Er ist wieder da: Franz Neumanns Behemoth neu aufgelegt

24. Juli 2018 | Von | Kategorie: Rezensionen, Vergangenheitspolitik

Er ist wieder da: Franz Neumanns Behemoth neu aufgelegt

von Rainer Huhle

Neumann, Franz: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1844, neu herausgegeben von Alfons Söllner (Einleitung) und Michael Wildt (Nachwort), Hamburg (Europäische Verlagsanstalt) 2018, 721 Seiten.

Franz Neumanns im Exil in den USA 1942 geschriebene, dann unter dem Eindruck der Radikalisierung der NS-Vernichtungspolitik 1944 wesentlich erweiterte Analyse des Nationalsozialismus ist trotz ihrer frühen Entstehung bis heute ein Klassiker der NS-Literatur geblieben. Allerdings ist die Geschichte seiner Rezeption von Brüchen und Lücken geprägt. Das amerikanische Original des Behemoth wurde überhaupt erst 1977 ins Deutsche übersetzt und von der Europäischen Verlagsanstalt publiziert. Danach gab es eine weitere Edition in der berühmten Schwarzen Reihe der Fischer-Taschenbücher, die seit Jahren vergriffen ist. Es war also höchste Zeit, dass die Europäische Verlagsanstalt dieses Werk wieder aufgelegt hat. Sie hat dabei die Übersetzung der Erstausgabe übernommen, dem Text jedoch zwei gewichtige Kommentare beigegeben: Der Historiker Alfons Söllner hat den intellektuellen Lebensweg Neumanns nachgezeichnet, der ihn vom Gewerkschaftsjuristen und sozialdemokratischen Arbeitsrechtler der Weimarer Republik zum marxistischen, gleichwohl einflussreichen Politikwissenschaftler in den Jahren des Exils machte und schließlich zurück in das bundesrepublikanische Deutschland führte. Hier konnte er trotz seiner aktiven Mitarbeit an der Etablierung des neuen Fachs „Politische Wissenschaft“ nur tastend sein politisches Denken weiterentwickeln. Nach seinem frühen Unfalltod 1954 geriet er nahezu in Vergessenheit.

Als in den sechziger Jahren „Faschismusanalyse“ allmählich in der Politikwissenschaft, aber auch in benachbarten Sozialwissenschaften wie Soziologie und Psychologie an Bedeutung gewann, wurde auch der Behemoth wieder zum Begriff, allerdings mehr als Geheimtipp, denn trotz der Konjunktur des Themas war eben bis 1977 nur die amerikanische Ausgabe, diese allerdings auch in preiswerten Taschenbuchausgaben, verfügbar. Praktisch unbekannt blieb damals allerdings, – vermutlich zum Glück für den Erfolg des Buches – dass Neumann sich mit Behemoth  für einen Job in der US-Regierung qualifizierte. Zunächst arbeitete er für das Board of Economic Warfare und dann für die Forschungs- und Analyseabteilung des Office of Strategic Services (OSS), den Vorläufer der CIA. Er war dort keineswegs allein. Ein beträchtlicher Teil der emigrierten linken deutschen Sozialwissenschaftler arbeitete als Angestellte oder externe Mitarbeiter für die US-Regierung, um ihren Teil zur Überwindung des NS-Regimes beizutragen. Alfons Söllner ist der deutsche Historiker, der sich seit vielen Jahren mit dieser merkwürdigen Zusammenarbeit von marxistischen Sozialwissenschaftlern wie Neumann, Herbert Marcuse oder Otto Kirchheimer und der US-Regierung beschäftigt hat.[1] Im Kontext seines Vorworts zu dieser Neuausgabe des Behemoth ist dies nur ein Aspekt unter vielen, die er im Werdegang Neumanns beleuchten kann. Seine „Archäologie“ ist dazu immer noch ein Standardwerk, zu dem inzwischen die wichtigen neuen Forschungen und Dokumentationen von Raffaele Laudani getreten sind.[2]

Michael Wildt unternimmt es in seinem Nachwort, die Faschismusanalyse Neumanns in den Kontext der zeitgenössischen und heutigen NS-Forschung zu stellen. Neumanns Analyse des Nationalsozialismus sieht, anders als viele spätere Theoretiker, die die Führungsspitze um Adolf Hitler als einziges Machtzentrum postulierten, im Herrschaftssystem des NS eine Art Polyarchie. Partei, Staatsbürokratie, Wirtschaft und Repressionsorgane sind die wichtigsten Säulen dieser Herrschaft, die aber ständig in Konkurrenz zueinanderstehen. Neumann geht so weit zu erklären, dass der NS-Staat daher überhaupt kein Staat, sondern ein neuartiges Herrschaftssystem sei. Mit der Theorie seines einstigen Sozius und Kollegen Ernst Fraenkel vom „Doppelstaat“ konnte er daher, wie Wildt anmerkt, wenig anfangen. Fraenkel war erst 1938 emigriert und hatte vorher in Deutschland sorgfältig das empirische Material für seine These gesammelt, dass in NS-Deutschland ein rechtlich organisierter Staat neben einem – allerdings zunehmenden – willkürlichen Maßnahmenstaat bestünde. Sein Buch erschien nach seiner Emigration ebenfalls in die USA bereits 1941[3], und in bemerkenswerter Parallele erschien auch der „Dual State“ erst 1974 in einer deutschen Ausgabe, wiederum besorgt von der Europäischen Verlagsanstalt.

Fraenkels Buch ist heute vermutlich das wirkungsmächtigere in der theoretischen Literatur über den Nationalsozialismus.  Seinerzeit jedoch war das zweifellos Neumanns Behemoth. Denn während Fraenkel sich im akademischen Umfeld der New Yorker New School for Social Research bewegte, seine Texte mit Unterstützung der Rockefeller- und der Carnegie-Stiftung verfasste, und erst 1944 eine Anstellung bei der US-Regierung erhielt, bewegte sich Neumann näher am Machtzentrum. Seinen durchschlagendsten Erfolg durfte Neumann erleben, als seine Analyse des NS-Herrschaftssystems vom amerikanischen Chefankläger des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg, Robert H. Jackson, weitgehend übernommen wurde.[4]

Wildt gelingt es in seinem Nachwort, die singuläre Position Neumanns in der NS-Literatur, zwischen ihrem kurzlebigen politischen Triumph und ihrer heute oft unbegründeten überwiegend kritischen Ablehnung zu würdigen. Zu Recht greift er dabei auch auf Neumanns zeitweisen Studenten, den ebenso lange ins Abseits gestellten Raul Hilberg, zurück, dessen strukturalistisch angelegte Analyse des Holocaust auch erst heute wieder stärker anerkannt wird. Neumanns Analyse war zwar marxistisch orientiert, aber weit entfernt vom konformistischen kommunistischen Duktus der Dimitrow etc. Im Gegensatz zu der stalinistisch geprägten Orthodoxie hatte seine durchaus ökonomisch fundierte Analyse der Machtstrukturen des Nationalsozialismus auch Platz für eine Theorie des Antisemitismus, die weder platt materialistisch noch psychologisch reduziert war. Sowohl Alfons Söllners wie Michael Wildts Essay geben genug gute Gründe, dem Behemoth nicht nur seinen unbestreitbaren prominenten Platz in der Geschichte der Theorie des NS-Systems einzuräumen, sondern ihn zurück in das immer wieder aufs Neue notwendige Nachdenken über Ursachen und Strukturen dieses Regimes zu holen.

 

 

[1] Alfons Söllner: Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Frankfurt/M (Fischer) 1986 (Band 1: Analysen von politischen Emigranten im amerikanischen Geheimdienst 1943-1945; Band 2: Analysen von politischen Emigranten im amerikanischen Außenministerium 1946-1949)

[2] Raffaele Laudani: Im Kampf gegen Nazideutschland: Berichte für den amerikanischen Geheimdienst 1943-1949 / Franz Neumann, Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer, Frankfurt/M (Campus) 2016

[3] Ernst Fraenkel: The Dual State. A Contribution to the Theory of Dictatorship, New York (Oxford University Press) 1941

[4] Nürnberger Menschenrechtszentrum (Hg.): Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg 1945/46. Die Reden der Hauptankläger, neu gelesen und kommentiert, Hamburg (CEP Europäische Verlagsanstalt) 2015, S. 28ff.

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