurde, ist deren Bewertung im Urteil nur im Zusammenhang mit dem Krieg relevant. Wörtlich heißt es:

„Um Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begründen, müssen die vor Ausbruch des Krieges begangenen und hier herangezogenen Handlungen in Ausführung eines Angriffskriegs oder in Verbindung mit einem der Zuständigkeit des Gerichtshofs unterstellten Verbrechen verübt worden sein. Der Gerichtshof ist der Meinung, daß, so empörend und entsetzlich viele dieser Verbrechen waren, doch nicht hinreichend nachgewiesen wurde, daß sie in Ausübung eines Angriffskriegs oder in Verbindung mit einem derartigen Verbrechen verübt worden sind. Der Gerichtshof kann deshalb keine allgemeine Erklärung dahingehend abgeben, daß die vor 1939 ausgeführten Handlungen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des Statuts waren¼“ (I, S. 285f)

So gesehen, hätte sich der Anklagepunkt der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ als überflüssig erwiesen. Was „gleichzeitig“ darunter fiel, konnte auch als Kriegsverbrechen abgeurteilt werden.8 Konsequenterweise konstruierte das Gericht selbst im Fall eines Angeklagten wie des Zivilisten Julius Streicher, dem schon deswegen keine Kriegsverbrechen vorgehalten werden konnten, weil er nie an Kriegshandlungen beteiligt war, eine „Verbindung mit solchen Kriegsverbrechen, wie sie im Statut festgelegt sind,“ (I, S.343) und der Judenhetze, wegen der er unter dem Anklagepunkt „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ für schuldig befunden wurde. Treffend, wenn auch erst nachträglich, stellte der französische Richter am Nürnberger Militärtribunal, Donnedieu de Vabres, fest, daß „die Kategorie der “˜Verbrechen gegen die Menschheit‘ die das Statut durch eine sehr kleine Tür eingelassen hatte, sich vermöge des Urteilsspruchs des Gerichts wieder verflüchtigte.“9 Gleichzeitig ist aber das Todesurteil gegen Streicher der beste Beleg für Hannah Arendts Beobachtung, daß sich im Strafmaß die Kategorie der „Verbrechen gegen die Menschheit“ sehr viel gewichtiger niederschlug als in der juristischen Begründung des Urteils – auch dies eines der Indizien für den schwankenden Boden, auf dem die Nürnberger Richter ihr Urteil zu fällen hatten.

Der Fall Streicher zeigte somit exemplarisch, trotz oder wegen seiner mühsam konstruierten Urteilsbegründung, die Notwendigkeit des Anklagepunkts „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Die Ausrottungspolitik der Nationalsozialisten überstieg alles, was in herkömmlichem Sinn als Kriegsverbrechen zu fassen war. Zeitlich, ideologisch und in ihren Ergebnissen war sie nicht Folge oder Akzidens des Krieges, sondern dieser umgekehrt Werkzeug ihrer Exekution, die nicht zwischen eigenen und fremden Bürgern, sondern allenfalls zwischen Herren- und Untermenschen unterschied, wobei die Grenze zunehmend enger gezogen wurde. Nur ein Begriff oder wenigstens eine Ahnung dieses Zusammenhangs erklärt die Aufnahme des Artikel 6 (c) in das Statut und des Punktes Vier in die Anklage von Nürnberg. Robert Jackson, den Reinhard Merkel in seinem Beitrag mit der Bemerkung, aus dem Vorfeld des Prozesses, zitiert: „Wie Deutschland seine eigenen Bürger behandelt […], geht uns nicht mehr an als andere Regierungen unsere Angelegenheiten“ – der gleiche Jackson erklärte als Ankläger in Nürnberg das genaue Gegenteil: „Wie eine Regierung ihr eigenes Volk behandelt, wird gewöhnlich nicht als Angelegenheit anderer Regierungen oder der internationalen Gemeinschaft der Staaten angesehen¼ Die Mißhandlung Deutscher durch Deutsche aber überschreitet, wie man jetzt weiß, nach Zahl und Art der Fälle und an Roheit alles, was für die moderne Zivilisation tragbar ist. Die anderen Völker würden, wenn sie schwiegen, teilhaben an diesen Verbrechen, denn ihr Schweigen wäre Zustimmung“ (II, S. 150). Zwischen diesen beiden ereignisgeschichtlich nur durch wenige Monate getrennten Äußerungen liegt ideengeschichtlich ein ganzes Zeitalter, und die Geburt des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes.

Dies ist das zukunftsweisende Element des Nürnberger Prozesses, und die juristischen Unsicherheiten, von denen dieser Schritt begleitet war, tun dem keinen Abbruch. Im Gegenteil, die quälenden Widersprüche, die dadurch in die Rechtsprechung von Nürnberg Einzug hielten, waren notwendige Geburtswehen eines neuen Verständnisses von internationalem Recht, das bis heute nicht vollendet ist. „Die Zivilisation fragt, ob das Recht so zaudernd und träge sei, daß es gegenüber so schweren Verbrechen, begangen von Verbrechern von so hohem Rang, völlig hilflos ist,“ schloß Robert Jackson seine Begründung der Anklage am ersten Verhandlungstag des Prozesses (II, S.183). Hin und hergerissen zwischen dem Bewußtsein ihrer Sendung, das Nazi-Regime, das unerhörte neue Dimensionen des Verbrechens betreten hatte, abzuurteilen, und dem juristischen Ethos, dies unter strikter Anwendung rechtsförmiger Mittel zu tun, konnten die Ankläger und Richter von Nürnberg zu keiner widerspruchsfreien Position kommen. Es ehrt sie, diese Widersprüche nicht wie einen gordischen Knoten durchschlagen, sondern um ihre Entwirrung gerungen zu haben. Aus heutiger Sicht sind es gerade diese Widersprüche, die sich als das produktive Moment des Nürnberger Prozesses erwiesen haben. Die Aufgabe war gestellt. Nach Nürnberg mußte es darum gehen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit bzw. Menschenrechtsverbrechen unabhängig von Kriegsereignissen und so präzise zu formulieren und zu kodifizieren, daß künftige Verbrecher vor künftigen Gerichten auf klarer Rechtsgrundlage abgeurteilt werden könnten.

„Ein Akt der Erzwingung des Rechts steht am Anfang der modernen Periode internationalen Menschenrechtsschutzes. Durch die Anklage der Naziverbrecher wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Nürnberg hat die internationale Gemeinschaft zugleich erklärt, daß alle Staaten auf die Respektierung der Grundrechte verpflichtet sind, und daß die Kraft dieser Rechte von der Sicherheit abhängt, mit der sie in rechtsförmigen Verfahren durchgesetzt werden können.“10

Die Feststellung der nordamerikanischen Völkerrechtlerin Diane Orentlicher ist bezüglich des Stellenwerts der Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Nürnberger Prozeß, wie wir gesehen haben, durchaus fragwürdig, als Beschreibung des diesem Prozeß eingeschriebenen Programms jedoch präzis gesehen.

II. Völkerstrafrechtliche Verantwortlichkeit von Menschenrechtsverbrechen seit Nürnberg – der Kampf gegen die Straflosigkeit

Drei Elemente waren es vor allem, die von Nürnberg aus der Nachkriegsordnung zur präzisierenden Ausgestaltung überantwortet wurden:

1. die Definition der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bzw. Menschenrechtsverbrechen, die unabhängig von Kriegssituationen zu sanktionieren sind.

2. die Anwendung des Prinzips der individuellen Verantwortlichkeit auf diesen Bereich. Zur Frage einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit gehört auch die Frage der Verfolgungspflicht, im nationalen Strafrecht als „Legalitätsprinzip“ bekannt.

3. die Entwicklung von Instanzen, die diese Sanktionen in unabhängiger und rechtlich allgemeingültiger Form verhängen und durchsetzen könnten, wenn die jeweiligen nationalen Rechtssysteme vor dieser Aufgabe versagten. Eine internationale Strafgerichtsbarkeit müßte dazu zumindest als ultima ratio gehören.

Die Definition der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“

Den ersten Punkt ging man vergleichsweise zügig an. Die amerikanische Besatzungsmacht in Deutschland selbst unterschied bereits bei den sogenannten „Nürnberger Nachfolgeprozessen“, die sie in eigener Verantwortung gegen wichtige NS-Tätergruppen durchführte, etwas deutlicher die Verbrechen gegen die Menschlichkeit von den Kriegsverbrechen. Der ominöse Hinweis des Art. 6 (c) des Nürnberger Statuts entfiel im entsprechenden Artikel II des Kontrollratsgesetzes Nr.10, der juristischen Grundlage für diese 12 Prozesse gegen insgesamt 177 Angeklagte. Unter den zu verfolgenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurde nunmehr auch Folter und Vergewaltigung expressis verbis aufgeführt. Und obgleich z.B. auch im Prozeß gegen eine relativ kriegsferne Tätergruppe, die Juristen, die Anklage gleichermaßen auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit lautete, nahm doch die Darstellung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine größere eigenständige Rolle in der Anklage ein als im Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher. Zur rechtlichen Begründung der Anklage der von den Juristen begangenen Verbrechen stützte sich Telford Taylor nicht nur auf die Haager Landkriegsordnung, also das Kriegsrecht, sondern auch „auf die allgemeinen Grundsätze des Strafrechts, wie sie aus den Strafgesetzen aller Kulturnationen hervorgehen¼“,11 legte also eine gewohnheitsrechtliche Wirksamkeit grundlegender rechtsstaatlicher Normen zugrunde, die auch durch keinen staatlichen Hoheitsträger ungestraft verletzt werden dürften.

Die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte am 10. Dezember 1948 durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen, der fast gleichzeitige Beschluß über eine Konvention gegen den Völkermord, die beiden großen Menschenrechtspakte von 1966, eine Vielzahl weiterer völkerrechtlicher Abkommen und nicht zuletzt die beharrliche Arbeit der UN-Völkerrechtskommission schufen durch eine immer klarere Definition der Menschenrechtsverbrechen eine wichtige Grundlage auch dafür, daß heute die Strafbarkeit schwerer Menschenrechtsverbrechen, wie Christian Tomuschat in seinem Beitrag zu diesem Band anmerkt, „eher zu den Selbstverständlichkeiten“ zählt – zumindest in der Doktrin. Tomuschat und Theo van Boven gehen in ihren Beiträgen näher auf diese Entwicklungen ein.

Die Umsetzung der in internationalen Abkommen getroffenen menschenrechtlichen Normierungen in allen Bereichen auch der nationalen Rechtsordnungen ist freilich ein noch lange nicht abgeschlossener Prozeß. Nach dem Erlaß der „Nürnberger Rassegesetze“ von 1935 war es für andere Staaten noch selbstverständlich, dieses „deutsche Recht“ für deutsche Staatsangehörige auch auf ihrem Territorium zu vollziehen: „Mischehen“ Deutscher wurden z.B. auch in Holland nicht vollzogen. Gerade im Zivilrecht werden auch heute die entsprechenden Normen noch allzuoft ohne Überprüfung ihrer Übereinstimmung mit den Menschenrechten angewandt.

Individuelle Verantwortlichkeit und Verfolgungspflicht

Auch in der Festigung der Doktrin von der individuellen Verantwortlichkeit für schwere Verletzungen der Menschenrechte wurden rasch erste Fortschritte erzielt. Schon 1948 hieß es, in einer prägnanten Zusammenfassung des im Nürnberger Statut (Art. 7 und 8) vorgezeichneten neuen Rechtsbegriffs von der individuellen Verantwortlichkeit für Völkerrechtsverletzungen, in der „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“: „Personen, die Völkermord [¼] begehen, sind zu bestrafen, gleichviel ob sie regierende Personen, öffentliche Beamte oder private Einzelpersonen sind.“ Ähnliche Bestimmungen trafen ein Jahr später die „Genfer Konventionen“, mit denen das alte Kriegsvölkerrecht der Haager Landkriegskonvention in vielen Punkten präzisiert wurde. In beiden Vertragswerken korrespondiert der individuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeit logischerweise auch eine Verfolgungspflicht. In den folgenden Jahrzehnten fanden diese beiden Prinzipien Eingang in eine ganze Reihe weiterer spezifischer Abkommen zum Menschenrechtsschutz.12

Die beiden großen Menschenrechtspakte von 1966 enthalten zwar keine expliziten Aussagen zur strafrechtlichen Verfolgung von Verletzungen der in ihnen niedergelegten Rechte. Gleichwohl sprechen sie von der Pflicht der Staaten, diese Rechte zu achten und zu gewährleisten und „die gesetzgeberischen oder sonstigen Vorkehrungen zu treffen, die notwendig sind, um den in diesem Pakt anerkannten Rechten Wirksamkeit zu verleihen¼“13, was nach einer plausiblen Rechtsmeinung die Pflicht zur strafrechtlichen Verfolgung von Verstößen einschließt.

Nationale und internationale Strafgerichtsbarkeit

Im Grundsatz scheint somit die individuelle Verantwortlichkeit für schwere Menschenrechtsverletzungen und die daraus folgende grundsätzliche Pflicht zur Bestrafung solcher Täter inzwischen weitgehend akzeptiert zu sein. Keineswegs geklärt ist damit jedoch, und dies ist einer der Gründe, warum es in der Praxis noch sehr selten zu entsprechenden Verfahren kommt, wer für die Durchführung zuständig ist. Im Prinzip stehen drei Wege offen:

a) Die jeweiligen nationalen Gerichtsbarkeiten:

Jeder Staat ist für die Überwachung der Menschenrechte und die Bestrafung ihrer Verletzungen auf seinem Gebiet zuständig. Da Menschenrechtsverletzungen aber per definitionem von Regierungen oder mindestens regierungsähnlichen Körperschaften begangen werden, ist die mangelnde Wirksamkeit diesem Prinzip gewissermaßen eingebaut. Die Justiz der einzelnen Staaten kann nur da erfolgreich tätig werden, wo Staatsfunktionäre auf eigene Verantwortung Menschenrechte verletzen und damit zugleich der Regierungspolitik zuwiderhandeln. Wo aber Menschenrechtsverletzungen selbst, ausgesprochen oder unausgesprochen, zum Rahmen staatlichen Handelns gehören, kann das nationale Rechtssystem in aller Regel nicht greifen. Denn systematische Menschenrechtsverletzungen gehen meist Hand in Hand mit der Einschränkung oder faktischen Abschaffung der Unabhängigkeit der Justiz bzw. der Mißachtung ihrer Urteile durch die Exekutive.

Die Ereignisse nach 1933 in Deutschland zeigten, daß der Justiz diese Beseitigung ihrer Unabhängigkeit keineswegs nur von außen aufgezwungen werden muß, sondern unter entsprechenden politischen Voraussetzungen auch aus ihr selbst heraus starke Kräfte erwachsen können, die zu einer freiwilligen Unterwerfung unter die politische Macht und zur ideologischen Rechtfertigung der „Ermächtigung“ der Exekutive und der entsprechenden „Entmächtigung“ nicht nur der Legislative, sondern eben auch der Justiz führen. „Wir schwören beim ewigen Herrgott, wir schwören bei dem Geiste unserer Toten, wir schwören bei all denen, die das Opfer einer volksfremden Justiz einmal geworden sind, wir schwören bei der Seele des deutschen Volkes, daß wir unserem Führer auf seinem Wege als deutsche Juristen folgen wollen bis zum Ende unserer Tage.“ Dieser gespenstische „Rütlischwur“ der „deutschen Richter“ wurde 1933 in der „Deutschen Richterzeitung“, dem offiziellen Organ des Deutschen Richterbundes veröffentlicht.14

Solche totale Unterwerfung unter ein totalitäres Regime ist die Ausnahme geblieben. Doch auch da, wo sich unter diktatorischen und autoritären Regimen die Justiz nicht förmlich unterworfen hat, oder auch unter veränderten politischen Verhältnissen nach dem Ende einer Periode der Diktatur versagt sie in aller Regel in ihrer Aufgabe, auch und gerade staatliches Unrecht zu ahnden.15 Die Erfahrung in zahlreichen Ländern der Welt hat dafür in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe von Mechanismen als Ursache ausgemacht, die zusammen das Syndrom der „Straflosigkeit“ von Menschenrechtsverbrechen ausmachen, das inzwischen als wesentliches Hindernis bei der Durchsetzung besserer Standards des Menschenrechtsschutzes weltweit erkannt worden ist. Lateinamerika hat dabei eine Vorreiterrolle gespielt.16

Zum Teil werden die Mechanismen der Straflosigkeit der Justiz vorgegeben: Amnestien für Menschenrechtsverbrechen und Begnadigungen der Täter sind weitverbreitete Maßnahmen, die aber vom Gesetzgeber bzw. dem Staatsoberhaupt getroffen werden. Inwieweit die Justiz verpflichtet oder überhaupt berechtigt ist, solche Amnestien und Begnadigungen als geltendes Recht anzuwenden, ist eine Frage, die in den letzten Jahren heftig diskutiert worden ist. In der Tat gibt es inzwischen zahlreiche Bestimmungen im Völkerrecht, die die Annahme einer Rechtsunwirksamkeit solcher willkürlicher Straffreistellungen auch schwerster Menschenrechtskriminalität begründen.17 Die Beiträge in diesem Band von Federico Andreu, Fabiola Letelier und Rainer Huhle gehen näher auf diese Problematik anhand von Beispielen aus Lateinamerika ein.

Direkter mit der Verfassung des Justizwesens selbst ist ein weiterer wichtiger Mechanismus der Straflosigkeit verbunden: die angemaßte Zuständigkeit des militärischen Standesrechts für sämtliche Taten und Untaten von Angehörigen der Streitkräfte und der Polizei. Diese sogenannte Militärgerichtsbarkeit sorgt vor allem in den Staaten Lateinamerikas dafür, daß politischer Mord, Folter und „Verschwindenlassen“, wenn überhaupt, dann nicht nach den Maßstäben des Strafgesetzes, sondern nach den Regeln des Militärgesetzbuchs verhandelt und bestraft werden, die sich statt an Menschenrechten an militärischer Disziplin orientieren. Meist sind es Oberste Richter, die über die Zuständigkeiten der jeweiligen Gerichtsbarkeit entscheiden.18 Schließlich liegen in der ordentlichen Gerichtsbarkeit selbst eine Reihe von Ursachen für faktische Straflosigkeit, die vor allem mit Korruption und mangelnder Effizienz und Transparenz der Verfahren zu tun haben.

b) Die Justiz anderer Mitgliedsstaaten der UNO:

Wo die eigentlich zum Handeln verpflichteten Gerichte eines Staates versagen, können nach dem sogenannten „Weltrechtsprinzip“ in bestimmten Fällen, zu denen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zählen, die Gerichte anderer Staaten tätig werden. Einige internationale Verträge und Abkommen machen daraus sogar eine weltweite Pflicht der Einzelstaaten, entsprechende Täter dingfest zu machen und entweder selbst zu verurteilen oder auszuliefern. Die markantesten Beispiele sind die Genfer Konventionen und in jüngerer Zeit das Übereinkommen gegen Folter, das in vieler Hinsicht den fortschrittlichsten Stand des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes darstellt.19 In der Praxis des Menschenrechtsschutzes allerdings hat das Weltrechtsprinzip bis vor kurzem keine große Rolle gespielt. Durch die Fachliteratur zieht sich seit vielen Jahren als nahezu einziger Fall der des paraguayischen Folteropfers Joelito Filartiga, dessen Verwandte 1980 vor einem US-amerikanischen Gericht erfolgreich den verantwortlichen paraguayischen Polizeioffizier, der zu diesem Zeitpunkt in den USA lebte, verklagten. Zwar handelte es sich um einen Zivilprozeß, keinen Strafprozeß, dennoch erregte das Urteil Aufsehen, vor allem deswegen, weil es die Folter – Jahre vor der Verabschiedung des „Übereinkommens gegen die Folter“ durch die UNO – als eindeutigen Verstoß gegen das Völkerrecht bezeichnete und den Folterer daher in die Kategorie des „hostis humani generis“, des Feinds der ganzen Menschheit einordnete. Auf diese altehrwürdige Völkerrechtsregel, wonach solche Feinde der Menschheit in jedem Land der Welt abgeurteilt werden können, das ihrer habhaft ist, begründete das amerikanische Gericht seine Zuständigkeit in diesem Streitfall zwischen zwei Ausländern.20 Auf der gleichen Grundlage, und unter Berufung auf die Charta der Vereinten Nationen, wurde in den USA 1992 der „Torture Victim Protection Act“ verabschiedet, der immerhin zur Folge hat, daß kein Folterer in den USA ganz sicher sein kann. Wenn seine Opfer von einem Aufenthalt in den USA erfahren, können sie ihn dort verklagen.21

Das Weltrechtsprinzip hat im Völkerrecht in der Tat eine bis auf seine Anfänge zurückreichende Tradition,22 die allerdings wegen ihres potentiellen Konflikts mit dem grundlegenden Prinzip des klassischen Völkerrechts, der Souveränität der Staaten, immer umstritten und in der Praxis auf einige wenige spezifische Delikte (besonders die Piraterie) beschränkt war, die sich vorzugsweise außerhalb des Hoheitsgebiets aller Staaten abspielten, so daß sich die Frage der Verletzung der Souveränität anderer Staaten kaum oder gar nicht stellte. Immerhin zeigte die Verurteilung von Piraterie und anderen Delikten, die von fremden Staatsbürgern begangen wurden, daß im Prinzip die Idee einer universellen Gerichtsbarkeit bzw. des Weltrechtsprinzips immer im Völkerrecht vorhanden war. Daß sie in der Praxis dem Souveränitätsprinzip völlig untergeordnet blieb, hängt mit dem Mangel an überstaatlichen Rechts- bzw. Vollzugsinstanzen zusammen, die fast zwangsläufig auftretende Streitfälle hätten schlichten können.

Diesen Mangel teilt das Weltrechtsprinzip indes mit allen anderen Möglichkeiten internationaler bzw. staatenübergreifender Rechtsprechung. So ist es keineswegs verwunderlich, sondern folgerichtig, daß das Weltrechtsprinzip genau in dem Moment wieder an Bedeutung zu gewinnen scheint, in dem es im Grunde durch ein anderes Instrument, nämlich einen neuen internationalen Strafgerichtshof ersetzt werden könnte. Das Statut des Jugoslawiengerichtshofs in Den Haag hat ebenso wie das des Ruanda-Gerichtshofs „konkurrierende Zuständigkeit“ gegenüber den Justizbehörden anderer Staaten erhalten, wobei es auf Antrag Vorrang geltend machen kann.23 Wie der Fall des in Deutschland festgenommen und später nach Den Haag ausgelieferten vermutlichen Folterers und Mörders Dusko Tadic exemplarisch zeigte, können sich beide Ebenen der Strafverfolgung gegenseitig ergänzen.24 Dies betonte auch Richard Goldstone während der Diskussion auf der Nürnberger Tagung. Auf lange Sicht ist die Existenz eines internationalen Strafgerichtshofs für Verbrechen gegen die Menschlichkeit eher ein Stimulans denn ein Hindernis für einzelstaatliche Verfolgung von schweren Menschenrechtsverbrechen, unabhängig vom Ort ihres Geschehens und der Nationalität der Täter.

c) Internationale Strafgerichtshöfe:

Bekanntlich gab es während der ganzen Jahre zwischen dem Nürnberger Militärgerichtshof und dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien keinen weiteren internationalen Strafgerichtshof, vor dem Menschenrechtsverbrecher verurteilt worden wären. Auch die NS-Verbrecher wurden nach Ende – und auch bereits während – des Nürnberger Prozesses von nationalen Gerichten verschiedener Staaten abgeurteilt. Da dies notwendig auf Grundlage des jeweiligen nationalen Strafrechts geschah, geriet die in Nürnberg immerhin im Keim erkennbare Idee vom universellen Charakter des „Verbrechens gegen die Menschheit“ in den Hintergrund.

Am schärfsten wurde das im bedeutendsten aller Nachfolgeprozesse des Nürnberger Prozesses deutlich, in dem Verfahren, das am 11. April 1961, knapp 15 Jahre nach dem Nürnberger Urteil, in Jerusalem gegen Adolf Eichmann eröffnet wurde. Die Anklageschrift warf Eichmann zum einen „Verbrechen gegen das jüdische Volk“, zum andern aber „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vor. Damit wollte das Gericht keineswegs zwischen Juden und anderen Menschen, sondern verschiedene Gesichtspunkte der gleichen Taten unterscheiden.25 Während es bei den Anklagen wegen „Verbrechen gegen das jüdische Volk“ um die Mordtaten als solche ging, wurden Eichmann in der Anklageschrift die gleichen Taten nochmals als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ vorgehalten, da er die „Juden aus nationalen, rassischen, religiösen und politischen Gründen“ verfolgt habe. Aus der jüdischen Geschichte und der Bedeutung, die die Gründung des Staats Israel darin hat, läßt sich diese juristisch reichlich merkwürdige Doppelung erklären.26 Befriedigend war sie aus einer Sicht, die die Prinzipien von Nürnberg verallgemeinern, nicht nur in spezifischen Fällen angewendet sehen wollte, gleichwohl nicht. Der damalige Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Nahum Goldmann, forderte Israel auf, ein international besetztes Gericht über Eichmann einzusetzen.

Einen Schritt weiter noch ging Karl Jaspers, der in einer damals utopisch anmutenden Überlegung dem Jerusalemer Gericht zur Frage der Verbrechen an den Juden bzw. an der Menschheit folgende Erklärung vorschlug: „Das Verbrechen gegen die Juden ist zugleich ein Verbrechen gegen die Menschheit. Das Urteil darüber kann daher nur eine Instanz vertreten, die die Menschheit vertritt.“27 Im Gegensatz zu anderen Kommentatoren, die sich ebenfalls für ein internationales Gericht aussprachen, war Jaspers‘ Argumentation nicht darauf gerichtet, die Legitimität des Jerusalemer Gerichts infragezustellen, sondern darauf, eine, wie ihm schien, einmalige Chance nicht vorüberziehen zu lassen, der ganzen Welt den unerhörten, alle Dimensionen bisheriger Kriminalität sprengenden Charakter der NS-Verbrechen deutlich zu machen. Deshalb ließ er das Gericht, in seiner Phantasie, wie er selbst sagte, weiter erklären: „Wir verzichten auf dieses Urteil, aber wir beschwören die Menschheit, daß sie die Taten, die dieser Mann begangen hat, zu ihrer Sache macht. Sie gehen nicht nur die Juden an, sondern alle, weil in den Juden die Menschheit selber getroffen worden ist.“ Jaspers versuchte mit seinem Vorschlag, die apokalyptische Dimension der Verbrechen der Eichmanns deutlich zu machen und ihr einen angemessenen Ort der Verhandlung zu sichern. „Daß [¼] die Menschheit selber hervortritt und ihre eigene Bedrohung erkennt, das scheint mir entscheidend wichtig.“ Auch Jaspers betonte noch einmal den Unterschied zwischen den Vernichtungsverbrechen der Nazis und gewöhnlichen Kriegsverbrechen.

Es ging dabei nicht in erster Linie um die riesige Zahl der Opfer, sondern um die neue Qualität der Verbrechen, „ein völlig anderes Prinzip, das hier in die Welt getreten ist.“ In aller Schärfe brachte Hannah Arendt dieses Argument, das ja ihrem ganzen Eichmann-Buch als bohrende Frage zugrunde lag, auf den Punkt, wenn sie forderte, daß „diese neuen Massenmörder vor Gericht gestellt werden [müssen], weil sie die Ordnung der Menschheit verletzt haben und nicht weil sie Millionen von Menschen getötet haben.“28 Seinen Vorschlag verstand Jaspers daher als Versuch, “der UNO und der Weltmeinung eine außerordentliche Verlegenheit“ zu bereiten, „heilsame Unruhe“ zu stiften. An dem internationalen Gericht war für ihn nicht in erster Linie die juristische Funktion, das Urteil, wichtig, sondern die moralische, der Appell, sich nicht mit Verbrechen gegen die Menschheit abzufinden.

Aus einer solchen Sicht ist klar, daß ein internationaler Gerichtshof nur ein Element einer neuen Weltordnung sein könnte, die in der Nachkriegszeit unter dem doppelten Schock der Naziverbrechen und der Atombombe von vielen für eine realistische Perspektive gehalten wurde, ehe der Kalte Krieg sie begrub. Wenn es einen historischen Moment gab, die schon irreal gewordene Idee eines solchen Gerichtshofs der Menschheit auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs noch einmal zu beschwören, dann war es sicherlich der Eichmannprozeß. Als aber auch die Regierung Israels das von ihr erhoffte Zeichen nicht setzen wollte, sondern den Eichmannprozeß lieber mit der Vollstreckung des Todesurteils beendete, wurde es still um die Idee des Internationalen Strafgerichtshofs, der endgültig in das Reich der Utopie zu entschweben schien, obgleich er doch in mehreren völkerrechtlichen Abkommen als konkrete Perspektive festgeschrieben war.29

Offensichtlich aber sind die Idee und die Bemühungen um einen solchen Gerichtshof nicht völlig aus dem Bewußtsein verschwunden gewesen. Sonst wäre kaum zu erklären, wieso es 1993 in kürzester Zeit zu dem Beschluß des Sicherheitsrats kommen konnte, der den Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien einsetzte. In Situationen, in denen die nationalen Gerichtsbarkeiten offensichtlich nicht in der Lage waren, staatliches Unrecht auch nur annähernd zu ahnden, wurde immer wieder der Ruf nach internationalen Instrumenten laut. In der UNO wurden Konventionen und Abkommen unterzeichnet, Kommissionen und Subkommissionen eingerichtet, Berichterstatter entsandt und Rügen erteilt. In der Konsequenz aber muß ein solches internationales System des Menschenrechtsschutzes letztlich auf eine wirkliche rechtsprechende Instanz zulaufen, in der Täter angeklagt und gegebenenfalls verurteilt werden, nicht lediglich Regierungen sich gegenseitig diplomatische Vorhaltungen machen. Wenn, wie Theo van Boven in seinem Beitrag in diesem Band betont, das Individuum neben den Staaten zum völkerrechtlichen Subjekt geworden ist,30 dann ist die internationale Sanktion von Straftaten gegen die Menschenrechte durch ein internationales Gericht eine unabweisbare Notwendigkeit geworden.

Mit der Errichtung der beiden Gerichtshöfe zu Ex-Jugoslawien und Ruanda ist nun ein erster Schritt dazu konkret unternommen worden, und zwar gewissermaßen durch die Hintertür: Daß ein internationaler Strafgerichtshof vom Exekutivorgan der UNO, dem Weltsicherheitsrat, statt auf dem normalen Weg eines völkerrechtlichen Vertrags geschaffen würde, und daß als Begründung für seine Errichtung nicht die Notwendigkeit von Gerechtigkeit, sondern die Wiederherstellung des Friedens gegeben würde, war ebenso überraschend wie ungewöhnlich. Zwar befanden die Völkerrechtler diesen Weg überwiegend doch für gangbar, zumal das Statut die Unabhängigkeit der Gerichte ohne Einschränkung garantierte. Dennoch blieb die Öffentlichkeit skeptisch angesichts dieser häufig mit dem relativierenden Zusatz „Ad-hoc“ versehenen Gerichte.31 Allzu beschränkt schien der Handlungsrahmen des neuen Gerichts, dem ja keine Polizei zuarbeitete. Weder in Bosnien noch in Ruanda betrachteten es die UNO-Truppen als ihre Aufgabe, Kriegs- oder Menschenrechtsverbrecher festzunehmen, eine Haltung, die nach dem Dayton-Abkommen auch die in Ex-Jugoslawien stationierten Nato-Truppen übernahmen. Blieb ein solches Gericht nicht von den im Sicherheitsrat vertretenen politischen Mächten abhängig, die ja zugleich als politische Akteure auf den beiden Schauplätzen, dem ehemaligen Jugoslawien und Ruanda, keineswegs bewiesen, daß Friedenssicherung und die Herstellung von Gerechtigkeit ihre obersten Prinzipien sind? Erinnerungen an den Kontrast zwischen den hochtönenden Worten der Anklage in Nürnberg und späteren Verhaltensweisen der Siegermächte wurden vor allem in der „Dritten Welt“ wach, wo die Befürchtung umgeht, daß ein internationaler Gerichtshof zu einem Repressionsinstrument einer „Neuen Weltordnung“ unter der Hegemonie der Supermächte werden könnte.32 Was der stellvertretende amerikanische Ankläger im Nürnberger Prozeß und spätere Chefankläger der Nürnberger Nachfolgeprozesse, Telford Taylor, einst vom Nürnberger Prozeß sagte – „Wenn nicht die USA und die anderen Regierungen, die an den Nürnberger Prozessen teilgenommen haben, ernsthaft das Institut einer internationalen Strafgerichtsbarkeit begründen und andere Schritte einleiten, die Nürnberger Grundsätze durch Prävention oder Strafe durchzusetzen, so werden die Deutschen unweigerlich folgern, Nürnberg war “˜for Germans only‘“33 – nahm auch in bezug auf die USA die reale politische Entwicklung vorweg. Taylor selbst hat später mehrfach unter Bezug auf die Nürnberger Prinzipien die US-Politik in Vietnam kritisiert.34 Vom einstigen Hauch des Weltgewissens, wie er Nürnberg umwehte und wie ihn noch einmal Karl Jaspers anläßlich des Eichmannprozesses beschworen hatte, war und ist in Den Haag und Arusha wenig zu spüren.

Und doch ist die Bilanz des Jugoslawiengerichtshofs – der Leiter der Anklagebehörde, Richard Goldstone, zieht sie in diesem Band – nach drei Jahren Arbeit besser als 1993 zu erwarten war. Wie auch sein Beitrag deutlich macht, war er sich der begrenzten Möglichkeiten seines Amtes und überhaupt des Gerichtshofs immer bewußt, zugleich aber entschlossen, die gegebenen Möglichkeiten voll zu nutzen, ohne sich politisch unter Druck setzen zu lassen.35 Denn das Statut, das die Befugnisse des Gerichts definiert, ist eine durchaus konsistente Arbeitsgrundlage für das Gericht, in der die Prinzipien von Nürnberg, auf die es ausdrücklich Bezug nimmt, mit Hilfe der seitherigen Normierung vieler Tatbestände des Völkerstrafrechts zeitgemäß reformuliert werden. In vieler Hinsicht setzt dieses Statut eines „Ad-Hoc“-Gerichtshofs Maßstäbe, die auch vor einem eventuellen ständigen Strafgerichtshof der Vereinten Nationen Bestand haben werden. Die von kaum jemandem bezweifelte Unabhängigkeit und Sorgfalt der Anklagebehörde bei der Formulierung ihrer Anklagen hat dem Gerichtshof ein moralisches Gewicht verliehen, das es inzwischen zu einem Faktor gemacht hat, der auch politisch nicht mehr zu unterschätzen ist.

Dennoch, vor den in Nürnberg formulierten Ansprüchen und den an Nürnberg gerichteten Hoffnungen ist der gemachte Schritt klein. Zwar gibt es, begleitet und angefeuert von amnesty international und allen anderen unabhängigen Menschenrechtsorganisationen, inzwischen im Rahmen der UNO verstärkte Bemühungen, den seit 50 Jahren proklamierten ständigen internationalen Strafgerichtshof auf den Weg zu bringen. Im April 1996 beendete das Vorbereitungskomitee für die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofs seine erste Sitzungsperiode, bei der es sich vor allem mit dem Entwurf der UNO-Völkerrechtskommission für einen solchen Gerichtshof beschäftigte, der seit 1994 vorliegt (s. den Beitrag von Christian Tomuschat in diesem Band). Das Vorbereitungskomitee soll seinen abschließenden Bericht im Herbst 1996 der 51. Generalversammlung der Vereinten Nationen vorlegen. Doch noch ist nicht abzusehen, ob und wann es tatsächlich zu diesem Gerichtshof kommt.36 In jedem Fall dürften seine Kompetenzen geringer ausfallen als die der beiden existierenden Ad-Hoc-Gerichtshöfe in ihrem begrenzten Zuständigkeitsbereich.37

Ebenso wichtig wie der Fortschritt an den Arbeiten innerhalb der UNO ist aber die gewandelte Einstellung in vielen Teilen der Welt gegenüber einem solchen Gerichtshof. Während in Nürnberg nach dem Zweiten Weltkrieg die Vision einer neuen friedlichen Weltordnung unter dem Zeichen des Rechts beschworen wurde, gab es gleichzeitig am anderen Ende der Welt, in dem parallel in Tokio stattfindenden Verfahren gegen die japanischen Kriegsverbrecher, auch sehr skeptische Stimmen. „Um das Element des Verbrechens in das internationale Leben einzuführen, müßte eine internationale Gemeinschaft existieren, die unter die Herrschaft des Rechts gebracht würde. Doch gibt es eine solche Gemeinschaft bisher nicht. [¼] Das moderne Völkerrecht ist entwickelt worden als Mittel, außenpolitische Kontakte zu stabilisieren, und weniger als Lebensäußerung einer echten Gesellschaft.“ Der Glaube an die Möglichkeit eines Universalrechts, fügte der indische Richter Pal in seinem Minderheitenvotum zum Tokioer Urteil hinzu, sei ein „Aberglauben des 18. Jahrhunderts“, der den verblassenden christlichen Katechismus ersetzen solle.38

Der trockene Einwand ist, unabhängig von seinem damaligen Begründungszusammenhang,39 auch heute wichtig, verweist er doch auf die Rahmenbedingungen, ohne die ein internationaler Gerichtshof nur schwer sinnvolle Arbeit leisten können wird. Ein Gerichtshof, der vor allem Täter abzuurteilen hat, die ihre Verbrechen im Auftrag von Mitgliedsstaaten der UNO begingen, wird in einer Völkergemeinschaft, die immer noch fast ausschließlich eine Staatengemeinschaft ist, immer auf der Suche nach Legitimation und Stützung von außerhalb der Staaten sein müssen. Letztlich verlangt eine unabhängige internationale Gerichtsbarkeit, wenn nicht eine wirkliche Weltbürgerschaft, so doch ein stetig wachsendes Bewußtsein von den Rechten und Pflichten aller Bürger der Welt. Als Paradox von der „universellen Staatsbürgerschaft“ war dies bereits in der Französischen Revolution formuliert und eine kurze Zeitspanne immerhin in seiner Widersprüchlichkeit ausgehalten worden. „Die Verbürgung der Menschen- und Bürgerrechte erfordert eine öffentliche Macht,“ stellte die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ 1789 fest. Sehr schnell stellte sich heraus, daß Menschen- und Bürgerrechte nicht notwendigerweise zusammenfallen. Die Frage nach der öffentlichen Macht, die als Garant der Menschenrechte auftritt, wenn diese als Bürgerrechte nichts wert sind, ist noch immer ungelöst.

Nach wie vor gibt es keine internationale Ordnung, die der einer rechtsstaatlichen Ordnung auf nationaler Ebene auch nur annähernd gleichkäme. Der internationale Strafgerichtshof könnte ein Teil einer solchen Ordnung sein, und gerade darin liegt der eigentliche Grund für die Hoffnungen, die man an ihn richtet. Aus dem gleichen Grund aber wird deutlich werden, daß er allein nicht genügt. In dem Maß jedoch, in dem er als eine reale Möglichkeit, als ein machbarer Schritt begriffen wird, ändern sich auch seine Rahmenbedingungen. Die Erwartungen, die sich an den Gerichtshof richten, werden notwendigerweise auch zu Erwartungen an die „Legislative“ und die „Exekutive“ der Staatengemeinschaft. Nur im Rahmen einer Reform der UNO, zu der seine Konstituierung selbst einen entscheidenden Beitrag leisten kann, wird ein internationaler Strafgerichtshof letztlich sowohl die Unabhängigkeit als auch die Durchsetzungsfähigkeit erhalten können, die er benötigt, will er den heute schon erkennbaren Erwartungen in ihn gerecht werden.

III. Menschenrechtsschutz durch Strafrecht: Zum Problem der politischen und gesellschaftlichen Funktion der Strafe im Zusammenhang mit dem Schutz der Menschenrechte

Rache, Recht und Rehabilitation

„Gerechtigkeit ist ein Menschenrecht“, begann der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, José Ayala Lasso, seine – in diesem Band wiedergegebene – Ansprache vor der Nürnberger Konferenz „Menschenrechtsverbrechen vor Gericht“. Ähnlich äußerte sich der Ankläger von Den Haag, Richard Goldstone: „Gerechtigkeit ist nicht nur eine Frage der Bestrafung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen. Es ist auch eine Frage der Anerkennung der Leiden der Opfer. Und für die Betroffenen ist das in vielen Fällen ein wesentlicher Bestandteil des Heilungsprozesses.“40

Was hier von zwei offiziellen, an entscheidenden Stellen tätigen Repräsentanten des UN-Systems zum Menschenrechtsschutz formuliert wurde, trifft den Kern einer Debatte um das Problem der „Straflosigkeit“ von Menschenrechtsverletzungen, die seit vielen Jahren von Nichtregierungsorganisationen im Bereich der Menschenrechtsarbeit intensiv geführt wird. Noch sind solche Stellungnahmen freilich nicht die Regel.

Wer nach Strafe für schwere Menschenrechtsverbrechen verlangt, stößt noch immer allzu oft auf die Frage, ob er oder sie nicht zur Vergebung und Versöhnung fähig sei. Der Verdacht, es gehe nicht um Recht, sondern um Rache, ein hartnäckiger Topos im Diskurs schon derer, die dem Nürnberger Prozeß die Legitimität bestritten, wird mehr oder weniger unverblümt bis heute gegenüber den Opfern von Diktaturen in aller Welt geäußert. Wer aber meint, den Verzicht auf Rache mit der Verweigerung des Rechts erreichen zu können, weigert sich, den wirklichen menschheitsgeschichtlichen und rechtshistorischen Zusammenhang von Rache und Recht zu sehen. Die Entwicklung eines differenzierten arbeitsteiligen Rechtssystems trat an die Stelle der Rache, nahm ihr die für beide Beteiligten zerstörerischen Folgen und bot stattdessen eine gesellschaftlich bzw. staatlich sanktionierte Gerechtigkeit an. Wo die Justiz dies jedoch in eklatanter Weise nicht tut, ist die Rückkehr zur Ausübung von Rache nicht nur naheliegend, ihr ist die Legitimität auch schwer abzusprechen. Dennoch sind die Fälle, in denen Opfer von Folter oder die Überlebenden von Massakern tatsächlich Rache geübt haben, extrem selten und stehen in keinem Verhältnis zu der ständigen Beschwörung diesen Opfern gegenüber, doch auf Rache zu verzichten.41

Hannah Arendt erinnerte an zwei Fälle aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, in denen der Zusammenhang zwischen einer Tat der individuellen Rache und der vollständigen Verweigerung von Gerechtigkeit für staatlich sanktionierte „Makroverbrechen“ besonders deutlich wurde. In beiden Fällen wurden die Attentäter, ein Jude und ein Armenier, die sich beide freiwillig der Justiz stellten, vor Gericht freigesprochen. Der Mord an einem einzelnen Schuldigen war für sie die einzige Möglichkeit, den hunderttausendfachen Mord an Unschuldigen vor ein Gericht zu bringen, denn für die Massaker an den ukrainischen Juden und an den Armeniern gab es kein Gericht, das sich für zuständig betrachtete.42 Beide Taten waren daher zwar Akte der Selbstjustiz, aber im Grund keine Racheakte, sondern Versuche, ein Zeichen für Gerechtigkeit zu setzen in einer Situation, in der die dafür zuständigen Instanzen eklatant versagten, und damit zugleich die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten.43

Niemand hat das zivilisatorische Racheverbot tiefer internalisiert als die Opfer, die am meisten Grund hätten, es zu übertreten. Alle Dokumente der vor allem in Lateinamerika zahlreichen Selbstorganisationen von Angehörigen und Opfern bezeugen dies in oft eindringlichen Worten. Der Psychotherapeut David Becker, der viele Jahre in Chile Opfer der Folter und Familienangehörige von Ermordeten und „Verschwundenen“ behandelt hat, berichtet von einem Traum eines Patienten, in dem dieser sich als Beauftragter für die Verfolgung von Folterern sah. Die Rollen waren vertauscht, das Opfer sollte – im Traum – den Befehl zur Folter an den Folterknechten geben. Der Patient, dessen Folter bereits viele Jahre zurücklag, konnte nicht einmal im Traum diesen Rollentausch vollziehen. Er wachte auf und mußte sich übergeben.44 Wie auch Paz Rojas in ihrem Beitrag zu diesem Band zeigt, richten sich die durch die angetane Gewalt bei den Opfern und ihren Familien erzeugten Aggressionsgefühle meist gegen die eigene Person oder die eigenen Angehörigen und Freunde. Aus therapeutischer Sicht ist also nicht ein Zuviel an Rachegefühlen, sondern in aller Regel der aus Schuldgefühlen, anhaltender Angst oder Apathie erzeugte allzuschnelle Verzicht auf diese Gefühle das Problem: „Ohne Haß keine Versöhnung.“

Eindringlich hat bereits der jüdische Italiener Primo Levi, nachdem er Auschwitz entronnen war, diese fatalen Zusammenhänge von Selbstzerstörung und Rachegefühlen nach der „Versündigung“, wie er die ungeheuren Verbrechen der Nazis nannte, beschrieben. Sie (die Versündigung) „wuchert weiter auf tausend Arten, gegen den Willen aller, als Rachedurst, als moralisches Nachgeben, als Verleugnung, als Müdigkeit und als Verzicht.“45 Levi zählt hier Reaktionsweisen auf, die in Wirklichkeit viel häufiger als die Rache auftreten, und die deshalb auch das eigentliche Problem sind. Resignation und Verdrängung, so wird hier erkennbar, sind nur die falsche Kehrseite der Rache, weitere Spielarten kranker Reaktionen auf Unrecht, dem keine Gerechtigkeit folgt. Gerechtigkeit in einem den Verbrechen adäquaten Sinn hielt Levi angesichts der Unvorstellbarkeit der NS-Verbrechen zwar für unmöglich. Gleichwohl führte er seine Überlegungen an anderer Stelle mit den folgenden Worten fort:

„Beide (Opfer und Unterdrücker) sitzen in der selben Falle, aber es ist nur der Unterdrücker und nur er, der sie aufgestellt hat und zuschnappen läßt: wenn er daran leidet, ist es nur gerecht, daß er daran leidet, aber es ist ungerecht, daß auch das Opfer daran leiden muß, wie es gezwungenermaßen daran leidet, auch nach Jahrzehnten noch [¼] Wir wollen keine Verwirrung, keine billigen Freudismen, keine Morbiditäten und keine Nachsicht. Der Unterdrücker bleibt, was er ist, und das Opfer ebenfalls: Sie sind nicht austauschbar, der erstere muß bestraft werden, man muß Abscheu vor ihm empfinden (allerdings sollte man auch versuchen, ihn zu verstehen), der zweite ist zu bemitleiden, und ihm muß geholfen werden.“46

Geholfen werden kann dem Opfer, das ist das übereinstimmende Ergebnis der zahlreichen Erfahrungen der Opfertherapie in aller Welt, vor allem durch Gerechtigkeit. Und umgekehrt bedeutet, wie Paz Rojas in diesem Band feststellt, die Straflosigkeit der Täter für die Opfer die Fortsetzung der erlittenen Qualen. In den Worten der Hamburger Denkschrift „Nürnberg und die Folgen“: „“Es ist für die überlebenden Opfer eines Verbrechens (und für die Nachkommen der Ermordeten) von großer Bedeutung, wenn anerkannt wird, daß sie Opfer eines Verbrechens und nicht eines Unglücks, dem man den Namen Politik gegeben hat, geworden sind. [¼] Oft ist diese Anerkennung als Opfer eines Verbrechens und nicht eines Unglücks für die Art ihres Weiterlebens, manchmal für ihr Überleben von entscheidender Bedeutung.“47 Wenn sowohl Ayala Lasso als auch Goldstone in ihren Beiträgen zu diesem Band darauf verweisen, daß Gerechtigkeit nicht nur ein Menschenrecht ist, sondern auch ein unverzichtbares Element bei der Rehabilitation der Opfer, so liegt in dieser Wendung des Blicks auf die Opfer ein Fortschritt in der offiziellen Auseinandersetzung mit Menschenrechtsverletzungen, der es verdient, deutlich festgehalten zu werden.

Strafe und Abschreckung

Ob Strafe von Verbrechen abschreckt, ist ein Frage, die so alt ist wie die Rechtswissenschaft überhaupt. Die Antworten sind immer verschieden ausgefallen, und werden auch in Zukunft verschieden ausfallen, weil sie mindestens so sehr von Menschenbild und gesellschaftlicher Vision des Antwortenden wie von empirischen Erhebungen abhängen. Für Beccaria war Strafe das „fühlbare Motiv“, daß die Menschen, nachdem sie sich einmal unter den Gesetzen als den „Bedingungen, unter denen unabhängige und isolierte Menschen sich in Gesellschaft zusammenfanden,“ nicht wieder in den früheren „ständigen Zustand des Krieges“ zurückfallen und sich „von jenem universellen Prinzip der Auflösung [fernhalten], welches sich in der ganzen physischen und moralischen Welt beobachten läßt.“48 Menschen mit einem optimistischeren Menschenbild (darunter sogar Strafrechtler) kommen zu anderen Schlüssen. Wie auch immer, im Bereich der „Makrokriminalität“ staatlicher Repressionsorgane kennt die Geschichte so wenig Beispiele für Strafe im Sinne einer wirklich rechtsförmigen Sanktion, daß jeder Versuch, empirische Antworten zu liefern, ins Leere laufen muß.49 Auf nur emotional gespeiste Mutmaßungen sei andererseits hier verzichtet.

Doch gilt hier nicht der Umkehrschluß. Sehr wohl läßt sich mit sehr plausiblen Gründen dafür argumentieren, daß die Straffreiheit von Menschenrechtsverbrechen ein wesentliches Element in dem Ursachenkomplex darstellt, der zu ihrer ständigen Neuauflage in aller Welt führt.50 Die fehlende Abschreckung mag dabei durchaus eine Rolle spielen – hier wäre sehr stark nach Tätergruppen, Hierarchien etc. zu differenzieren -, ist aber nur ein Teil des Syndroms der Straffreiheit. Die ständig praktizierte Straffreiheit läßt nicht nur die Frage der Abschreckung ins Leere laufen, sie schafft darüber hinaus ein Klima, in dem das Bewußtsein von der Verwerflichkeit der begangenen Taten zerstört wird.

Die aufsehenerregenden Bekenntnisse einiger weniger ehemaliger Folterer und Mörder der Militärdiktatur, die 1995 die argentinische Öffentlichkeit erschütterten, sind hierfür ein beredtes Beispiel. Was diese Täter fast 20 Jahre nach den Verbrechen zum Reden brachte, war der Zusammenbruch ihres durch Straffreiheit und Corpsgeist abgesicherten Unschuldsbewußtseins. Das Gebäude aus ideologisch zurechtgebogenen Rechtfertigungsgründen für seine Teilnahme an „Flügen“, in denen Tausende von gefolterten Gefangenen ins Meer geworfen wurden, brach für Korvettenkapitän Adolfo Scilingo bezeichnenderweise nicht zusammen, als seine Vorgesetzten, die Generäle und Admiräle der Militärjuntas, verurteilt wurden, sondern erst in dem Moment, als sie ihre Begnadigung akzeptierten.51 Während diese Begnadigungen die Opfer und die Menschenrechtsorganisationen empörten, weil sie in ihnen zu Recht einen weiteren Akt der Verweigerung von Gerechtigkeit sahen, erkannte Scilingo das in ihnen versteckte Schuldeingeständnis und damit die Berechtigung der vorher ausgesprochenen Strafen. Erst damit brach für ihn die Idee zusammen, daß seine Taten legitime Akte in einem inneren Krieg gewesen seien.

Das Beispiel macht deutlich, daß ein Verfahren und ein Urteilsspruch auf die Täter, seien sie unmittelbar davon betroffen oder nicht, ganz andere Wirkungen als nur Abschreckung haben können, die mindestens ebenso gewichtig zu werten sind. Auf die naheliegende Frage, ob es denn des Urteils bzw. der Begnadigung bedurft habe, um ihm die Augen zu öffnen, wo doch unzählige Zeugnisse von Überlebenden vorlagen, wußte Scilingo keine Antwort. Gegen die Wahrheiten der Opfer schirmte sein ideologischer Panzer ihn ab, die öffentlich und verbindlich vom Gericht ausgesprochene, und dann sogar indirekt von seinen Vorgesetzten akzeptierte Wahrheit erreichte ihn. Ob Scilingos Bekenntnisse künftige potentielle Täter abschrecken, wissen wir nicht. Aber es kann keinen Zweifel daran geben, daß sie zu einem Klima beigetragen haben, das weniger als zuvor für die Entstehung und Herausbildung von Tätern geeignet ist. Als Folge der öffentlichen Debatte kam es in Argentinien 1995 erstmals zu offiziellen Schuldeingeständnissen der Armeeführung. Das „Nie Wieder!“ ist in den Sprachschatz auch des Oberbefehlshabers General Balza eingegangen. In einer feierlichen öffentlichen Erklärung hielt er außerdem fest, daß kein argentinischer Militärangehöriger sich künftig auf einen Befehl berufen könne, wenn er offensichtliche Menschenrechtsverletzungen begeht.

Nicht ganz so komplizierte, aber vergleichbare Wirkungen scheint auch das Nürnberger Urteil gehabt zu haben. Es zwang die Deutschen und die Welt, einer Wahrheit ins Auge zu sehen, die in ihren Grundzügen bekannt war. Sie wurde durch das Urteil nicht wahrer, genausowenig wie die Wahrheit über Auschwitz durch das Verbot der Auschwitz-Lüge wahrer wird, aber sie mußte unter verbindlicheren Umständen angenommen, oder unter Akzeptierung des erhöhten Risikos, sich außerhalb gesellschaftlich verbindlichen Konsenses zu stellen, abgelehnt werden. Das Wegsehen und Verdrängen war wesentlich schwerer geworden.

In einem politischen System, in dem Streitfälle letztlich nur vor Gericht zu entscheiden sind, erreicht die in einem Urteil ausgesprochene Wahrheit den höchsten Grad an Verbindlichkeit. Die Wahrheitsfindung auf dem Rechtsweg und die Feststellung der Wahrheit durch die Rechtsprechung als verbindlichster gesellschaftlicher Instanz sind nicht nur, wie gezeigt wurde und wie es die Beiträge von Paz Rojas, Fabiola Letelier, Ruth Weiss und Federico Andreu in diesem Band ausführen, für die Opfer von größter Bedeutung. Dan Bar-On, der in zahlreichen Arbeiten die Spätfolgen der NS-Verbrechen selbst noch für die Kinder und Enkel der Täter aufgezeigt hat (s. seinen Beitrag zu diesem Band), stieß immer wieder auf die enorme Schwierigkeit, die das Akzeptieren der tatsächlich begangenen Verbrechen ihrer Väter für die nachfolgende Generation hat. Auch für sie wie in einigen Fällen sogar für die Täter selbst ist eine klare, durch objektive Ermittlungen von Gerichten untermauerte öffentliche Darstellung der historischen Wahrheit von größter Bedeutung bei der Bewältigung vermeintlicher oder tatsächlicher Schuld.

Wahrheit und Gerechtigkeit

Wahrheitsfindung ist eine essentielle, aber offensichtlich nicht die einzige Funktion von Rechtsprechung. Richter sind keine Propheten oder obersten Gelehrten. Die Kraft der Wahrheiten, die sie verkünden, ruht nicht auf der besonderen Qualität richterlichen Urteilsvermögens, nicht einmal auf der objektiven Richtigkeit der ermittelten Tatsachen – obgleich allzuviele offensichtliche Fehlurteile diese Kraft natürlich mindern, und obwohl gerade der Nürnberger Prozeß auch enorme Bedeutung für die historische Wahrheitsfindung hatte.52 Die Kraft gerichtlich verkündeter Wahrheit liegt darin, daß sie in einem Urteil verkündet wird, und daß dieses Urteil Konsequenzen für alle Beteiligten hat. In nahezu allen Fällen ist die gerichtliche Wahrheitssuche notwendigerweise auf einen Urteilsspruch bezogen, und kann überhaupt nur zu diesem Zweck erfolgen. Vor Gericht sind die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit nicht zu trennen.

Genau dies macht die Wahrheitsfindung über Verbrechen von Unrechtsregimen immer wieder zu einem gravierenden und äußerst konfliktiven Problem. In vielen Ländern und historischen Situationen, in denen ein solches Regimes durch eine mehr oder weniger starke Übergangsregierung abgelöst wird, sind die neuen Regierenden zwar bereit, dem Druck der Opfer und der demokratisch inspirierten Öffentlichkeit im In- und Ausland nach Aufklärung der Wahrheit über das Geschehene nachzugeben. Häufig jedoch weigern sie sich, oder erklären sich außerstande, daraus die Konsequenzen zu ziehen und ermittelte Täter vor Gericht zu stellen. Die Justiz, die ja von sich aus tätig werden könnte, ist allzu oft personell und ideologisch noch zu sehr im alten System verwurzelt.53 Die Zauberformel, die seit Anfang der achtziger Jahre auf eine erstaunlich hohe Zahl solcher Fälle Anwendung gefunden hat, heißt „Wahrheitskommission“. Sie reichen von der Ende 1983 eingesetzten wegweisenden „Nationalen Kommission über das Verschwinden von Personen“54 in Argentinien bis zur „Wahrheits- und Versöhnungskommission“, die 1996 in Südafrika ihre Arbeit aufnahm, und über die Ruth Weiss ausführlich in diesem Band berichtet. Die genauen Namen und der Umfang des Mandats sind im einzelnen sehr unterschiedlich, wie auch aus den Beiträgen von Federico Andreu, Paz Rojas und Ruth Weiss in diesem Band ersichtlich wird.55

Die zugrundeliegende Intention ist im Kern jedoch die gleiche: Durch die Besetzung der Kommissionen mit meist hochangesehenen unabhängigen Persönlichkeiten soll eine Instanz geschaffen werden, deren Untersuchungsergebnis ein ähnliches – oder sogar größeres – Gewicht in der Öffentlichkeit hat wie ein Gerichtsurteil. Damit wird ein Zeichen der Distanzierung von der Vergangenheit gesetzt, von dem gehofft wird, daß es die Ansprüche der Opfer auf moralische Rehabilitation befriedigt. Durch die Konstituierung der Kommissionen außerhalb der Justiz soll zugleich die Wahrheitsfindung von der Rechtsprechung abgetrennt werden. Nicht nur für die Opfer liegt genau hier das Problem.

Normwahrung und Verantwortung

Die Wahrheitskommissionen haben in ihren bisweilen hervorragenden Berichten Worte der Verurteilung für die untersuchten Verbrechen und des Respekts für die Opfer gefunden, die in der Öffentlichkeit tiefen Eindruck hinterlassen haben. Der Wert der moralischen Sanktion, die von einigen dieser Wahrheitskommissionen ausging, ist nicht zu übersehen. Doch wenn dem Prozeß der Wahrheitsfindung nicht auch rechtliche Konsequenzen folgen, wird das Fortbestehen der Macht der Henker und Folterer nur um so deutlicher. Eine Wahrheitssuche, die nur der Geschichtsschreibung dient, bleibt nicht nur unbefriedigend, sie kann das Fehlen von Gerechtigkeit sogar noch spürbarer und damit schmerzhafter machen. Die rechtliche Norm kann nicht auf Dauer nur durch moralische Sanktion in der Sphäre der politischen Öffentlichkeit aufrechterhalten werden, sie bedarf, will sie nicht allmählich ihre Kraft einbüßen, der rechtlichen Sanktion.

Dies ist, wenn einmal die Sache der Gerechtigkeit in die Hand übergeordneter gesellschaftlicher Instanzen übergeben ist, kein privates Problem zwischen Tätern und Opfern mehr. „Der Straffällige wird vor Gericht gestellt, weil seine Tat die Gemeinschaft als Ganzes schwer bedroht und aus den Fugen gebracht hat, nicht aber, weil wie in Zivilprozessen bestimmte Personen geschädigt worden sind, die nun auf Wiedergutmachung Anspruch haben,“ formulierte Hannah Arendt im Anschluß an Telford Taylor. Gilt schon im gewöhnlichen Strafrecht ein weitgehendes Legalitätsprinzip, so ist nicht einzusehen, warum dies gerade bei schwersten Verbrechen gegen die Menschheit nicht anzuwenden sei. Für Hannah Arendt folgt daraus, daß gerade hier „Anklage auch erhoben werden muß, wenn der geschädigte Teil bereit ist, zu vergeben und zu vergessen.“56 Denn der „symbolische Schaden an der Geltung der Norm“, so Reinhard Merkel am Schluß seines Beitrags in diesem Band, ist eine „Angelegenheit der gesamten Welt“.

Im Bereich des nationalen Strafrechts ist in vielen Ländern eine heilsame Diskussion darüber entbrannt, ob es nicht bessere, zugleich wirksamere und humanere Methoden als Strafen, insbesondere Gefängnisstrafen gibt, um die Achtung grundlegender ethischer Normen einer Gesellschaft durch ihre Mitglieder zu erreichen. Im Bereich des Völkerrechts ist die Bestrafung von individuellen Tätern noch immer ein so seltener Ausnahmefall, daß diese Diskussion keine reale Grundlage hat. Es wäre in einer Welt, die für schwere Vergehen noch nirgendwo eine Alternative zur Verhängung von Strafsanktionen entwickelt hat, unverständlich, eine solche grundsätzliche Debatte ausgerechnet bei Tätern zu beginnen, die ihre Taten in staatlichem Auftrag oder als politisch Verantwortliche begehen.

Menschenrechtsverbrechen sind Staatsverbrechen. Ihnen den Mantel der mit der staatlichen Autorität verbundenen Legitimität zu entreißen, vermag wirkungsvoll nur wiederum eine staatliche Instanz: die Strafgerichtsbarkeit. Hier liegt der Grund, warum die meisten Menschenrechtsorganisationen sich so unermüdlich immer wieder an den Staat wenden, selbst in Ländern, in denen er ihnen noch kaum je als Rechtsstaat, sondern in aller Regel als autoritär-repressiver gegenübertrat. Die Hartnäckigkeit, mit der z.B. in Chile Fabiola Letelier, unterstützt von den chilenischen Menschenrechtsorganisationen, während der Pinochetdiktatur ein Urteil gegen die politisch Verantwortlichen für den Mord an ihrem Bruder zu erreichen suchte (s. ihren Beitrag in diesem Band), wohl wissend, daß dafür unter Pinochets Herrschaft keine Erfolgsaussicht bestand, muß auf den ersten Blick absurd erscheinen. Die Strafanzeigen und sonstigen Rechtsmittel wandten sich an einen Rechtsstaat, den es nicht gab. Doch indem sie rechtsstaatliche Normen zur Grundlage ihres Vorgehens machten, hielten die Kläger die Erinnerung an die verletzten Normen des Rechts wach und machten die Differenz zur schlimmen Wirklichkeit der Normverletzung sichtbar.

Menschenrechtsarbeit bewegt sich stets in diesem Spannungsfeld. Da Menschenrechte jenseits ihrer philosophischen Begründung aus dem Naturrecht nur als konkrete rechtliche Normen (mit dem Verfassungs- und Völkerrecht als Basis) in der Welt sind, kann sich die Arbeit für die Menschenrechte auch nur auf diese Rechte beziehen, will sie nicht im weiten Feld der politischen Aktion ihre spezifische Differenz einbüßen. Ihr Addressat ist notwendig gerade die Instanz, die sich ihrer ureigenen Pflicht, die Menschenrechte zu schützen, immer noch und immer wieder entzieht: der Staat. Wo der Staat das Recht mit Füßen tritt, halten die Menschenrechtsorganisationen es ihm hartnäckig, vom Schmutz der Stiefel gereinigt, wieder vor. Diejenigen, die vielen Regierenden als die ärgsten Staatsfeinde erscheinen, sind letztlich die unerschütterlichsten Gläubigen eines durch das Recht normierten Staates. Dem historisch gewachsenen Unrechtsstaat gegenüber proklamieren sie das zeitlose Ideal eines Rechtsstaats, in dem Normverletzungen, und seien sie noch so umfassend und systematisch, nicht nur als Ausdruck von Herrschaftsverhältnissen, als Ergebnis der Fehlentwicklung eines Staats oder einzelner seiner Institutionen gesehen werden, sondern immer zumindest auch als Akte, für die Einzelne die Verantwortung tragen. Die Rechte und die Verantwortlichkeit des Einzelnen sind die beiden Enden des Bandes, mit denen der Kampf für die Menschenrechte und sein Widerpart, der Staat aneinander gebunden sind.

Einem deutschen Leser, der die Schuld an den Naziverbrechen ins Reich unpersönlicher Verstrickungen wegdiskutieren wollte, entgegnete Primo Levi, der noch in der unbeschreibbaren Barbarei des KZ Auschwitz skrupulös nach dem Maß der Schuld des Einzelnen suchte, viele Jahre später, „daß man persönlich für Schuld und Irrtum einstehen müsse, weil sonst jede Spur von Zivilisation vom Erdboden verschwinden würde, wie sie in der Tat im Dritten Reich ja auch verschwunden war.“57

[1]. Sola Sierra ist Präsidentin der Vereinigung der Familienangehörigen der Verhaftet-Verschwundenen in Chile.

[2]. Zur Terminologie von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bzw. Verbrechen gegen die Menschheit“ s.u.

Obwohl ich der Ansicht bin, daß „Verbrechen gegen die Menschheit“ die korrekte Übersetzung von „Crimes against Humanity“ und der angemessene Begriff zur Bezeichnung der gemeinten Verbrechen ist, verwende ich, um Verwirrung zu vermeiden, in diesem Beitrag fast durchgehend den Terminus „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, da er seit den offiziellen deutschen Protokollen des Nürnberger Prozesses eingebürgert ist und auch in allen offiziellen deutschen Texten späterer völkerrechtlicher Dokumente wiederkehrt.

[3]. Selbstverständlich wurde der Begriff der „Crimes Against Humanity“ nicht in Nürnberg erfunden. Er kam in dieser Form wohl erstmals im Zusammenhang mit den – gescheiterten – Bemühungen der britischen, französischen und russischen Regierungen nach dem 1. Weltkrieg auf, die von der türkischen Armee und Regierung an den Armeniern begangenen Massaker gerichtlich zu verfolgen. Eine gemeinsame Erklärung der drei Mächte sprach 1915 von „crimes against civilization and humanity“, für die die Täter zur Verantwortung gezogen werden sollten. Im Versailler Vertrag war davon freilich keine Rede mehr (dazu und zur weiteren Vorgeschichte des Begriffs: Cherif Bassiouni: Crimes Against Humanity in International Criminal Law, Dordrecht/Boston/London 1992, S. 165 ff.).

[4]. Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946, Nürnberg 1947. Die im Text gegebenen Nachweise beziehen sich auf Bd. I bzw. Bd. II dieser Ausgabe.

[5]. Auch für den Terminus „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gibt es natürlich Argumente. Otto Triffterer („Bestandsaufnahme zum Völkerrecht“, in: Gerd Hankel/Gerhard Stuby (Hg.): Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, Hamburg 1995, S.169-269 (188)) sieht in der Gegenüberstellung von Grundsätzen der Menschlichkeit und staatlichem Rechtsschutz den Sinn des Begriffs „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.

[6]. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Hamburg 1978, S. 324

[7]. Im französischen Original: „crime capital contre la conscience que l’homme se forme aujourd’hui de sa condition en tant que tel“. Hannah Arendt bezieht sich in Eichmann in Jerusalem auf diese Definition. Die freie, aber sehr treffende deutsche Übersetzung lautet hier „ein Verbrechen gegen Rang und Stand des Menschen“. (Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Hamburg 1978, S. 306)

[8]. Diese mangelnde Entschiedenheit in der Anwendung des Begriffs der Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch die Nürnberger Richter spielte unwillentlich den Angeklagten Argumente zu und trug mit dazu bei, daß in der deutschen Öffentlichkeit die wahre Dimension der NS-Verbrechen verdrängt werden konnte. Denn jenseits der juristischen Problematik ist die klare Unterscheidung zwischen Kriegsverbrechen, die sich ausschließlich auf kriegsbezogene Handlungen beziehen, und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die unabhängig von zeitlicher oder örtlicher Koinzidenz mit dem Kriegsgeschehen keinen sachlichen Bezug zur Kriegführung aufweisen, auch politisch und moralisch von größter Bedeutung für die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen gewesen. Der Begriff der Kriegsverbrechen mußte immer wieder als Schutzschild in den Verteidigungsstrategien und Selbstrechtfertigungen der NS-Täter herhalten, die selbst für die makabersten Verbrechen in den KZ noch einen Zusammenhang zur Kriegsführung zu konstruieren suchten (s. dazu Ulrich Renz: „Zum Schutz der Mörder. NS-Verbrechen waren keine Kriegsverbrechen“, in: Heiner Lichtenstein/Otto R. Romberg (Hrsg.): Täter – Opfer – Folgen, Bonn 1995, S.125 – 135).

Auch Sebastian Haffner beklagte die Vermengung von Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen im Nürnberger Prozeß, „weil der Sinn für den besonderen Charakter der Hitlerschen Verbrechen abgestumpft wurde, wenn man sie mit den in jedem Kriege passierenden Kriegsverbrechen in einen Topf warf. Hitlers Massenmorde erkennt man als solche gerade daran, daß sie keine Kriegsverbrechen waren.“ (Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, München 1978, S. 165; zit. nach der sehr lesenswerten Magisterarbeit von Anneke de Rudder: Öffentliche Reaktionen auf den Nürnberger Prozeß in Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika, FU Berlin, 1995, wo sich noch weiteres Material zu der damaligen Diskussion dieser Frage findet.)

[9]. zit. nach Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Hamburg 1978, S. 306

[10]. Diane F. Orentlicher: „Addressing Gross Human Rights Abuses: Punishment and Victim Compensation“, in: Louis Henkin/John Hargrove (eds.): Human Rights: An Agenda for the Next Century (Studies in Transnational Legal Policies No.26), Washington 1994, S. 425-476 (425). (Dieses und alle sonstigen Zitate aus fremdsprachig angeführten Texten sind vom Verfasser übersetzt.)

[11]. zitiert nach: Bundesminister der Justiz (Hg.): Im Namen des Volkes. Justiz und Nationalsozialismus, Köln 1989, S. 339

[12]. So in die „Konvention zur Unterdrückung des Menschenhandels und der Ausbeutung von Prostituierten (1950: Art. 2 u.a.: Einzelstaatsverantwortung und Auslieferungspflicht), das „Übereinkommen betreffend die Sklaverei“ (1953: Art.6: Einzelstaatsverantwortung); das „Internationale Übereinkommen über die Bekämpfung und Ahndung des Verbrechens der Apartheid“ (1973: Art. III: Einzelpersonen; Art. IV: Bestrafungspflicht; Art. V: Int. Strafgericht); das „Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“ (1984: Art.4: Einzelstaatsverantwortung; Art. 5,6: erweitertes Territorialprinzip; Art.7: Universalrecht). Eine umfassende Liste von völkerrechtlichen Verträgen und Abkommen, die die Verpflichtung zur gerichtlichen Verfolgung von Menschenrechtsverbrechen und anderen international geächteten Straftaten oder aber zur Auslieferung der Täter enthalten, bringt Cherif Bassiouni: Crimes Against Humanity in international Criminal Law, Dordrecht/Boston/London 1992, S. 788 – 800.

Eine Pflicht zur gesetzlichen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen enthielt im übrigen schon die französische „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ von 1789, die in ihrem Artikel IX nicht nur die Unschuldsvermutung präzise faßt, sondern auch fordert, daß bei einer Verhaftung, wenn sie denn „für unumgänglich erachtet wird, jede Härte, die nicht notwendig ist, um sich seiner Person zu versichern, durch das Gesetz streng unterbunden werden [soll].“ Zur Mehrdeutigkeit dieser Formulierung s. Rita Maran, Staatsverbrechen, Hamburg 1996, S. 84f.

[13]. so die Formulierung im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Art. 2 (2)

[14]. DRiZ 1933, S. 265, 272, zit. nach: Bundesminister der Justiz (Hg.): Im Namen des Deutschen Volkes. Justiz und Nationalsozialismus, Köln 1989, S. 89

[15]. Für den Fall des Umgangs der deutschen Nachkriegsjustiz mit den NS-Verbrechen s. Heiner Lichtenstein: Im Namen des Volkes? Eine persönliche Bilanz der NS-Prozesse, Köln 1986, und Jörg Friedrich: Die kalte Amnestie, München 1994 (2. erweiterte Ausgabe)

[16]. s. dazu vor allem die Verhandlungen des „Internationalen Tribunals der Völker zur Straflosigkeit in Lateinamerika“ (Tribunal Permanente de los Pueblos: Proceso a la impunidad de crí­menes de lesa humanidad en América Latina 1989 – 1991, Bogotá 1991), ferner Rainer Huhle: „Demokratisierung mit Menschenrechtsverbrechern? Die Debatte um die Sanktion von Menschenrechtsverbrechen in den lateinamerikanischen Demokratien“, in: Detlef Nolte (Hg.): Lateinamerika im Umbruch?, Hamburg 1991, S. 75-108; eine umfassende weltweite Bestandsaufnahme des Problems der Straflosigkeit hat neuerdings vorgelegt: Naomi Roht-Arriaza (ed.): Impunity and Human Rights in International Law and Practice, Oxford/New York 1995

[17]. Auch zur völkerrechtlichen Diskussion des Verbots der Straffreiheit, bzw. der Verfolgungspflicht von Menschenrechtsverbrechen bietet Naomi Roht-Arriaza (ed.): Impunity and Human Rights in International Law and Practice, Oxford/New York 1995, den umfassendsten Überblick; vgl. ferner Naomi Roht-Arriaza: „State Responsibility to Investigate and Prosecute Grave Human Rights Violations in International Law“, in: California Law Review, vol. 78 (1990), S.449-513; Diane F. Orentlicher: „Addressing Gross Human Rights Abuses: Punishment and Victim Compensation“, in: Louis Henkin/John Hargrove (eds.): Human Rights: An Agenda for the Next Century (Studies in Transnational Legal Policies No.26), Washington 1994, S. 425-476; und neuerdings: Kai Ambos: Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen. Zur „impunidad“ in südamerikanischen Ländern aus völkerstrafrechtlicher Sicht. Freiburg (im Druck)

[18]. In besonders weitgehender Weise griff die Militärjustiz in den letzten Jahren vor allem in Kolumbien und Peru in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit ein (zu Peru s. Rainer Huhle: „Straflosigkeit als Geschäftsgrundlage. Menschenrechtsverletzungen und Menschenrechtspolitik in Peru unter Fujimori“, in: Fujimoris Peru – eine „Demokratie neuen Typs?“, Lateinamerika Analysen Daten Dokumentation, 29, Hamburg 1995, S. 73 – 90).

Es kam einer Sensation gleich, daß kürzlich in Guatemala eine Klage von Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú wegen eines von Militärs an Bauern des Orts Xaman begangenen Massakers die Verhandlung des Falls vor der ordentlichen Gerichtsbarkeit erreichte: Die 5. Kammer des Berufungsgerichts entschied, daß das Verfahren nicht vor dem Militärgerichtshof verhandelt werden darf. Die ausführliche juristische Begründung der Klägerin („Fundamentación jurí­dica en el caso de la masacre de Xaman“, datiert am 13. 2. 1996) würde, wenn sie Schule macht, einen fundamentalen Wandel in der Rechtskultur Guatemalas und Lateinamerikas einleiten.

[19]. Zu verweisen ist ferner auf die „Grundsätze für die internationale Zusammenarbeit bei der Ermittlung, Festnahme, Auslieferung und Bestrafung von Personen, die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben“ (Resolution 3074 – XXVIII der UN-Generalversammlung von 1973), die die Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Unterstützung bei der Verfolgung solcher Täter verpflichtet und diese u.a. vom Genuß politischen Asyls ausschließt.

[20]. Im konkreten Fall stützte sich das Gericht auf ein spezifisches amerikanisches Bundesgesetz von 1789, den „Alien Tort Act“, das dieses Prinzip umsetzte. Es zielte damals vor allem auf Piraten und Sklavenhändler. Der Fall Filartiga v. Peña-Irala (oft auch Filartiga v. Paraguay genannt) ist dokumentiert in International Legal Materials, 1980, 966ff; vgl. z.B. François Rigaux: „Impunité, crimes contre l‘humanité et juridiction universelle“, in: Ligue internationale pour les droits et la libération des peuples (ed.): Impunity, Impunidad, Impunité, Genf 1993, S.71-83 (78f); Lorenza Cescatti: Dal Tribunale Penale Militare de Norimberga al Tribunale Penale Internazionale per i crimini commessi nella Ex-Jugoslavia nell‘ ottica dei Diritti Umani (Tesi di specializzazione an der Universität Padua, Scuola di Specializzazione in istituzioni e tecniche di tutela dei diritti umani, 1993), S. 57. Die genaue Quelle von Filartiga v. „Peña-Irala“ gibt Michael P. Scharf: „Swapping Amnesty for Peace: Was There a Duty to Prosecute International Crimes in Haiti?“, in: Texas International Law Journal vol.31:1, 1996, S.1-41 (38): 630 F.2d 876, 884 (2d Cir. 1980); den gesamten juristischen Kontext des Falls Filartiga vs. Peña-Irala und des Alien Tort Acts erläutert Paul L. Hoffman: „Enforcing International Human Rights Law in the United States“, in: Louis Henkin/John Hargrove (eds.): Human Rights: An Agenda for the Next Century (Studies in Transnational Legal Policies No.26), Washington 1994, S. 477 – 511, bes. S.485f; ferner: Mark Gibney: The Odyssey of General Suarez-Mason and the Implementation of Human Rights, Paper für den XV.Weltkongreß der International Political Science Association in Buenos Aires, 1991. Im Fall des für 5000 „Verschwundene“ verantwortlichen argentinischen Generals Suarez Mason, der im Zentrum von Gibsons Paper steht, kam es 1988 zu einer Auslieferung des Generals durch die USA nach Argentinien.

Ganz anders verhielt sich die britische Regierung und Justiz. Als einer der berüchtigtsten Henker der argentinischen Militärdiktatur, Kapitän Alfredo Astiz, während des Malvinenkriegs in britische Kriegsgefangenschaft geriet, forderten zahlreiche Menschenrechtsorganisationen in und außerhalb Argentiniens, ihn vor Gericht zu stellen. Die britische Justiz blieb jedoch untätig, Astiz wurde wie alle anderen Gefangenen entlassen. Nach der ein Jahr später verabschiedeten Konvention gegen Folter der UNO hätte Astiz in jedem Fall vor Gericht gestellt werden müssen.

[21]. Dazu: Dieter Maier: „Der Folter eine Grenze setzen“, in: Hamburger Institut für Sozialforschung, Bulletin 1995, Nr. 4, 1992, S.66-72

[22]. So heißt es z.B. bereits bei Hugo Grotius in seinem Traktat De jure belli ac pacis, daß die Könige und diejenigen, die eine dem König vergleichbare Position bekleiden, „das Recht haben, nicht nur für an ihnen selbst und ihren eigenen Untertanen begangenes Unrecht Strafe zu verlangen, sondern auch für solches Unrecht, das sie nicht direkt berührt, das aber in unmenschlicher Weise das Naturrecht oder das Recht der Völker in bezug auf irgendeine Person verletzt.“ (zit. nach Cherif Bassiouni: Crimes Against Humanity in International Criminal Law, Dordrecht/Boston/London 1992, S.62f). Sein Zeitgenosse Francisco de Vitoria, der ebenfalls als Erzvater des modernen Völkerrechts gilt, führte in seiner Schrift De Indis ganz ähnlich unter den legitimen Gründen für eine Intervention des spanischen Königs in den neu entdeckten Ländereien „Indiens“, also Amerikas, die Notwendigkeit auf, Unschuldige vor Verletzungen ihrer Naturrechte durch barbarische Herrscher zu schützen (s. Francisco Castilla Urbano: El pensamiento de Francisco Vitoria, Madrid 1992, S. 308). Gerade dieses frühe Auftauchen eines „Weltrechtsprinzips“ verweist aber deutlich auch auf dessen problematische Seite, nämlich seine Instrumentalisierung für koloniale bzw. weltherrschaftliche Ansprüche.

[23]. vgl. dazu die Beiträge von Richard Goldstone und Gavin F. Ruxton in diesem Band. Beide Statute sind jetzt vollständig in deutscher Sprache zugänglich in der neuen erweiterten Ausgabe von: Bundeszentrale für politische Bildung: Menschenrechte – Dokumente und Deklarationen, Bonn 1995.

[24]. Eine ausführliche juristische Diskussion des Falls Tadic und der damit verbundenen Probleme des Weltrechtsprinzips speziell auch aus der Sicht des deutschen Strafrechts bringt Herwig Roggemann: Der Internationale Strafgerichtshof der Vereinten Nationen von 1993 und der Krieg auf dem Balkan, Berlin 1994, S.33-41.

[25]. Es war im Gegenteil der Verteidiger des Angeklagten, der das Gericht auf eine rassistische Linie zu locken versuchte, als er die Ermordung der Kinder von Lidice vom Verfahren ausschließen lassen wollte, mit der Begründung, es handle sich „hier nicht um jüdische Kinder, sondern um tschechische“. Empört wies der Vorsitzende diesen Versuch, „zwischen denen, die von tschechischen Müttern geboren sind und denen, die ihr Leben von einer jüdischen Mutter haben“ einen Unterschied zu machen, zurück. (Beide Zitate nach Friedrich Karl Kaul: Der Fall Eichmann, Berlin 19673, S. 150 bzw. 349f)

[26]. Man dürfe nicht vergessen, schrieb Hannah Arendt im Epilog ihres Eichmann-Buches, in teilweise wörtlicher Anlehnung an ihre bereits in „Die Ursprünge totalitärer Herrschaft“ vorgenommene pessimistische Analyse des Begriffs der Menschenrechte, „was es für Juden bedeutete, zum erstenmal seit der Zerstörung des Tempels über Verbrechen am eigenen Volk zu Gericht zu sitzen, sich also nicht auf den Rechtsschutz anderer Völker verlassen oder gar an “˜Menschenrechte‘ und ähnlich kompromittierte Begriffe appellieren zu müssen. Wer wußte besser als sie, daß sich auf solche allgemeinen Rechte nur die berufen, die ohnmächtig sind, ihren national gesicherten Rechten [¼] und ihren eigenen Gesetzen Geltung zu verschaffen.“ (Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, Hamburg 1978, S. 320f)

[27]. Karl Jaspers, Interview mit François Bondy, in: Der Monat, 152, Mai 1961, S. 16

[28]. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem, Hamburg 1978, S. 321

[29]. So in der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords und in der Anti-Apartheid-Konvention.

[30]. „Daß das Völkerrecht Einzelpersonen so gut wie Staaten Pflichten und Verbindlichkeiten auferlegt, ist längst anerkannt,“ hatte es, einigermaßen kühn, bereits im Nürnberger Urteil geheißen (Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946, Nürnberg 1947, Bd. I, S. 249). Inzwischen allerdings besteht an dieser Aussage kein Zweifel mehr.

[31]. Diese Skepsis fand Eingang bis in die inneren Zirkel des Systems des internationalen Menschenrechtsschutzes. In der Zeitschrift des Interamerikanischen Menschenrechtsinstituts, die u.a. als Sprachrohr der Amerikanischen Menschenrechtskommission und des Amerikanischen Menschengerichtshofs fungiert, schrieb der costaricanische Völkerrechtler Edgar Nasser Guier – freilich als persönliche Meinung: „Der Verdacht bleibt, daß der Internationale Gerichtshof geschaffen wurde, um die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft zu übertünchen, wirklich effektive Maßnahmen zur Lösung der Balkankrise zu unternehmen. [¼] Die Zeit wird erweisen, ob der Internationale Gerichtshof nur ein Werkzeug war, um vor der Weltöffentlichkeit den Mangel an Entschlossenheit der internationalen Gemeinschaft zu verbergen.“ (Edgar Nassar Guier: „El fundamento jurí­dico y la competencia del Tribunal internacional encargado de juzgar las infracciones al derecho humanitario cometidas en la antigua Yugoslavia“, in: Revista IIDH, vol.21, Enero-Junio 1995, S. 67-91 (91))

[32]. Exemplarisch für diese Position, die eine Reihe bedenkenswerter Argumente vorzubringen hat, s. Douglas Lummis: „Globocop? Time to Watch the Watchers“, in: Third World Resurgence, 52, 1994, S. 39-42. Der Autor, Ko-Präsident des Pacific Asia Resource Center, verweist u.a. darauf, daß sich die USA, die in den 90er Jahren im Sicherheitsrat die Errichtung des Jugoslawiengerichtshofs betrieben, jahrzehntelang weigerten, die Konvention gegen den Völkermord von 1948 zu unterzeichnen, aus Angst vor dem dort theoretisch ins Auge gefaßten Internationalen Strafgerichtshof. Als es schließlich 1986 doch zur Ratifizierung der Konvention kam, tat der US-Senat dies nur unter einer Reihe von Vorbehalten, die u.a. den Internationalen Gerichtshof betrafen, dem die USA gegebenenfalls nur aufgrund eines eigenen Vertrages beitreten wollten. Der Eindruck, daß hier mit zweierlei Maß gemessen wird, ist kaum von der Hand zu weisen.

[33]. Telford Taylor, Final Report, Washington 1949, S.52, zit. nach Jörg Friedrich, Das Gesetz des Krieges, München 1993, S. 216

[34]. S. dazu Norman Paech: „Nürnberg und die Nuklearfrage“, in: Gerd Hankel/Gerhard Stuby (Hg.): Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, Hamburg 1995, S. 481- 499, bes. S.482-485.

[35]. Eine ausgezeichnete Darstellung des politischen Handlungsspielraums des Gerichts und der Art und Weise, wie die Anklagebehörde und Richard Goldstone ihn nutzten, gibt: Melinda Crane-Engel: “Recht vor Macht“, in: Der Überblick 1/96, S. 61-67.

[36]. Einen guten Einblick in die Verhandlungsprozesse und die bisherigen Positionen zum Ständigen Gerichtshof in der UNO gibt der dänische Verhandlungsleiter Tyge Lehmann in einem Interview in: ai-Journal 2/96, S. 20-23

[37]. So soll er nach den vorliegenden Entwürfen z.B. keinen Vorrang gegenüber nationalen Gerichtsbarkeiten haben, wie das bei den Gerichten zu Ex-Jugoslawien und Ruanda der Fall ist, sondern lediglich aktiv werden, „wenn die nationale Justiz nicht effektiv oder nicht existent ist.“ (Tyge Lehmann in einem Interview in: ai-Journal 2/96, S. 20-23 (21))

[38]. Zit. bei Jörg Friedrich: Das Gesetz des Krieges, München 1993, S. 853.

[39]. Das so begründete Minderheitsvotum des indischen Richters lautete auf Freispruch der japanischen Generäle (Jörg Friedrich: Das Gesetz des Krieges. München 1993, S. 852).

[40]. Das Zitat entstammt der Rede Goldstones auf der Tagung „Frauen gegen Gewalt im Krieg“, die in Bonn vom 14. – 16. Dezember 1995 stattfand (zit. nach ai-Journal 2/96, S.25). Zur Frage der therapeutischen Bedeutung von „Gerechtigkeit“ s.a. den Beitrag von Paz Rojas in diesem Band.

[41]. In Argentinien wurde Anfang April 1996 ein Anschlag auf den Arzt Jorge Berges verübt, der als argentinischer „Mengele“ gilt. Zahlreiche Folteropfer hatten den ehemaligen Polizeiarzt der Teilnahme an der Folter angeklagt. Nach dem Ende der Diktatur war er zu sechs Jahren Haft verurteilt worden, aber bereits nach einem Jahr aufgrund des Amnestiegesetzes über den „schuldigen Gehorsam“ (Ley de Obediencia Debida) wieder freigekommen. Neben der Folter wird ihm die Verschleppung von Säuglingen Inhaftierter bzw. „Verschwundener“ vorgeworfen. Allerdings handelt es sich bei dem Anschlag, bei dem Berges schwer verletzt wurde, allem Anschein nach nicht um einen eigentlichen Racheakt unmittelbarer Opfer, sondern um die Tat einer politischen Gruppe, die sich die Verfolgung von Tätern auf die Fahnen geschrieben hat, die von der Justiz nicht bestraft werden (s. taz vom 6.4.96).

[42]. 1926 erschoß in Paris Schalom Schwartzbard den ukrainischen Offizier Simon Petljura, der für Pogrome mit ca. 100.000 Opfern verantwortlich gewesen war; 1921 erschoß in Berlin der Armenier Tindelian den Türken Taalat Bey, Hauptbeteiligter an den Pogromen 1915 gegen die Armenier. (Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Hamburg 1978, S. 314f)

[43]. So erklärte Schwartzbard zwar: „Der jüdische Zorn hat Rache genommen,“ fügte aber hinzu: „Das Blut des Mörders Petlioura [¼] wird an die Leiden des schutzlosen und preisgegebenen jüdischen Volkes erinnern.“ (Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Hamburg 1978, S. 316)

[44]. David Becker: Ohne Haß keine Versöhnung. Das Trauma der Verfolgten, Freiburg 1992, S. 249

[45]. Primo Levi: Die Atempause, (Orig. „La tregua“, 1962), München 1988, S.13f.

[46]. Primo Levi: Ist das ein Mensch? (Orig. Se questo è un uomo?“, 1958), München 1988, S.9f; wie wichtig Levi diese Erklärung war, zeigt, daß er sie später noch einmal wörtlich in ein weiteres Buch aufnahm: Die Untergegangenen und die Geretteten (Orig.: I sommersi e i salvati, 1986), München 1990, S. 20/21

[47]. Denkschrift „Nürnberg und die Folgen“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung unter Federführung von Jan Philipp Reemtsma (dokumentiert in: Frankfurter Rundschau, 15.1.96 S.12).

[48]. Cesare Beccaria: Über Verbrechen und Strafen (Dei delitti i delle pene, 1764), Frankfurt 1988, S. 58

[49]. Es ist daher auch nicht recht einzusehen, wieso Herbert Jäger in der „jüngsten Geschichte“ Anzeichen zu entdecken sucht, die seine – möglicherweise richtige – Ansicht zu stützen vermöchten, daß es „illusionär und realitätsfern“ erscheine, „anzunehmen, das Völkerstrafrecht könne durch Strafdrohungen einen effektiven Beitrag zur Eindämmung staatlichen und kollektiven Unrechts leisten.“ (Herbert Jäger: „Makroverbrechen als Gegenstand des Völkerstrafrechts – Kriminalpolitisch-kriminologische Aspekte“, in: Gerd Hankel/Gerhard Stuby (Hg.): Strafgerichte gegen Menschheitsverbrechen, Hamburg 1995, S. 325 – 354 (339))

[50]. Eine Reihe von UN-Berichten der letzten Jahre, u.a. zu Chile und El Salvador sowie die UN-Arbeitsgruppe über Verschleppungen sind zu dem Ergebnis gekommen, daß die weitgehende Straffreiheit zu den wichtigsten Gründen für die Fortdauer schwerer Menschenrechtsverletzungen zählt, bzw. daß sie der gewichtigste Einzelfaktor dafür überhaupt ist. S. dazu Michael P. Scharf: „Swapping Amnesty for Peace: Was There a Duty to Prosecute International Crimes in Haiti?“, in: Texas International Law Journal vol.31:1, 1996, S.1-41, S.12

[51]. „Als Alfonsí­n an die Regierung kam, wurden die Juntas vor Gericht gestellt. Man sagte, das sei ein politisches Problem. Als sie verurteilt werden, sagt man uns wieder, dahinter steckten politische Motive. Aber dann begnadigt man sie, und sie nehmen die Begnadigung ohne weiteres an. Wie war das also vorher? Wenn sie die Begnadigung akzeptierten, heißt das, daß sie auch die Strafe akzeptierten, das Urteil und Alles, was vorher war. Das heißt, alles war also wahr und keineswegs ein politisches Manöver, das heißt, was geschah, war also tatsächlich ungesetzlich.“ Einsichten des Korvettenkapitäns Scilingo, 1995, s.: Horacio Verbitsky: El vuelo, Buenos Aires 1995, S.37. Das Buch besteht zum größten Teil aus einem langen Interview, das der Autor mit Scilingo führte. Es war Auslöser für eine erneute breite Debatte in der Öffentlichkeit über die Verbrechen der Militärdiktatoren und die Frage der Schuld, die durch die Amnestien unter Präsident Alfonsí­n und die Begnadigungen durch Präsident Menem bereits erledigt schien.

[52]. „Die eigentliche NS-Geschichtsschreibung begann als Beweiserhebungverfahren,“ merkt hierzu die Denkschrift „Nürnberg und die Folgen“ an, die am Hamburger Institut für Sozialforschung unter Federführung von Jan Philipp Reemtsma entstanden ist (dokumentiert in: Frankfurter Rundschau, 15.1.96 S.12).

[53]. Diese Tatsache wird bisweilen ganz offiziell anerkannt. Im Fall von El Salvador hatte die UNO der von ihr eingesetzten Wahrheitskommission die Befugnis zur Weitergabe ihrer Ergebnisse an die Strafjustiz unter ausdrücklichem Hinweis auf die Überforderung der salvadorenischen Justiz verworfen (vgl. Diane F. Orentlicher: „Addressing Gross Human Rights Abuses: Punishment and Victim Compensation“, in: Louis Henkin/John Hargrove (eds.): Human Rights: An Agenda for the Next Century (Studies in Transnational Legal Policies No.26), Washington 1994, S. 425-476, S. 434

[54]. Die auch unter dem Namen ihres Vorsitzenden, des Romanciers Ernesto Sábato, bekannte Kommission veröffentlichte ihren seither in zahlreichen Auflagen erschienenen Bericht unter dem Titel Nunca Más („Nie wieder“, Buenos Aires 1984). Der Bericht ist auch in deutscher Übersetzung erschienen (CONADEP: Nie wieder! Ein Bericht über Entführung, Folter und Mord durch die Militärdiktatur in Argentinien, (Hg. Hamburger Institut für Sozialforschung), Weinheim und Basel 1987).

[55]. Eine ausführliche Darstellung der lateinamerikanischen Wahrheitskommissionen bietet Esteban Cuya: „Las Comisiones de Verdad en América Latina“, in: memoria 7, 1995, S. 5 – 19 und memoria 8, 1996, S. 24 – 39 (Nürnberg). Ferner: Mark Ensalaco: „Truth Commissions for Chile and El Salvador: A Report and Assessment“, in: Human Rights Quarterly 16 (1994), S. 656-675. Eine Auflistung von insgesamt 40 offiziellen Wahrheitskommissionen aus vier Kontinenten zwischen 1971 und 1995 findet sich bei Daan Bronkhorst: Truth and Reconciliation, Amsterdam 1995, S. 85-89.

[56]. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Hamburg 1978, S. 309f.

[57]. Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten, München 1990, S. 182

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