Lateinamerikanische und karibische Staaten im UN-Menschenrechtsrat – Annäherung an ein ambivalentes Subjekt

24. Februar 2009 | Von | Kategorie: Menschenrechte verstehen, Weltregionen, Amerika

von Theodor Rathgeber, Januar 2009

Auf den 2006 geschaffenen UNO-Menschenrechtsrat richteten sich viele Hoffnungen. Großenteils wurden sie enttäuscht, weil die Mitgliedsstaaten ihre Politik nicht wirklich verbesserten. Theodor Rathgeber, der Beobachter des Forums Menschenrechte beim Menschenrechtsrat, untersucht im Folgenden das Verhalten einer Gruppe von eher menschenrechtsfreundlich eingestellten Staaten: Der Staatengruppe aus Lateinamerika und der Karibik (GRULAC / Group of Latin American and Caribbean Countries)

Die Staatengruppe aus Lateinamerika und der Karibik (GRULAC / Group of Latin American and Caribbean Countries1) legt im UN-Menschenrechtsrat (MRR) ein ambivalentes Verhalten an den Tag. Beim Einfordern wirtschaftlicher und sozialer Rechte, beim Ausarbeiten neuer Menschenrechtsstandards oder bei der Beteiligung nichtstaatlicher Akteure an der Arbeit des MRR finden sich GRULAC-Mitglieder in der Regel unter den Befürwortern, mitunter auch bei den Betreibern. Eher passiv bis ablehnend verhalten sich die GRULAC-Mitglieder hingegen, wenn es zur Bewertung der Menschenrechtslage in einem Land kommt und die dortige Regierungsführung zu kritisieren wäre. Dabei sind vor allem die Staaten aus dem Süden Lateinamerikas (Cono Sur) selbstkritisch genug, dass sie auch öffentlich zugestehen, wie wichtig die kritische Bewertung der internationalen Gemeinschaft und die menschenrechtlichen Überwachungsinstrumente für ihre Länder gewesen sind, um die Diktaturen zu überwinden. Wie passt dies zusammen?

Der Großteil der Ratsmitglieder aus Lateinamerika und der Karibik2 gehörte auch der 2006 abgeschafften UN-Menschenrechtskommission an. Schon dort wiesen sich die Mitglieder der GRULAC in ihren Redebeiträgen und in ihrem Abstimmungsverhalten als Verfechter der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte (WSK-Rechte), des Rechts auf Entwicklung und der menschenrechtlichen Überprüfung politischer Entscheidungen in den internationalen Finanzagenturen wie Weltbank und Internationaler Währungsfonds aus. Gleiches galt und gilt für die Themen Rassismus und indigene Völker; wobei GRULAC-Länder wie Brasilien, Guatemala oder Mexiko die kritikwürdigen Verhältnisse im eigenen Land gerne ausblenden. Soweit in diesen Themenfeldern strittige Interessen vor allem zwischen westlichen, meist industriell entwickelten und demokratisch verfassten Ländern einerseits (einschließlich der EU-Mitglieder und Kandidaten aus Osteuropa) sowie Ländern des Globalen Südens andererseits bestanden, stimmte GRULAC in der Regel mit dem Süden. Dieses Diskurs- und Abstimmungsverhalten zeigt sich auch im neuen, seit 2006 bestehenden MRR.

Aus diesem Süd-Verbund steigen GRULAC-Ratsmitglieder in der Regel aus, wenn es die Unabhängigkeit des UN-Hochkommissariats und der Mandatsträger/innen der Sonderverfahren sowie die ungefilterte Beteiligung nichtstaatlicher Akteure (NGOs) zu verteidigen gilt. Wortführer des Globalen Südens wie Kuba, China, Südafrika oder Pakistan streben hier eine deutlichere Kontrolle seitens des MRR und mithin der Staaten an. Der Gleichklang mit westlichen Ländern in diesem Bereich war bereits im ersten Jahr des MRR in der Phase der Institutionenbildung zu vernehmen und hatte zum Ergebnis, dass die wesentlichen Instrumente der früheren Menschenrechtskommission für die Arbeit des MRR weitgehend erhalten und die Position des Hochkommissariats gehalten werden konnten. Ebenso argumentiert und stimmt der Großteil der GRULAC-Ratsmitglieder in weitgehender Übereinstimmung mit den westlichen Ländern bei bürgerlichen und politischen Rechten. Ab and zu weichen einzelne GRULAC-Staaten davon ab: Im Bereich Religionsfreiheit und den umstrittenen Resolutionen zur Diffamierung von Religion – eingebracht von Pakistan, Wortführer der Organisation Islamischer Konferenz – stimmte bei der 4. MRR-Sitzung (März 2007) neben Kuba auch Mexiko für diesen Text.

An vorderer Front befinden sich Mitgliedsstaaten der GRULAC, wenn es um die Entwicklung neuer Menschenrechtsstandards geht. Schon zu Zeiten der Menschenrechtskommission gingen etwa bei der Ausarbeitung des Übereinkommens gegen das Verschwindenlassen oder der Resolution zu den Rechten indigener Völker wesentliche Impulse von lateinamerikanischen und karibischen Staaten aus. Ebenso wagte sich Brasilien im Jahr 2003 mit einem Resolutionsentwurf zu den Menschenrechten von Menschen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung vor. Der Textentwurf stieß auf entschiedenen – und bislang erfolgreichen – Widerstand der Mehrheit der Länder aus Asien und Afrika.

Weniger offen für Neues zeigten sich bislang die GRULAC-Staaten allerdings beim Wahlprozedere in der UN-Generalversammlung, um die Mitglieder des MRR auszuwählen. Geist und Buchstaben der Verfahrensregeln sehen eigentlich vor, dass sich mehr Länder als zu vergebende Plätze bewerben. Zusammen mit der Afrika-Staatengruppe tendiert GRULAC jedoch dazu, entweder nur so viele Kandidaten wie Plätze zu präsentieren oder ersichtlich Zählkandidaten zu platzieren. Der ursprünglich gedacht Wettbewerb der Besten (aus Sicht der Menschenrechte) um einen Sitz im MRR läuft so ins Leere.

Unbeschadet dieses Rückfalls in überkommen geglaubte Verhaltensmuster könnte die Menschenrechtspolitik der GRULAC-Staaten im MRR eine Erfolgsstory sein, gäbe es nicht die auffällige Abstinenz bei Länderevaluierungen in Form von Länderresolutionen oder die Passivität bei Debattenbeiträgen unter dem Tagesordnungspunkt IV, „Situationen, die der besonderen Aufmerksamkeit des MRR bedürfen“. Diese Abstinenz hat natürlich eine Vorgeschichte, die auf das unrühmliche Ende der Menschenrechtskommission verweist. Die Kommission scheiterte zu einem wesentlichen Teil am politischen Unvermögen, gravierende Menschenrechtsverletzungen in verschiedenen Ländern gleichermaßen sachgerecht und unparteilich zu bewerten und dafür eine Mehrheit unter den Mitgliedsstaaten zu organisieren. Die doppelten Standards bei der Auswertung etwa der Foltervorwürfe in Abu Ghraib oder Guantánamo, der Kriegsfolgen im Irak, in Afghanistan oder im Kosovo brachten nicht nur das Instrument der Länderevaluierung sondern die gesamte Kommission um ihre Glaubwürdigkeit.

Der neue MRR sollte diese von Macht- und Allianzpolitik diktierte Herangehensweise an menschenrechtliche Bewertungen überwinden. Dazu wurde zum einen das neue Verfahren der universellen periodischen Überprüfung (Universal Periodic Review) aller Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen etabliert. Zum anderen erging an die Ratsmitglieder der Appell, höchsten Menschenrechtsstandards zu genügen; ergo, auch dort die kritische Bewertung zuzulassen, wo befreundete oder alliierte Regierungen betroffen sind. Letzteres wird allenfalls in kleinen Schritten umgesetzt werden, und die Staatengruppe etwa der westlichen Länder lässt bislang wenig Neigung erkennen, hier mit einem gegenüber der Kommission veränderten Politikansatz operieren zu wollen. In dieser Umgebung vertreten die Mitgliedsstaaten der GRULAC den Standpunkt, dass bei erkennbarer Beibehaltung doppelter Standards eine Länderresolution oder Länderbewertung mittels der Tagesordnung vorläufig nur noch dann unterstützt werden soll, wenn die betroffene Regierung dem zustimmt. Die meisten GRULAC-Staaten tragen allerdings das von Pakistan, Ägypten, Kuba oder China vorgetragene Ansinnen nicht mit, das Instrumentarium der Ländermandate ganz zu beenden.

Die Vorgabe der Zustimmung durch die betroffene Regierung halten die GRULAC-Staaten selber nicht durch. In den Resolutionen und Abstimmungen zum Palästina-Konflikt stimmen GRULAC-Staaten in der Regel geschlossen für die Textvorlage der arabischen und afrikanischen Staaten, obwohl die Bewertung erkennbar parteilich zuungunsten Israels ausfällt und die Regierung natürlich auch keine Zustimmung abgibt. Lediglich Guatemala scherte bei diesen Abstimmungen aus. Bei der Behandlung der Menschenrechtslage im Sudan (Ländermandat der Sonderverfahren, MRR-Sondersitzung zu Darfur) agieren die meisten Ratsmitglieder von GRULAC passiv, enthalten sich der Stimme oder tragen zu einem regierungsfreundlichen Text bei. Die Erfahrung mit der eigenen Geschichte kommt hier nicht zum Zuge. Dem Antrag auf eine Sondersitzung zur Demokratischen Republik Kongo im Dezember 2008 hat sich Brasilien komplett verweigert, während andere GRULAC-Staaten den Antrag immerhin unterstützt haben.

Wenngleich die Crux der doppelten Standards bei der Länderbewertung weiterhin existiert, und die westlichen Staaten keine Reform ihres menschenrechtlichen Politikansatzes erkennen lassen, greift die Strategie der GRULAC-Staaten zu kurz. Das wahrscheinlichste Ergebnis davon wird ein Verharren der MRR-Mitgliedsstaaten in machtpolitischen Konstellationen sein; konträr zur pädagogischen Absicht. Notwendig wäre die Rückbesinnung auf die menschenrechtliche und sachorientierte, weniger die diplomatische Expertise, der die GRULAC-Staaten ansonsten offen gegenüberstehen. Wie wäre dies zu erreichen? Unbeschadet der notwendigen Veränderungen bei den anderen Akteuren im MRR scheint mir eine verstärkte Diskussion und öffentliche Herausforderung der GRULAC-Position in Bezug auf Länderevaluierungen notwendig. Die Opfer von Menschenrechtsverletzungen benötigen rasches und an ihren Nöten und Interessen orientiertes Handeln. Das muss den Regierungen aus Lateinamerika und der Karibik deutlicher und öffentlichkeitswirksam vermittelt werden. Möglichkeiten dazu gibt es allein beim MRR in Genf zuhauf.

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