Das Prinzip der Unschuldsvermutung

10. Oktober 2018 | Von | Kategorie: Menschenrechte verstehen

von Michaela Lissowsky

(Artikel hier auch als PDF nachlesbar)

In der Boulevardpresse und bei vielen Gruppierungen sind die vorschnellen Verurteilungen von möglichen Kriminellen recht ausgeprägt. Besonders rechtsextreme Gruppierungen instrumentalisierten in Deutschland in jüngster Zeit Tötungsdelikte für Hetze gegen Ausländer*innen und Bürger*innen mit Migrationshintergrund. Vor dem Gesetz sind alle einer Tat verdächtigten Personen gleich – und zwar unabhängig von ihrer politischen Gesinnung oder ihrem Geburtsort. Das Prinzip gilt somit auch für Menschen mit einer rechtsextremen politischen Haltung, die einer Tat verdächtigt werden. Dies sichert die Unschuldsvermutung als Grundprinzip jedes rechtsstaatlichen Strafverfahrens.[1]

Das Rechtsprinzip der Unschuldsvermutung gilt für ein kriminelles Schuldverständnis, das in erster Linie eine strafrechtlich nachweisbare Schuld meint.[2] Die Feststellung von Schuld ist umgekehrt nur dann legitimiert, wenn sie auf dem genuinen Prinzip der Unschuldsvermutung aller erfolgt. Artikel 11 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) bestimmt, dass „[j]eder, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, […] das Recht [hat], als unschuldig zu gelten, solange seine Schuld nicht in einem öffentlichen Verfahren, in dem er alle für seine Verteidigung notwendigen Garantien gehabt hat, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.“[3] Die Unschuldsvermutung wurde später in Artikel 14(2) des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte von 1966 verankert.[4] Sie richtet sich stets an das einzelne Individuum. Eine kollektive Unschuldsvermutung gibt es nicht.[5]

Angeklagte sind unschuldig bis das Gegenteil durch vorgebrachte und verifizierte Beweise nachgewiesen wird. Sie können daher nicht gezwungen werden, vor einem Gericht auszusagen, um die eigene Unschuld beweisen zu müssen. Die Unschuldsvermutung gilt für mutmaßliche Kriminelle genauso wie für Opfer. Im Rahmen eines öffentlichen Gerichtsverfahrens bringt die Unschuldsvermutung gewisse Handlungsmaxime an die Gerichtsparteien mit sich. Beteiligte Parteien dürfen sich nicht vor und während eines Verfahrens öffentlich oder gar medienwirksam über die Schuldfrage äußern. Mediale Spekulationen könnten eine gesellschaftliche Vorverurteilung fördern, die der Unschuldsvermutung grundsätzlich widerspräche. Der UN Menschenrechtsausschuss für den Zivilpakt entwickelte 2007 in einem seiner „Allgemeinen Bemerkungen“ (General Comment No. 32) Kriterien zu Artikel 14. Die Dauer einer Untersuchungshaft oder separate Entscheidungen zu Haftgründen, die beispielsweise in einem Zivilverfahren fallen, können nicht als Faktoren herangezogen werden, um die Unschuldsvermutung aufzuweichen oder gar aufzuheben.[6]

Eine angeklagte Person kann nie gezwungen werden, auszusagen und auch nicht dazu, sich schuldig zu bekennen. Das Schweigen darf nicht als stille Zustimmung oder Schuldeingeständnis interpretiert werden. Um das Unschuldsprinzip zu sichern, liegt die Beweispflicht bei der Staatsanwaltschaft. Es ist daher ihre Aufgabe, jegliche Zweifel an der Unschuld zu beseitigen, damit Angeklagte tatsächlich schuldig gesprochen werden können.[7] Der UN Menschenrechtsausschuss entwickelte im General Comment No. 32 eine ganze Reihe an Maßnahmen, welche die Beweislast bei der Staatsanwaltschaft verankert.[8] Dazu gehört auch die Frage, wie Angeklagte vor Gericht vorgeführt werden. Aufnahmen, die häufig von Gerichtsverfahren in Russland übermittelt werden, zeigen die Angeklagten während des laufenden Verfahrens hinter Gittern. Dies widerspricht der Unschuldsvermutung, die Angeklagten zusichert während des Verfahrens im Gericht normalerweise nicht gefesselt, in einem Käfig festgehalten oder in anderer Art und Weise dargestellt zu werden, die darauf hinweisen, dass es sich um gefährliche Kriminelle handeln könnte.[9]

Sollte die Staatsanwaltschaft Beweise finden, welche auf die Unschuld einer angeklagten Person hindeuten oder die Beweiskraft der vorgebrachten Dokumente in Frage stellen, ist sie verpflichtet, die Richter*innen darüber zu informieren. Auch das gehört zur Unschuldsvermutung. Umgekehrt muss eine angeklagte Person keine Gegenbeweise bringen, um die gegen sie vorgebrachten Beweise zu entkräften und um ihre Unschuld zu beweisen.[10]

 

[1] Die Unschuldsvermutung ist im deutschen Recht nicht ausdrücklich verankert, leitet sich aber aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 28 Abs. 1 GG) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 6 Abs. 2) ab.

[2] Jaspers, Karl, Die Schuldfrage, München 2012, S. 19-23.

[3] AEMR, Artikel 11.

[4] IPbpR, Artikel 14(2).

[5] Arendt, Hannah, Responsibility and Judgment, New York 2003, S, 29.

[6] UN Doc. CCPR/C/GC/32.

[7] Artikel 66, RS.

[8] UN Human Rights Committee ‘General Comment No. 32, Article 14: Right to equality before courts and tribunals and to a fair trial’ 23 August 2007 CCPR/C/GC/32, paragraph 30.

[9] UN Human Rights Committee General Comment No. 32, Article 14: Right to equality before courts and tribunals and to a fair trial’ 23 August 2007 CCPR/C/GC/32, paragraph 30: „Defendants should normally not be shackled or kept in cages during trials or otherwise presented to the court in a manner indicating that they may be dangerous criminals.”

[10] Artikel 67(1)(i), (2), Rom-Statut.

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