Wenn
NMRZ
 

Ausstellung

Wenn das Leid Gestalt annimmt
Politische und soziale Gewalt in den Werken der Volkskünstler Perus

Rainer Huhle

(Dieser Beitrag erschien zuerst in HISPANORAMA, Heft 100, 2003, S. 67-86)

Lo andino creador o recreador, por oposición a creado, en la plástica, es hoy la representación artesanal en evolución, en representación de espacios temáticos perdidos, o aun nunca conocidos - Mirko Lauer


Als ab 1532 die spanischen Eroberer das Inkareich unterwarfen, fanden sie überall hochentwickelte Kulturen vor, die vielfältige reiche Traditionen bildender Kunst aufwiesen. Während im Bereich der offiziellen repräsentativen Darstellungen nach der Eroberung weitgehend die spanisch-europäischen Formen durchgesetzt wurden, blieben in der bäuerlich geprägten Volkskunst altperuanische Darstellungsformen und künstlerische Techniken stärker erhalten. Sie gingen eine originelle Verbindung mit spanischen Motiven ein, die zu einer ganz eigenständigen künstlerischen Tradition führte.

Ein genauerer Blick auf die Werke der peruanischen Volkskunst (und in gewissem Umfang auch die der benachbarten Andenländer) zeigt, dass in ihnen auch früher schon das Leid und die Gewalt mit enthalten waren, die mit der spanischen Eroberung für die einheimische Bevölkerung verbunden war. Auf subtile Weise war diese Kunst schon immer "politisch", auch wenn dies gar nicht in der erklärten Absicht ihrer Schöpfer lag. Ein bekanntes Beispiel sind die unzähligen Darstellungen des Apostels Jakobus ("Santiago"), dessen ambivalente Rolle Beschützer und Bezwinger der Indios stets viel Raum für die Darstellung gewalttätiger Machtausübung ließ. Tiefe Spuren in der Volkskunst hat auch der im Brauchtum des ländlichen Peru seit dem Ende des 18. Jahrhunderts dokumentierte (Muñoz 1993: 213) rituelle Kampf zwischen dem (spanischen) Stier und dem (indianischen) Kondor hinterlassen, eine den eigenen Vorstellungswelten entsprechende Weiterentwicklung des aus Spanien schon wenige Jahre nach der Conquista eingeführten Stierkampfs. In Ayacucho ist die möglichst dramatische Darstellung der "Yawar fiesta" als - historisch nicht unbedingt korrekte - Repräsentation dieses gewalttätigen Zusammenpralls zweier Welten geradezu zu einem Standardmotiv geworden.

Dies sind nur wenige Hinweise, die zeigen, dass die dem ersten Anschein nach lediglich traditionellen Mustern verhaftete Volkskunst immer offen gewesen ist für die Aufnahme neuer Elemente, die sich aus dem historischen Wandel ergaben. Ob religiös geprägte Kunstformen oder schlichte Gebrauchsgegenstände, die fast immer anonymen Volkskünstler waren meist am Puls der Zeit, ohne ihre traditionellen Ausdrucksformen aufzugeben. Das ist bis heute so geblieben.

Die traditionelle Handwerkskunst

Die Anfänge der heutigen peruanischen Volkskunst sind für den Bereich der bildenden Kunst in der Fertigung praktischer und symbolischer Gebrauchsgegenstände zu suchen . Wo die entsprechenden Rohmaterialien vorhanden waren und zugleich eine beständige Nachfrage nach bestimmten Artikeln bestand, entwickelten sich spezialisierte Formen des Kunsthandwerks, gleich ob es sich dabei um Produktion für den eher bäuerlichen Gebrauch oder für den anspruchsvollen Bedarf von Grundbesitzern oder der Kirche handelte. Einige Beispiele:

Mate

Überall auf der Welt, wo es hartschalige Kürbissorten gibt, haben die Menschen den hohen Gebrauchswert dieser Schalen, aber auch ihre hervorragend Eignung zu künstlerischer Bearbeitung entdeckt. In der Wüste Perus hat man Exemplare dieser mit dem von Quechua "Mati" ("Vaso o platos de calabazo para beber o comer" ) hergeleiteten Wort "mate" bezeichneten Kürbisschalen gefunden, die 4000 Jahre alt sind und schon damals künstlerisch bearbeitet wurden. Während der Kolonialzeit wurden aus den Mates kostbare, mit Silbereinfassungen versehene Gefäße. Damals auch begann man, die Mates mit den von den Spaniern angenommenen Mudejar-Ornamenten zu verzieren, deren kunstvolle Muster bis heute typisch für die Gestaltung vor allem des oberen Teils der Mates sind. Heute gibt es in Peru mehrere Gebiete, in denen sich die Herstellung von bearbeiteten Kürbisschalen als traditioneller Zweig des lokalen Kunsthandwerks herausgebildet hat. Während die Mates aus dem Norden eher einfache Verzierungen und Kolorierungen aufweisen und noch in erster Linie mit Blick auf den Gebrauch hergestellt werden, hat sich zunächst in Ayacucho und dann im zentralen Mantarotal im Zentrum Perus eine Tradition stark verzierter geschnitzter Kürbisse herausgebildet, deren Anfänge im 19. Jahrhundert in Ayacucho zu finden sind, und zwar in den heißen trockenen Tälern im Osten, wo sowohl die Kürbispflanze als auch Zuckerrohr gedeihen. So entstand eine spezifische Form der Nutzung der Mates, die mit einem gezackten, als Deckel abnehmbaren Oberteil ausgestattete Zuckerdose, die bis heute auf allen Kunsthandwerksmärkten des Landes zu den häufigsten Objekten gehört, so sehr, dass "azucarero" in Orten wie Huanta oder Mayocc praktisch zu einem Synonym für "Mate" geworden ist (Sabogal 1987: 21).

Textilkunst

Wie in allen Regionen der Anden, war auch in Ayacucho das Weben oft sehr feiner Stoffe eine der wichtigsten Handwerkszweige, schon deshalb, weil Tuche zu den wichtigsten Artikeln gehörten, mit denen die Dörfer ihren Tribut an die jeweiligen Herren zu leisten hatten. Schon in der Inkazeit, aber auch unter der spanischen Herrschaft wurden die einzelnen Regionen angehalten, sich in ihrer Kleidung erkennbar zu unterscheiden. Vor allem die Kirche normierte die Kleidung dann weiter, so dass sich ein Kanon von quasi verbindlichen Kleidungsstücken für die andine Bevölkerung, vor allem die Frauen, herausbildete, der dennoch deutliche regionale Differenzierungen ermöglichte. Trotz des starken Bemühens von Kirche und Verwaltung während der Kolonialzeit, eine Kleiderordnung zu überwachen, blieben einige Kleidungsstücke, vor allem die Gürtel und Llicllas der Frauen, weiterhin Träger alter Codes, die sich in den Mustern der Webstreifen finden und erst in den letzten Jahren stärker wissenschaftlich erforscht wurden. Ähnlich wie z.B. die Töpfer litten die Weber stark unter der Verdrängung ihrer Produkte durch industrielle Massenware, war ihre Kundschaft doch bei aller Kunst in erster Linie am Gebrauchswert der Kleidungsstücke interessiert.
Keramik

Ob der Mate, wie der peruanische Kunsthistoriker José Sabogal meint, das Vorbild für die ersten Keramikgefäße des alten Peru abgegeben hat, oder ob hier einfach die elementare Grundform des Rundgefäßes ein neues Material gefunden hat, sei dahin gestellt. Jedenfalls gehört der gebrannte Ton zu den ältesten in aller Welt genutzten Materialien zur Fertigung von Gebrauchsgegenständen. In den peruanischen Anden sind Tongefäße erst relativ spät, vor etwa 4000 Jahren entstanden, gehörten dann aber zu den wesentlichen Elementen zahlreicher vorspanischer Kulturen. Die Verbreitung ihrer Produktionsstätten ist bis heute an bestimmte ökologische Voraussetzungen, insbesondere das Vorkommen geeigneter Tone, Brennmaterialien und eventuell Färbemittel gebunden. In Ayacucho ist es vor allem die Gemeinde Quinua, bekannt durch die entscheidende Schlacht in der "Pampa von Quinua" im Unabhängigkeitskrieg gegen die Spanier, die eine hochentwickelte Tradition keramischer Produktion aufweist. Zu den traditionellen Produkten gehören neben Gebrauchsgefäßen auch zahlreiche kultische Gegenstände wie z.B. Kreuze, häufiger noch kleine Kirchen aus Ton, die auf Hausdächern über das Glück der Bewohner wachen.

Alabaster (Piedra de Huamanga)

Kultgegenstände sind auch das wesentliche Erzeugnis eines weiteren Zweigs der Volkskunst, der vor allem in Ayacucho Bedeutung erlangt: den Skulpturen aus "Piedra de Huamanga", einem besonderen Alabaster, der in der Provinz Cangallo im Süden des Departements gewonnen wird. Aus vorspanischer Zeit ist kein Gebrauch dieses Materials überliefert. Umso reicher sind die erhaltenen Werke aus kolonialer und republikanischer Zeit, bei denen es sich fast ausschließlich um religiöse Gebrauchskunst wie Wandreliefs, Heiligenstatuen, Altarelemente etc. handelt. Auftraggeber hierfür waren naturgemäß in erster Linie kirchliche Funktionsträger, aber auch wohlhabende Hacendados oder Stadtbewohner. Die alte Bischofsstadt Ayacucho, ein Zentrum kirchlicher Orthodoxie seit dem 16. Jahrhundert, mit ihren 33 großen Kirchen und einer stark traditionell und regionalistisch geprägten Oberschicht, war der Boden, auf dem diese auch für die Kolonialzeit ungewöhnliche religiöse Kunst gedeihen konnte. Seit dem 19. Jahrhundert sind auch einige Stücke aus volkstümlicher religiöser Praxis, vor allem Retablos (s.u.), erhalten, was jedoch aufgrund des hohen Preises des Materials die Ausnahme bleiben musste. So waren die Bildhauer aus Piedra de Huamanga keine Volkskünstler im engeren Sinn, sondern thematisch und ästhetisch stark von ihrer kleinen Zahl von hochgestellten Auftraggebern abhängig. Ähnlich wie die Kirchenmaler orientierten sie sich in der Motivwahl und -gestaltung stark an importierten europäischen Grafikblättern und anderen Vorbildern (Majluf/Wuffarden 1998). Der weiße Stein wurde in der Blütezeit dieser lokalen Bildhauerkunst gewöhnlich farbig bemalt. Im zwanzigsten Jahrhundert machte die Alabasterkunst den Niedergang von Macht und Pracht der Kirche und der Grundbesitzer in Ayacucho mit. Erst mit dem allgemeinen Aufschwung der Volkskunst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts unter neuen Vorzeichen erlebte auch dieser Zweig eine Renaissance.
Retablos

Die Viehhalter, Bauern und Fuhrleute benötigten für ihre Zeremonien die Sanmarcos, Holzkästen, in denen üblicherweise der hl. Markus, Patron der Stiere, der Hl. Lukas, Patron des Löwen, der Hl. Johannes der Täufer, Patron der Schafe, der Hl. Antonius, Patron der Maultiere und die Hl. Agnes, Patronin der Ziegen, dargestellt waren. Meist trat noch der Hl. Jakob, Patron der Lamas, hinzu (Razzeto 1982: 92). Bemerkenswert ist, dass der Schutzpatron der Ackerbauern, der Hl. Isidor, in den ayacuchanischen Retablos nicht vorkommt , was auf die ausschließliche Verwendung dieser schon aus Spanien bekannten (Lauer 1982: 148) tragbaren Altäre durch die Hirten und Maultiertreiber hinweist, die übrigens als die Fernhändler des ländlichen Peru auch den Vertrieb der Retablos übernahmen. In den Kirchen, und auch auf den kleinen ebenfalls tragbaren Tafelbildern war die Figur des Hl. Isidor jedenfalls, zusammen mit den übrigen Schutzpatronen und Maria, prominent vertreten (Macera 1979). Neben den Heiligen waren im Sanmarcos immer auch die von ihm Beschützten dargestellt: die Tiere und ihre Herren. Insgesamt bevölkerten so etwa 20 Figuren das kleine Kästchen (Razzeto 1982: 92).
Ein anderer traditioneller Name für den retablo war "missa" (Jiménez 1992). Dieser Name leitet sich vom Verwendungszweck der Retablos her: In einem ritual unter freiem Himmel nahm er seinen Platz neben anderen Gegenständen ein, wobei die ganze "Missa" oder "mesa" wiederum die Ordnung der Figuren des Retablo und zugleich die kosmische Ordnung, die in ihrer Gliederung von göttlichem Oben und menschlichen Dasein auf der Erde Christentum und altandiner Kultur gemeinsam war, spiegeln konnte (Jiménez 1992: 34).
Neben den einfachsten Sanmarcos, die bisweilen auch nur einige der genannten Heiligen enthielten, bildete sich ein weiterer, zweistöckiger Typ heraus. In diesem Fall wurde in der Regel im unteren Stockwerk der auftraggebende Hacendado dargestellt oder anderes aus dem realen Leben der Bauern und Hirten. Ein bekanntes Motiv hierbei war "Pasión", wobei der Besitzer einen Viehdieb auspeitscht, während seine Frau um Gnade bittet (Del Solar 1992: 19) - auch dies ein Hinweis auf die Schutzfunktion des Retablos.

Dass auf diesem Hintergrund die traditionelle Darstellungsweise der Heiligen streng reglementiert war, kann nicht überraschen. Wie Joaquín López Antay, der erste überregional bekannt gewordene Retablokünstler betonte, hatte jeder Heilige seinen Platz im Retablo, seine Insignien, seine Kleidung und seine Farbe (Razzeto 1982: 97). "Si uno quiere, puede cambiar, pero ya no es igual, ya no es ese santo." Nicht künstlerische Freiheit, Einhaltung der Darstellungsregeln war gefragt, wenn der Retablo seinen Zweck erfüllen sollte. So lange seine rituelle Funktion festgeschrieben war, konnte sich somit auch seine Ästhetik nicht ändern.

Bilder aus Sarwa

Dass für solche und ähnliche Rituale gelegentlich auch Tafelbilder Verwendung fanden, wurde bereits erwähnt. In der Kultur der Inka spielte Malerei eine bedeutende Rolle. Die Wände zeremonieller Gebäude waren oft bemalt, und bis heute sind zahlreiche bemalte Holzgefäße (Qeros) erhalten. Im Gegensatz zu anderen präkolombinischen künstlerischen Techniken hat sich die Kunst des Malens in der späteren Volkskunst nur wenig fortgesetzt, was nicht zuletzt auf die heftige Verfolgung bildlicher Darstellungen bei den Indios durch die spanischen Missionare zurückzuführen ist. Wie einige Chronisten berichten , diente die Bemalung von Tafeln bei den Inkas, ähnlich wie die Knotenschnüre (quipus) auch der Buchführung über die Bevölkerung und über vorhandene Ressourcen.

Ein bemerkenswerte Ausnahme stellt das Dorf Sarwa (oder Sarhua in der spanischen Schreibweise) im südlichen Ayacucho dar. Eine lokale Legende besagt, daß sich dorthin einst die von den Spaniern aus Cuzco vertriebenen Maler flüchteten. Sicher ist, daß sich in Sarwa schon zur Kolonialzeit die Tradition herausbildete, jungen Familien beim Hausbau die Verbundenheit der Verwandten und Freunde durch eine bemalten Stützbalken am Haus zu zeigen. Auf diesem Balken verewigten sich die Beteiligten durch selbstgemalte oder auch von anderen gefertigte Portraits, die sie in charakteristischen Lebenszusammenhängen zeigen. Der Balken ist somit zugleich eine symbolische Repräsentation der gemeinschaftlichen Arbeit des Hausbaus. Zuständig für dieses rituelle Geschenk an die Familie war der Gevatter der Familie, der durch diese selbstgewählte Verwandtschaftsbeziehung eine besondere Verantwortung übernommen hatte. Die Balken heißen daher auch "Gevatterbalken".

Später wurde aus den Balken ein großes bemaltes Brett, das äußerlich auf einem Stützbalken angebracht wurde. Das älteste erhaltene Brett datiert aus dem Jahr 1876 (Nolte 1991: 14). Neben der Darstellung der "Familienchronik", bzw. der am Hausbau beteiligten erweiterten Familie, weisen alle noch erhaltenen Bretter an ihrer Spitze eine Darstellung der Sonne (Inti), und teilweise auch der "Wamanis", der traditionellen Berggötter in der Umgebung des Dorfes auf. Im Feld darunter sind harawi-Sängerinnen und Chicha-Träger abgebildet, die ebenfalls auf vorspanische religiöse Riten verweisen, zugleich aber auf unentbehrliche Elemente bei der Feier zur Einweihung des neuen Hauses.

Am unteren Ende des Brettes, über der obligatorischen Widmung der Gevatter hingegen ist jeweils die Muttergottes dargestellt, die zugleich die "pachamama", die Mutter Erde repräsentiert. Christliche und vorchristliche religiöse Symbole umrahmen so die ganze Familie und gewähren dem erbauten Haus und seinen Bewohnern Schutz. In den dazwischen liegenden Feldern sind diejenigen Familienangehörigen abgebildet, die aufgrund ihrer sozialen Stellung in der Gemeinde zur Mithilfe am Bau in der Lage und verpflichtet sind (Araujo 1998). Wichtig bei diesen Gevatterbalken war, wie bei den Retablos, nicht die künstlerische Qualität, sondern die "Richtigkeit" des Abgebildeten.

Von der artesanía zur arte popular

Der allmähliche Zerfall traditioneller bäuerlicher Lebensformen, der freilich in Ayacucho weniger schnell voranschritt als in anderen Landesteilen, brachte einen Rückgang der Nachfrage nach vielen dieser Gegenstände mit sich. Die Folge war ein Niedergang auch der handwerklichen Produktion und die bis heute anhaltende Emigration in die großen Städte, vor allem nach Lima . Andererseits erlaubte jedoch die wachsende Bedeutung der (klein)-städtischen Zentren, vor allem der Departementhauptstadt Ayacucho eine verstärkte Spezialisierung und Professionalisierung der handwerklichen Produktion. Die in die bäuerlichen und kirchlichen Rituale eingebundene Produktion künstlerischer Gebrauchsgegenstände reichte nicht mehr aus, neue Märkte waren gefragt. Neben einer Weiterentwicklung des Gebrauchshandwerks auf neue Bedürfnisse, die allerdings immer stärker von industriell hergestellten Produkten befriedigt wurden, bot seit etwa den vierziger Jahren der beginnende Tourismus eine Möglichkeit, auch kunsthandwerkliche Gegenstände ohne direkten Gebrauchswert abzusetzen.

So wurde z. B. aus dem alten, fast schon aussterbenden Sanmarcos ab etwa 1940 (Macera/Wiesse 1997: 22) der heutige Retablo , von dem jährlich Zehntausende in alle Welt verkauft werden. Die Heiligen wurden durch "typische Szenen" ersetzt: Darstellungen bekannter Feste, ländliche Szenen wie die Kaktusernte oder Stierkampf, die handwerkliche Produktion selbst (Hutmacherei, Maskenbildnerei, Weberei etc.), die kirchlichen Prozessionen vor allem der Karwo-che, Legenden und Rituale und vieles mehr tauchten in den Retablos auf. Dabei vermehrte sich die Zahl der Figuren sprunghaft, manche Retablos bekamen drei oder vier Stockwerke, wurden breiter und bis über einen Meter hoch. In einzelnen Fällen wurde schließlich auch die Form des viereckigen Kastens mit bemalten Türen und einem flachen Dach aufgebrochen. Selbst die Türen werden bisweilen noch als Kästen gearbeitet, um noch mehr Figuren unterbringen zu können.

Die Töpfer zogen bald nach. Teilweise übernahmen sie Motive der Retablisten, teilweise entwickelten sie eigene Motive und vor allem Formen, die aus Elementen der herkömmlichen Gebrauchskeramik hergeleitet wurden. So sind etwa die ursprünglich zum Schutz der Häuser auf die Dächer der Dörfer gestellten kleinen Tonkirchen längst in allen Größen, und bereichert um folkloristische Szenen, erhältlich. In Quinua, dem Zentrum der ayacuchanischen Keramik, das auf dem Weg in die Urwaldgebiete liegt, wurden typische Figuren aus der Volkstradition wie die "chunchos" (Urwaldbewohner) oder Musiker zu beliebten Motiven für freistehende Einzel- oder Gruppenfiguren, wobei die Töpfer aus Quinua große Fantasie und oft auch satirisches Temperament entwickelten, dabei jedoch bis in die 90er Jahre hinein in die traditionelle Formensprache und die durch die lokal vorhandenen Farberden vorgegebenen Farbmuster eingebunden blieben.

Die traditionelle Weberei, deren wichtigste Produkte die verschiedenen traditionellen Kleidungsstücke vor allem der Frauen waren, wurde bereits in den sechziger Jahren durch die ganz Lateinamerika durchlaufende Welle von "Entwicklungsprojekten" des amerikanischen Peace Corps "modernisiert". Neue Motive und Muster und Chemiefarben hielten Einzug, Absatzmärkte im Ausland für in Ayacucho neuartige Produkte wie Wandteppiche wurden erschlossen. Letztlich konnten diese Produkte sich aber als nicht hinreichend "typisch" durchsetzen. In einer zweiten Erneuerungswelle suchten sich die Weber ihre Motive in der Inka- bzw. der lokalen vorinkaischen Warikultur und entdeckten die zahlreichen natürlichen Färbemittel und -techniken wieder.

Besonders hart traf die Krise die Alabasterbildhauer, die einst weit über die Grenzen Perus hinaus exportiert hatten (González Carré u.a. 1995: 237). Zusammen mit ihrem exklusiven Kundenkreis aus kirchlichen Würdenträgern und "aristocracia huamangina" war sie bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahezu verschwunden (Arguedas 1985: 161). Die wenigen verbliebenen Werkstätten von "talladores de piedra" verlegten sich auf das Schneiden und Zusammenkleben von "Flughafenkunst" wie Aschenbechern, Repliken der Kathedrale oder des Obelisken von Quinua, und Weihnachtskrippen in Ostereiern.

Die Malerei von Sarwa erfuhr im abgelegenen Dorf selbst zunächst keine neuen Impulse. Anders als die Töpfer, Mateschnitzer oder Retablisten waren die Maler von Sarwa auch keine handwerklichen Spezialisten, die vom Verkauf ihrer Produkte ganz oder teilweise ihren Lebensunterhalt bestritten (Evanán Poma 1982). Erst mit der massiven Emigration seit den siebziger Jahren trat die Malerei von Sarwa in eine neue Entwicklungsstufe ein. Einige der künstlerisch begabtesten Maler des Dorfes gründeten in Lima eine Werkstatt, in der sie auf Holztafeln gemalte Ölbilder produzierten und auf den Kunsthandwerksmärkten der Hauptstadt anboten. Diese Bilder verließen das traditionelle Schema der "Gevatterbalken". Stattdessen begannen die emigrierten Maler, die ausgeprägt traditionelle Kultur ihres Heimatdorfes in allen Einzelheiten zu malen. So entstand ein langer Katalog von Themen, der die grundlegende Mythen, traditionellen Bräuche des Dorfes, die über den Jahreslauf verteilten landwirtschaftlichen und handwerklichen Arbeiten und schließlich auch wichtige Vorgänge aus dem politisch-sozialen Leben der Gemeinschaft umfasst. Zu den Themen gehört auch der Hausbau und damit die traditionelle Malerei, die sich somit gewissermaßen selbst portraitiert.

Der künstlerische Stil dieser Bilder ist deutlich an den laienhaften Darstellungen auf den alten Balken oder Hausbrettern orientiert, weist aber zugleich neuartige professionelle Züge auf. Raumaufteilung, Farbgebung und Linienführung sind auf diesen Bildern einheitlich durchgestaltet. Auf dieser Grundlage können auch zahlreiche Mitglieder einer Werkstatt stilistisch einheitlich Bilder vorlegen, wie es für den Absatz in der Großstadt gewünscht wurde. Diese Weiterentwicklung der Malerei von Sarwa fand jedoch nicht abgetrennt von den Entwicklung im Dorf selbst statt. Die dörfliche Perspektive wurde in den in Lima produzierten Bildern peinlich genau gewahrt. Das Bild "Qala vanidoso" (eitler Stadtbewohner) etwa, in dem die in die Stadt emigrierten Dorfbewohner karikiert werden, ist in Lima gemalt worden.

Bei dieser Entwicklung lassen sich zwei gegensätzliche Tendenzen beobachten, die beide auch als ökonomisch rationale Strategien angesichts eines sich wandelnden Marktes verständlich sind. Sie sind daher durchaus auch bei den gleichen Künstlern bzw. Werkstätten anzutreffen:

- Die Produktion von in der Regel kleinformatiger Massenware für die Touristenmärkte der Region, vor allem aber der Hauptstadt Lima und in gewissem Umfang auch im Ausland. Miniretablos im Streichholzschachtelformat mit Motiven wie "Kaktusernte" oder kleine grob geschnitzte Kalebassen mit Darstellungen einer Bauernhochzeit, Miniaturkrippen und Aschenbecher aus Piedra de Huamanga mit peruanischem Wappen, oder gewebte Bettvorleger mit Inkamuster sind einige dieser massenhaft in Heimarbeit hergestellten stereotypen Produkte, die zu Schleuderpreisen angeboten werden . Das "Typische", oder "lo costumbrista", ist in diesen Arbeiten weniger durch die Hersteller als durch den Zwischenhändler definiert, der den artesanos vermittelt, was auf dem überwiegend städtischen Markt als volkstümlich oder landestypisch akzeptiert wird.
- die Erarbeitung neuer Inhalte und Ausdrucksformen in meist größeren aufwendigen Arbeiten durch individuelle Künstler, die die Gebundenheit der traditionellen Ausdrucksformen der Volkskunst als Herausforderung für kreative Weitergestaltung annahmen. Auch dies ist u.a. eine ökonomisch begründete Antwort auf die Krise des traditionellen Marktes. Die individuell gestalteten Arbeiten mit neuen, ansprechenden Motiven erzielen weit höhere Preise als die Wiederholungen tradierter Muster .


Bei den besten Volkskünstlern hat dieser Prozess zu einer Wiederbelebung des Interesses an der eigenen Kultur geführt. Manche von ihnen betrieben gründliche Untersuchungen, ja regelrechte Forschungsreisen in entlegene Dörfer auf der Suche nach neuen und authentischen Motiven für ihre Werke. Andere fanden in der Geschichte Ayacuchos und Perus Motive für ihre Arbeiten. Und einige der Volkskünstler entdeckten, dass auch die soziale Realität der Gegenwart Stoff für die künstlerische Bearbeitung bot.

Angeregt wurden solche Entwicklungen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht zuletzt durch das Interesse von Künstlern, Literaten, Historikern oder Akademikern wie dem Dichter und Anthropologen José María Arguedas, der mit zahlreichen indigenen Künstlern und Musikern zeit seines Lebens in freundschaftlichem Dialog stand. Zu nennen sind hier ferner der Historiker Pablo Maceda, der Maler und Grafiker José Sabogal oder die Schwestern Alicia und Alfonsina Barrionuevo, die die peruanische Volkskunst seit der Mitte des letzten Jahrhunderts neu für das Selbstverständnis auch des kreolischen Peru "entdeckten". Erst seit dieser Zeit sind uns auch Namen individueller Meister bekannt. Durch die persönlichen Beziehungen zu diesen Intellektuellen, die zwar nicht mehr dem naiven Indigenismus der vorangegangenen Generationen anhingen, sich aber sehr wohl für die Anerkennung der indigenen Kultur auf nationaler Ebene einsetzten, erfuhren die Volkskünstler eine Aufwertung ihrer Arbeit und konnten sich mit neuem Selbstbewusstsein an die Fortentwicklung ihrer künstlerischen Arbeit machen. Dieses Selbstbewusstsein, das ja auch die Reflexion über die eigene Rolle, ein Bewusstsein der Künstler von sich selbst implizierte, bedeutete zugleich den eigentlichen Übergang von der "artesanía" zur "arte popular". Der kulturelle Kontext von Produzenten und Abnehmern der Werke ist nicht mehr identisch wie in der traditionellen Produktionsweise. Die neue Kundschaft schätzt die "artesanía" nicht mehr wegen ihres materiellen oder rituellen Gebrauchswerts, sondern als künstlerisches Objekt oder als ethnographische Trouvaille - für beides kann "arte popular" stehen.

Mit dieser Ermutigung ging daher auch eine starke Beeinflussung durch die an der "arte popular" interessierten Intellektuellen einher, die tatsächlich oder im übertragenen Sinn die Rolle von Paten ("padrinos") mit den dieser Rolle in der andinen Kultur zugewiesenen Rechten und Pflichten einnahmen. Die herausragenden Künstler gehörten und gehören teilweise selbst der lokalen Bildungselite an und teilen deren Neigung, Traditionen zu erfinden und auszuschmücken, die dann wieder von den Intellektuellen feingeschliffen und als Rohmaterial für ihre eigenen Arbeiten verwendet wurden. In diesem Wechselspiel entstanden hervorragende und innovative künstlerische Arbeiten, aber auch manche fragwürdige Interpretationen.

"El retablo es un cerro, por eso lleva un triángulo en la parte superior. Cuando se realiza el pago al apu, el cerro se abre. Entonces se aprecia dentro todo un mundo mágico que intento plasmar en camarines y púlpitos con imágenes religiosas y de la vida cotidiana," diktierte z.B. einer der großen Retablisten, Jesús Urbano, einer Journalistin, die diese gern gehörten, der Geschichte des Retablo jedoch recht fernen Erläuterungen im offiziellen Staatsanzeiger abdruckte (Pinedo 2002). Das Museo Nacional de la Cultura Peruana stellt auf seiner Internetseite einen der großartigen Keramikkünstler aus Quinua, Mamerto Sánchez, vor und zitiert ihn mit der Bemerkung, dass sich sein Vater seine Kunst noch direkt vom lokalen Wamani (Berggott) geholt habe: "Y conversaba con él. 'Cuando regresaba, había sacado varios modelos sin haberle enseñado nadie, así mediante el wamaní'" (Museo Nacional 2002). Derartige Stilisierungen, die immer auch ein Stück Wirklichkeit reflektieren, sind Teil des Findungsprozesses für den Standort dieser hochentwickelten Volkskunst. José María Arguedas zufolge, der die Entwicklung der ayacuchanischen Volkskunst stets mit leidenschaftlicher Aufmerksamkeit verfolgte, war es der ausgeprägt mestizische Charakter der ayacuchanischen Volkskünstler, der es ihnen besser als dem rein ländlich geprägten Kunsthandwerk anderer Region ermöglichte, diesen Wandel kreativ mitzugestalten (Arguedas 1958: 162).

Ihren heutigen Platz in den nationalen Museen und auf den Kulturseiten der angesehen Zeitungen hat die ayacuchanische und überhaupt die peruanische Volkskunst nicht ohne heftigen Widerstand erreicht. Exemplarisch machten das die heftigen Polemiken deutlich, als 1975 der Premio Nacional de Cultura des Nationalen Kulturinstituts von der Jury an Joaquín López Antay vergeben wurde . López Antay war damals bereits ein bekannter Retablist, der von Arguedas "entdeckt" und gefördert worden war und mit seinem persönlichen Stil und seinen zahlreichen neuen Motiven auch international Anerkennung gefunden hatte. Gleichwohl empfanden es viele "artistas cultos" aus der Hauptstadt, die sich in ihren Arbeiten an den international stilbildenden Kunstformen orientierten, als Beleidigung, dass ein "Kunsthandwerker" (artesano) diesen Preis erhielt. In einem Protestschreiben des Malers und ehemaligen Direktors der Escuela Nacional de Bellas Artes, Juan Manuel Uribe, hieß es damals: "El artesano no es un creador sino un conservador de formas heredadas que, con más o menos habilidad o espontaneidad, reproduce serialmente." Während López Antay gerade für die künstlerische Emanzipation des Volkskünstlers vom handwerklich bestimmten Standard der Produktion stand, insistierten die empörten Vertreter der etablierten Kunst auf dem Gegenteil. Von einer Ausdrucksform der "masa indiferenciada" war die Rede, und man schlug sogar einen Akt öffentlicher Wiedergutmachung an den nicht berücksichtigten und damit "beleidigten" Kandidaten für den Preis aus dem Umfeld der "artistas cultos" vor ("Homenaje..." 1997:75).

Im Hintergrund der Polemik um die Preisverleihung an López Antay stand eine weit tiefer reichende Auseinandersetzung. Die Entscheidung der Jury war ganz im Sinne der damaligen Militärregierung, die durch die Einführung zweisprachiger Erziehung in den ländlichen Schulen, die Ausdehnung eines reformierten Schulwesens überhaupt und eben auch die Würdigung traditioneller Kultur ihre Landreform auch mit
einer auf die Wiederaneignung einer indigen ausgerichteten peruanischen Nationalität orientierten Kulturpolitik stützen wollte . Dies ist ihr letztlich misslungen, da die in ihren traditionellen Gemeinden verankerten Kleinbauern, um deren Kultur es sich handelte, die an den Großbetrieben orientierte Landreform nicht akzeptierte. Gleichwohl öffnete die neue Kulturpolitik Raum für die Entfaltung eines neuen Selbstbewusstseins der ländlichen Gesellschaft und ihrer lokalen Eliten, den die Militärregierung keineswegs zu kontrollieren in der Lage war, wie etwa die heftigen Zusammenstöße 1969 um die Schulgeldfreiheit zeigten. Dieser frühe Konflikt mit der Militärregierung, bei dem es mehrere Tote gab, grub sich tief in das kollektive Gedächtnis Ayacuchos ein (González Carré u.a. 1995:131).

Soziale und politische Konflikte in der Volkskunst


Ein Ergebnis dieses neuen Selbstbewusstseins war auch die Entdeckung und kreative Wiederaneignung der Geschichte der sozialen Kämpfe der Indios und speziell der Bewohner der Region Ayacucho gegen ihre wechselnden Unterdrücker als Motiv für Werke der Volkskunst. Historische Daten, die an den Freiheitskampf der indianischen oder auch mestizischen Bevölkerung der Region erinnerten, wurden vermehrt zum Gegenstand künstlerischer Gestaltung und Interpretation.

Derartige Themen waren nicht völlig neu. "Mates narrativos" mit historischen Szenen aus dem Krieg gegen Chile oder wichtigen lokalpolitischen Ereignissen wurden bereits Jahrzehnte vorher dokumentiert (Sabogal [1945] 1987). Während der rituell wenig festgelegte Mate sich gewissermaßen als Material für solche künstlerisch freien Darstellungen - die gleichwohl selten waren - anbot, musste im Fall der Retablos erst ein Prozess der Desakralisierung abgeschlossen sein, ehe die Künstler sich derartigen Themen zuwenden konnten. Die während der Kolonialzeit und bis ins 19. Jahrhundert blühende Kunst der Skulpturen in Piedra de Huamanga hingegen hatte, neben der Deckung des kirchlichen und häuslichen religiösen Bedarfs, schon während des Unabhängigkeitskrieges gegen Spanien eine große Nachfrage nach allegorischen Darstellungen der heldenhaften Kämpfer befriedigt (Majluf/Wuffarden 1998: 107ff).

Immerhin bot auch die religiöse Thematik selbst Zündstoff, vor allem in der Gestalt des erwähnten "Santiago", dessen doppelbödige Erscheinung als Beschützer, aber auch Aggressor der Indios nie ganz aus dem Bewusstsein geriet (Huhle 1994). Hoch zu Pferd gerüstet, und unter den Hufen entweder die geschlagenen Mohren oder Indios, bzw. die zu beschützenden Tiere der Bauern, ist er seit Beginn der spanischen Präsenz Amerika ein ebenso schillerndes wie häufiges Motiv von Darstellungen sowohl in der offiziellen Kunst der Kirchen und Paläste wie in allen Spielarten der Volkskunst, so auch in Skulpturen aus Piedra de Huamanga und Retablos, wo er nicht nur im Gefolge der übrigen Schutzheiligen, sondern bisweilen auch als einzige Gestalt auftritt. Santiago war auch ein beliebtes Motiv auf kolonialen "Qeros", bemalten Trinkgefäßen in inkaischer Tradition, die eine der Traditionslinien andiner Malerei darstellen (Flores 1995: 100f).

Zum ikonographischen Reservoir, aus dem die Volkskünstler des 20. Jahrhunderts schöpfen konnten, gehören auch die zahlreichen Bilder und Skulpturen, die von teils indianischen, teils mestizischen Künstlern während der Kolonialzeit und noch im 19. Jahrhundert für die Kirchen und Klöster Perus geschaffen worden waren. Ihre oft drastischen, heute naiv anmutenden Darstellungen von christlichen Schlüsselthemen wie dem Höllensturz oder von Heiligenleben, aber auch von Ereignissen aus der Geschichte der Conquista in Peru lassen sich unschwer als Quellen der Inspiration für manche der heutigen Volkskünstler ausmachen.

So findet sich im Kloster Santa Clara in Cuzco ein Reliefbild aus bemalter Gipspaste mit einer Darstellung des von vielen Chronisten überlieferten und auch in anderen Kirchen oft gemalten "Wunders von Sunturhuasi" während der Belagerung Cuzcos durch die Truppen des Inkas Manco II (Gisbert/Mesa 1991: 241). Nur dem Eingreifen Santiagos und Marias, die den übermächtigen indianischen Truppen Sand in die Augen streute, war es damals zu verdanken, dass die Inkas die Stadt nicht zurückeroberten. Das anonyme, aus dem 18. Jahrhundert datierende Bild verweist nicht nur wegen des verwendeten Materials, sondern auch durch die drastische Art der Darstellung eines Häuserkampfs im unteren Teil auf heutige Retablos.

"Violencia política" als Thema der neueren ayacuchanischen Volkskunst

Ayacucho ist ein abgelegenes Berggebiet im Südosten Perus mit einer halben Million Einwohner, deren Haupterwerb noch immer die Landwirtschaft ist. Seit 1980 war Ayacucho Zentrum der Aktivitäten der Aufstandsbewegung "Leuch-tender Pfad". Wie in einem Brennglas hat sich seit den achtziger Jahren im Departement Ayacucho die im ganzen Land zunehmende politische Gewalt konzentriert. Ab 1983 war das Gebiet die meiste Zeit unter Ausnahmezustand gestellt. Die Re-pres-sion von Militär und Polizei, aber auch die Aktionen der Aufständischen haben der Bevölkerung einen hohen Blutzoll abverlangt. Mehr als zehntausend Tote, meh-rere Tausend Verschwundene, verlassene Dörfer und entvölkerte Landstriche sind das Ergebnis der Auseinandersetzungen. Seit 1993 hat in einigen Teilen der Region ein teilweiser Prozess der Rückkehr der Bevölkerung eingesetzt (Huhle 1997). Angst und Anspannung sind je-doch noch immer zu spüren, über viele Ereignisse im Zusammenhang mit dem Kr-ieg wurde nicht gesprochen. Erst die Anhörungen der im Juni 2001 gegründeten "Kommission für Wahrheit und Versöhnung" in verschiedenen Orten der Region vermochten das Schweigen zu brechen. Erinnerung an die Leiden der Kriegszeit ist endlich von der Gesellschaft wieder erlaubt.

Eine nicht-verbale Form der Erinnerung hatten aber schon vorher die Volkskünstler von Ayacucho betrieben. Der Krieg zwischen der Guerilla des "Leuchtenden Pfads" und der peruanischen Armee war für die Begabtesten unter ihnen eine besondere Herausforderung. In einer Zeit des öffentlichen Beschweigens der schrecklichen Geschehnisse kam ihrer Kunst besondere Bedeutung zu. Bekannte und unbekannte Volkskünstler setzten sich intensiv mit den ihnen verfügbaren Mitteln mit der die Region bedrückenden politischen Gewalt auseinander: die Musiker in zahlreichen neuen Liedern, und die bildenden Künstlern in Retablos, Webarbeiten, Stein- und Tonskulpturen und Tafelbildern, die die alten Traditionen der Volkskunst zugleich bewahren und erneuern. Dabei konnten sie auf die tradierte Formensprache zurückgreifen, zugleich aber die neu gewonnen künstlerischen Freiheiten zu bisweilen bewegenden Höhepunkten führen. Unter dem Druck der Situation ab 1980 sollte sich zeigen, wie stark und vielfältig auch traditionell gebundene Volkskunst in der Lage ist, auf veränderte politisch-soziale Entwicklungen kreativ zu reagieren, ohne ihre überlieferte Formensprache und Techniken aufzugeben.

Einige der Künstler hatten bereits vor dem Beginn des Kriegs von Sendero Luminoso Themen historischer oder aktueller Gewalt bearbeitet. Florentino Jiménez etwa arbeitete seit den frühen siebziger Jahren an historischen Retablos mit Themen wie dem Krieg der Montonera von General Cáceres gegen die chilenischen Invasoren oder zum Unabhängigkeitskrieg gegen die Spanier. 1976 griff er erstmals ein aktuelles politisches Thema auf (Huertas 1987: 117ff). Joaquín López Antay hatte bereits Jahre zuvor einen zweistöckigen Retablo mit einer Szene aus dem Gefängnis von Huancavelica im oberen Stockwerk gefertigt - im unteren Stockwerk findet sich das ganz normale Inventar eines Sanmarcos (Mendizábal Losack 1963/64: Fig. 31).

Nach 1980 wurden traditionelle Themen politischer Gewalt wieder aufgegriffen und häufiger bearbeitet. Nicht zufällig waren Themen wie die "leva", das gefürchtete Einfangen der jungen Leute auf dem Land durch die jeweilige Armee, das in den Andenländern eine lange düstere Tradition hat, plötzlich Motiv für große Arbeiten als Retablo, Ölbild, oder Alabasterskulptur. Sie erschienen vielleicht weniger verfänglich als die direkte Auseinandersetzung mit dem aktuellen Geschehen, die jedoch ebenfalls schon wenige Jahre nach Beginn des Krieges einsetzte.

Diese und die neueren, gegenwartsbezogenen Arbeiten ab 1980 entstanden großenteils als Unikate und unter teilweise dramatischen Umständen. Die Werke selbst hatten z.T. Schicksale, die ihrem Thema durchaus entsprechen. Manches Stück wurde unwiederbringlich zerstört, weil Soldaten es bei einer Kontrolle für subversiv befanden und mit dem Gewehrkolben traktierten. Andere Motive dagegen fanden unter den Bedingungen militärischer Besetzung und mehrseitiger Bedrohung einen neuen Markt in Kreisen von Intellektuellen, die sich selbst mit den Ursachen der politischen Gewalt auseinander setzten. Selbst die in Ayacucho stationierten Militärs interessierten sich für derartige Arbeiten, zumal dann, wenn sie in ihrer Aussage ambivalent genug schienen, dass jeder sie nach seiner Vorstellung interpretieren konnte - eine Strategie, wie sie die Alabasterschneider bereits während der Unabhängigkeitskriege angewandt hatten (Majluf/Wuffarden 1998: 118). Zeitweise entstand hier sogar wieder ein neuer Markt für kleinere Massenartikel mit dem Gewaltthema, die bei Soldaten wie Touristen Absatz fanden.

Doch es sind die zahlreichen großformatigen und mit großer Expressivität gestalteten Einzelarbeiten, die in unterschiedlicher, aber stets eindrucksvoller Weise die mitleidende Auseinandersetzung der Künstler mit der brutalen Gewalt in ihrer Heimatregion belegen. Einige seien hier genauer vorgestellt.

Tafelbilder der Migranten aus Sarwa

Als ab 1980 im Departement Ayacucho die bewaffneten Aktionen des "Leuchtenden Pfads" (Sendero Luminoso) begannen, spürten dies zunächst fast ausschließlich die Bewohner abgelegener Dörfer wie Sarwa. Die Bauern hatten wenig Möglichkeit, sich gegen die bewaffneten Eindringlinge des Sendero oder ihre vorgeblichen Beschützer von Polizei und Armee zu wehren. Stumm mussten sie oft genug die Misshandlungen durch die ungebetenen Besucher ertragen. Doch sie ließen sich in ihrer großen Mehrheit von keiner Seite vereinnahmen. Für die Darstellung gelegentlich auftauchender wahlkämpfender Politiker, die dann nie wieder etwas für das Dorf taten, hatten die Künstler von Sarwa bereits den Titel "Uma Muyoy" geprägt, den wir ganz aktuell am besten mit "Rinderwahnsinn" übersetzen können. Ihr skeptischer Blick blieb unbeirrbar, auch wenn sie nach Lima emigrieren mussten, wo etliche von ihnen in einer Reihe von Ölbildern neben den traditionellen Gebräuchen des Dorfes auch diese leidvollen Erfahrungen festhielten. Bilder wie "Wahnsinn" oder "Verfluchte" drücken in Text und Bild drastisch aus, was die Bauern von den Parteien in jenem schmutzigen Krieg hielten:

"Onqoy" (Wahnsinn)

"Mit Maschinenpistolen, Messern, Bomben und der Fahne, und in verschiedener Kleidung kamen fremde Elemente als Eindringlinge in die Dorfgemeinde. Haus für Haus holten sie die Angehörigen der Gemeinde hervor und zwangen sie unter Drohungen, an einer Versammlung teilzunehmen und ihren falschen Versprechungen von sozialer Gerechtigkeit und besserem Lebensstandard zuzuhören. Die einfachen unschuldigen Bauern, die nur Quechua sprechen, und ihre eigene traditionelle Weltanschauung haben, verstehen die Rede und die Versprechungen der Fremden nicht. Verwirrt durch den Wechsel in ihrem Leben flehen sie die Berggötter und die Schutzheiligen der Gemeinde dringend um Schutz an."

"Maldecidos" (Die Verfluchten)

"In verschiedenen Gemeinden und auf Wegen in die Stadt halten die verfluchten Militärs mit Schlägen und Fußtritten unschuldige und wehrlose Menschen fest, auf der Suche nach den eingedrungenen Übeltätern, den tollwütigen Terroristen. Durstig und hungrig und halbtot werden die Festgenommenen in die Stadt geführt, wo sie von Leuten gerichtet werden, die keine Ahnung vom traditionellen Leben haben, das seine Wurzeln in der Inkazeit hat."

Keramik: "Huelga campesina"

Größte Detailgenauigkeit ist auch das Charakteristikum eines bemerkenswerten Werkes, das der junge Keramiker Gregorio Aparicio aus dem Töpferdorf Quinua bei Ayacucho 1985 geschaffen hat. Es handelt sich um einen fünfstöckigen, ca. 1m hohen und 70m breiten Retablo, der jedoch nicht mit den aus Mehlbrei geformten und bunt bemalten Figuren ausgestaltet ist, sondern ausschließlich mit aus Ton gefertigten Figuren und Gebäuden.

Die fünf Stockwerke schildern eine durchgehende Geschichte. In der obersten Etage demonstrieren Bauern im Töpferort Quinua gegen die hohen Lebenshaltungskosten, während gleichzeitig vor dem Polizeiposten des Ortes in einem LKW einige Einwohner abtransportiert werden. In der nächsten Etage wird ein Angriff von Sendero Luminoso auf einen Polizeiposten geschildert, bei dem einige Angehörige der Antiguerilla-Sondereinheit der Polizei, der "Sinchis" fallen. In der dritten Etage dreht sich das Bild um. Per Hubschrauber kommt militärische Verstärkung, die Senderisten sind tot oder gefangen. Bild- und. Tonreporter halten das Geschehen fest, wobei sie sich auffällig eng an die Seite der Militärs plazieren.

Doch die Toten und Gefangenen, sind sie wirklich Senderisten? Bei näherem Hinsehen tauchen Zweifel auf. Während die Kämpfer der zweiten Etage durch ihre Waffen und durch die charakteristischen, das Gesicht bedeckenden Tücher sowie durch Embleme auf ihren Mützen eindeutig zu identifizieren sind, fehlen den Gefangenen der dritten Etage alle diese Merkmale. Die Anwesenheit klagender Frauen deutet eher darauf, dass die Besiegten einfache Bauern sein könnten. Paradoxerweise ist es gerade dieser Mangel an Eindeutigkeit, der genau die tatsächlichen Verhältnisse beschreibt. In der vierten Etage schließlich klären sich die Dinge auf. Wiederum am Polizeiposten von Quinua findet sich eine enorme Zahl von Gefangenen, in der Mehrzahl einfaches Volk, während eine kleine Gruppe, durch dunkle Gesichter und das Symbol von Hammer und Sichel gekennzeichnet, den Aufständischen zuzurechnen ist.

Doch ist die Geschichte damit nicht zu Ende. Es steht noch die fünfte Etage aus. Sie führt uns in ein Inferno, das auch in der an drastischen Darstellungen wahrlich nicht armen Volkskunst Ayacuchos seinesgleichen sucht. Wehrlose Männer und Frauen werden von schwer bewaffneten Soldaten gnadenlos niedergemetzelt. Im Vordergrund liegen verstümmelte Körperteile umher, während im Hintergrund die Soldaten noch mit der Vollendung ihres mörderischen Werkes beschäftigt sind. Was in der üblichen Retablotechnik mit ihren grellen Farben vermutlich unerträglich wie schlechtes Kino wirken würde, verschlägt dem Betrachter in der sparsamen Gestaltung der Keramik mit ihren fahlen Erdfarben den Atem. Für sich genommen, gehört diese Darstellung zweifellos zu den ergreifendsten Schilderungen des Schreckens, die die ayacuchanische Volkskunst hervorgebracht hat. Darüber hinaus aber ist sie durch ihre Plazierung als Endpunkt der szenischen Folge des Retablos eine massive Anklage. Da sie nicht etwa einer Kampfszene, sondern der Darstellung der Gefangenschaft folgt, erscheint das Geschehen als absolut mutwilliges Gemetzel, als pures Massaker. Gerade in Quinua haben die Volkskünstler Erfahrungen gemacht, die es nicht verwunderlich erscheinen lassen, dass sie zu solchen Darstellungen finden. 1983 holten die "Söldner", wie die Bewohner sie nannten, eine große Zahl von jungen Keramikern nachts aus ihren Häusern und verschleppten sie aus dem Dorf. Acht wurden tot gefunden, darunter ein Bruder des Schöpfers des geschilderten Werkes. Andere, wie Gregorio Aparicio selbst und ein weiterer Bruder, konnten sich gerade noch retten. Des toten Bruders letztes Meisterwerk - er war kurz vor dem Tod von seiner ersten internationalen Ausstellung aus Kanada zurückgekehrt -, eine großartige Quinuakirche, steht, ständige stumme Erinnerung, im Eingangsraum des Hauses der Familie Aparicio.

Textilkunst: "Las trenzas"

Beispiele für eine ganz andersartige, wesentlich subtilere Form der Auseinandersetzung mit der Situation in Ayacucho finden sich in der Webkunst. Die Familie Oncebay gehört zu den Erneuerern dieser in Ayacucho traditionellen Kunst, vor allem was die Wiederentdeckung und Weiterentwicklung der Naturfarben, aber auch die Motive angeht. Unter den gegenständlichen Motiven, die Saturnino Oncebay entworfen hat, findet sich in zahlreichen Varianten eine Gruppe von Frauen, die dem Betrachter den Rücken kehren. In seiner elementarsten Form, die hier vorgestellt wird, besteht dieses Motiv aus zwei stark stilisierten Frauenfiguren, mit einem breiten, gedrungenen Körper, einem sechseckigen Halstuch, einem schwarz-weißen, der Tracht von Huamanga nachempfundenen Hut und zwei dicken schwarzen Zöpfen. Letztere sind stets in der Manier echter Zöpfe geflochten und ragen aus dem gewebten Teppich heraus, wodurch sie die ansonsten sehr strenge Geometrik des Teppichs auflockern. Zugleich betonen diese Zöpfe, dass sich die Frauen vom Betrachter abwenden, eine sehr ungewöhnliche Perspektive, die nicht ohne symbolische Bedeutung sein kann. Dass dieses Sich-Abwenden etwas mit der Gewalt in Ayacucho zu tun hat, darauf deutet auch die Farbgebung des Teppichs hin. Die Körper der beiden Frauen sind, in Anlehnung an die zahlreichen farbigen Röcke, die die andinen Bäuerinnen übereinander zu tragen pflegen, aus einzelnen Segmenten in der Art einer Zwiebel zusammengesetzt, deren einzelne Schichten eine genau abgestufte Folge von Farbwerten bilden, und zwar einmal Rot und bei der andern Frau Grün. Rot für Sendero Luminoso, Grün für die Militärs - eigentlich naheliegend, und doch haben es, wie Saturnino Oncebay erläutert, die wenigsten Nachahmer dieses Motivs verstanden. Denn die Frauen mit den Zöpfen sind inzwischen auf allen Kunsthandwerksmärkten Südamerikas in unzähligen meist schlechten Imitationen in allen möglichen Farben zu finden. Kaum jemand dürfte sich dabei der leidvollen Entstehungsgeschichte des Motivs bewusst sein.

Retablos: "Los mártires de Uchuraccay" (Januar 1984) von Florentino Jiménez ( und "Pobrechalla campesino" (1988) von Teodoro Ramírez 1988)

Ende Januar 1983 wurde die Grausamkeit des Krieges, der seit zweieinhalb Jahren in den Bergen hinten in Ayacucho seine Opfer fordert, erstmals auch in der Hauptstadt Lima, und damit in der Öffentlichkeit des Landes, wahrgenommen. Acht Journalisten waren von Ayacucho aus aufgebrochen, um ein Massaker aufzuklären, das einige Tage zuvor in einem entlegenen Dorf stattgefunden hatte. Kurz vor ihrem Ziel wurden sie und ihr einheimischer Führer in dem Weiler Uchuraccay unter bis heute nicht restlos geklärten Umständen bestialisch erschlagen. Regierung und Militäradministration taten alles, um eine Aufklärung der Hintergründe des Verbrechens zu unterbinden. Statt eines geordneten Gerichtsverfahrens wurde -unter Vorsitz des Romanciers Vargas Llosa - eine "unabhängige Untersuchungskommission" eingesetzt, die zu dem Ergebnis kam, der Mord sei das Ergebnis einer tragischen Verwechslung und letztlich der barbarischen Unwissenheit der Dörfler gewesen. Da bis heute die Militärs keine - oder allenfalls nachweislich falsche - Aussagen machen, ist auch die weithin akzeptierte Gegenthese, dass das Verbrechen auf direkte Anweisung der Militärs geschehen sei, nicht eindeutig zu beweisen. Ob die im Jahr 2001 eingesetzte Wahrheitskommission, in deren Mandat das Verbrechen fällt, die ganze Wahrheit herausfindet, muss abgewartet werden. Der Schleier des Geheimnisvollen war sicher einer der Gründe dafür, dass der Mord von Uchuraccay bis heute im Gedächtnis der Öffentlichkeit lebendiger geblieben ist als die vielen, zum teil weit größeren Massaker, die ihm in den Jahren seither folgten. Ein anderer Grund liegt natürlich in der Tatsache, dass es sich bei den Opfern ausnahmsweise nicht um arme campesinos, sondern um Journalisten auch aus der Hauptstadt Lima handelte. Durch ihren Tod lenkten sie das Augenmerk der Presse mehr als durch jede journalistische Bemühung auf die Geschehnisse in den Bergen Ayacuchos.

Der Fall Uchuraccay hat jedoch verständlicherweise nicht nur in der nationalen Presse besondere Aufmerksamkeit erregt. Er ist auch tief ins Bewusstsein des Volkes von Ayacucho eingedrungen und dort bis heute lebendig geblieben, was kaum durch die nur von Wenigen gelesene Presse zu erklären ist. Die Erinnerung wird vielmehr durch die traditionellen Medien der mündlichen und bildhaften Überlieferung bewahrt. Das Massaker von Uchuraccay gehört zu den wenigen Einzelereignissen des schmutzigen Krieges von Ayacucho, das immer wieder in der Volkskunst bearbeitet worden ist. Zahlreiche Lieder wurden dazu komponiert, literarische Texte verfasst, und vor allem existiert eine Reihe bildlicher und plastischer Darstellungen. Zwei große Retablos stehen für zwei verschiedene Erinnerungsformen und Interpretationen aus unterschiedlicher zeitlicher Distanz zum Ereignis.

"Los martires de Uchuraccay", die "Märtyrer von Uchuraccay" entstand 1984, ohne Auftrag, ausschließlich auf Initiative des Künstlers Florentino Jiménez, der heute als der angesehenste Retablist Ayacuchos gelten kann. Nicht nur vom Inhalt her, auch formal ist dieser Retablo ein ungewöhnliches Werk, das die tiefe Anteilnahme des Künstlers an dem Geschehen deutlich macht. In drei Etagen wird zunächst der Fußmarsch der Journalisten nach Uchuraccay, dann die Ermordung, und schließlich das Begräbnis geschildert. Statt durch eines der üblichen bemalten Brettchen wird das ganze Werk durch eine als Tryptichon gestaltete Kreuzigung gekrönt. In der oberen Etage ist besonders bemerkenswert die individuelle Gestaltung jedes der acht Journalisten und ihres einheimischen Führers. Im Verhältnis zu den Figuren der beiden unteren Etagen sind sie in Übergröße gestaltet. Kleidung und. Ausrüstung sind sehr realistisch dargestellt (dies zweifellos ein Reflex der ausführlichen Diskussion dieser Details in der kriminologischen Debatte, die in der Presse über den Fall geführt wurde). Jeder der neun Männer ist mit einem kleinen Schild namentlich gekennzeichnet. Diese namentliche Kennzeichnung, die Don Florentinos Arbeit mit der ansonsten ganz andersartigen von Teodoro Ramírez gemein hat, ist äußerst ungewöhnlich. Die andine Kultur ist nach wie vor kollektiv geprägt, so dass Individualisierung keinen großen Raum in ihr hat. Das gilt sowohl für die Autoren der Kunstwerke, die bis vor kurzem ausschließlich anonym waren (erst seit einigen Jahrzehnten, unter dem Einfluss bürgerlicher Kultur und vor allem des Marktes, beginnen die Künstler, ihre Werke zu zeichnen), als auch für die Darstellungen, die selten einzelne Ereignisse, sondern in der Regel das Generelle, oft in starren darstellerischen Konventionen, abbilden. In der stark individualisierten Ausgestaltung der Figuren der Journalisten und ihrer ausdrücklichen Benennung spiegelt sich einerseits ohne Zweifel ihre Stilisierung zu den "Märtyrern" durch die Presse (auch der Begriff der Märtyrer kommt aus der Presse).

Andererseits aber ist das Ereignis von Uchuraccay tatsächlich einzigartig. Massaker an campesinos kennt die Geschichte Perus zuhauf. Die campesinos beweinen und beklagen ihre Toten, aber sie kämen nicht auf die Idee, sie als Helden oder Märtyrer zu verehren. Sie bleiben im Gedächtnis, aber anonym, verbunden mehr mit ihrer Gemeinde und dem Flurnamen des Ortes, an dem sie starben, als mit ihrem Namen. Die Journalisten aber gehören keiner Gemeinschaft der Andenbewohner an, sie müssen über ihren Namen identifiziert werden und erhalten so einen Sonderstatus, der ihnen ohnehin gebührt als Personen, die offenbar ohne Eigeninteresse in die abgeschiedenen Berge kamen und dort umkamen, ein Ereignis, das den campesinos selbst ohne die zahlreichen mysteriösen Begleitumstände ungewöhnlich genug erschienen wäre, um es in die Legende eingehen zu lassen. Da das Schicksal der Journalisten in keines der Interpretationsmuster der Andenbewohner passt, übernehmen sie bereitwillig die von den Massenmedien angebotenen Mystifizierungen. Das Wort von den Märtyrern ist heute Standard auch unter den ländlichen Bewohnern Ayacuchos. Von diesem Sonderstatus profitiert in den beiden Retablos auch der einheimische Führer Juan Argumedo, dessen Figur gewissermaßen im Schnittpunkt der beiden Kulturen steht. In den Gedenkveranstaltungen und -artikeln der Limaer Presse bleibt er gewöhnlich, obgleich unter denselben Umständen wie die acht Journalisten umgekommen, unerwähnt. Für die Presse von Lima sind die Märtyrer ihre acht Kollegen. Das lassen die Volkskünstler von Ayacucho so nicht durchgehen. Wenn sie dem Ereignis von Uchuraccay schon, aus den genannten Gründen, eine Sonderstellung zubilligen, dann wird auch der Führer Juan Argumedo, mit vollem Namen, einbezogen.

In Don Florentinos Arbeit erhält er darüber hinaus eine Schlüsselrolle:
Seine ausgestreckte Hand weist nicht den Weg, sondern auf zwei Tiere, die traditionell in den Anden als Unglücksboten gelten: die Schlange und den Fuchs. Auf diese Weise holt der einheimische Führer das ganze unfassliche Ereignis in den Verständniszusammenhang der Andenbewohner zurück. Zwar weiß er die Zeichen noch zu deuten, die ihm seine Welt schickt. Doch aufgrund seiner Funktion gehört er der Welt der Fremden an. Mit ihnen teilt er die Individualisierung, mit ihnen den Tod. Dieser Tod selbst wird in don Florentinos Retablo in der mittleren Etage dargestellt, mit äußerster realistischer Grausamkeit. Mit ihren Arbeitswerkzeugen, Hacken, Schaufeln, Stöcken und Stricken bringen die Einwohner von Uchuraccay die fremden Journalisten um. Die untere Etage schließlich zeigt das "Begräbnis", doch was für ein Begräbnis! In rasch ausgehobene Löcher werden jeweils zwei Kadaver gezerrt, wobei der eine mit dem Kopf zu den Füßen des anderen zu liegen kommt. Alle diese genauestens geschilderten Details entsprechen den in der Presse bis dahin (1984) bekannt gemachten Einzelheiten des Geschehens. Die Presseberichte hat Don Florentino, wie er selbst sagt, genau studiert. Zwar gab es von Anfang an Hinweise darauf, dass die Bauern von Uchuraccay das Verbrechen nicht aus eigenem Antrieb, sondern aufgestachelt oder sogar auf Anweisung der Soldaten begangen hätten, doch ist das bis heute nicht mit letzter Schlüssigkeit bewiesen. Dass er diese Möglichkeit in seiner Darstellung nicht berücksichtigt habe, wurde des öfteren gegen Don Florentinos Retablo eingewandt. Doch seine Darstellungweise ist so angelegt, dass diese Frage zurücktritt. 1984 herrschte in Ayacucho ein Klima brutaler Unterdrückung, die auch viele Künstler nicht verschonte. Eine Anklage der Militärs im Mordfall Uchuraccay wäre selbst mit künstlerischen Mitteln lebensgefährlich gewesen.

Aber dies ist nicht unbedingt der wesentliche Grund für Florentino Jiménez' Zurückhaltung. Er hält sich minutiös an die erwiesenen Details. Und die sind schrecklich genug. In den Anden verschwinden die Toten nicht vollständig aus dem Leber der Gemeinschaft. Ein Jahr nach dem Ableben eines Angehörigen versammeln sich in den Dörfern Ayacuchos die Verwandten noch einmal, um mit dem Toten zu feiern. Tote müssen gut behandelt werden, damit sie den Frieden wahren und kein Unheil stiften. Erste Voraussetzung dafür ist ein angemessenes Begräbnis. Die im Retablo dargestellte Art, wie die ermordeten Journalisten verscharrt wurden, gilt den Ayacuchanern als so ungeheuerlich, dass ihnen dies allein schon als Beweis gilt, dass nicht die Dörfler von Uchuraccay die Verantwortlichen des Verbrechens gewesen sein können. Dass sie den Mord begangen haben - gut möglich. Aber dass sie die Toten auf diese barbarische Weise begraben hätten, das scheint ausgeschlossen. Also muss es andere Beteiligte geben haben, die nur Fremde gewesen sein können. Es bedarf somit keiner Darstellung von Militärs in dem Retablo, um dem Betrachter, wenn er die Gebräuche der Bauern kennt, klarzumachen, dass irgend etwas nicht stimmt an der vordergründigen Eindeutigkeit. Dabei geht es don Florentino nicht darum, vermittels seiner Darstellung Partei zu ergreifen in dem kriminologischen Streit um die Schuldigen des Verbrechens. Er gibt vor allem seinem Entsetzen Ausdruck über eine Tat, die ohne Sinn scheint und nicht einmal im Tod die Ordnung der Dinge wiederherstellt.

Diesen Sinn versucht der Künstler zu finden, indem er den Retablo durch die ungewöhnlich ausladend gestaltete "corona", den dreiteiligen Aufbau erweitert. Auf engem Raum wiederholt sich hier der Ablauf des Geschehens von Uchuraccay, mit seinen drei Stationen: Aufstieg, Tod, Begräbnis. Der Gang der Journalisten nach Uchuraccay erscheint somit als Kreuzgang zum Berg Golgatha, ihr Martyrium als eines in der Nachfolge Christi. Doch der entscheidende Bezug wird im dritten Abschnitt hergestellt. Dem sündigen Verscharren in Uchuraccay steht die Totenklage am Grab Christi gegenüber, die bereits auf die bevorstehende Auferstehung verweist. Ohne diese Perspektive wäre der brutale Realismus des Retablos für den Künstler offenbar unerträglich gewesen.

Ganz anders sah 1988 der junge Retablist Teodoro Ramírez in seinem großen, vierstöckigen Retablo "Pobrechalla Campesino" das Verbrechen. Die oberste Etage zeigt den Mord von Uchuraccay, wobei, wie im ganzen Werk, ein ähnlich drastischer Realismus der Darstellung erzielt wird wie in der Arbeit von Jiménez. Erwähnt wurde bereits, dass auch hier die acht Journalisten und wiederum ihr einheimischer Führer mit Namensschildchen individualisiert werden, eine Hervorhebung, die umso mehr auffällt, als das, was ihnen widerfährt, sich in nichts von dem unterscheidet, was auch auf den anderen drei Etagen gezeigt wird. Doch die Bauern, die dort niedergemetzelt werden, bleiben anonym, in der Darstellung wie in der Wirklichkeit. Aus der Perspektive von 1988 nimmt der fünf Jahre zurückliegende Mord von Uchuraccay notwendigerweise eine andere Bedeutung an. Zwar ist er als besonderer Einzelfall nach wie vor präsent. Doch im Zusammenhang der Massaker der folgenden Jahre ist es, als wolle uns der Künstler gleichsam zeigen: Seht, damit fing alles an, aber vergessen wir über den Toten von Uchuraccay nicht die vielen namenlosen andern!

Fünf Jahre nach dem Geschehen hat sich aber nicht nur der Kontext dieses Verbrechens verändert. Es haben Prozesse in zwei Instanzen und zahlreiche unabhängige Recherchen stattgefunden. In zweiter Instanz wurden drei Bauern aus Uchuraccay, die einzigen, derer man habhaft werden konnte, als Täter verurteilt. Doch selbst das Gericht kam zu dem Schluss, dass es Hintermänner des Verbrechens gegeben habe, die nicht vor Gericht standen. Die Aussagen des damaligen Oberkommandierenden, General Noel, im Prozess entsprachen so offensichtlich nicht der Wahrheit, dass die Öffentlichkeit allgemein von einer Beteiligung, in welcher Form auch immer, der Militärs an dem Verbrechen ausging. Doch eindeutige Beweise fehlten nach wie vor. Diese Aspekte des Falls Uchuraccay führt Teodoro Ramírez mit einem sehr drastischen Kunstgriff in seine Darstellung ein. Mehrere der mordenden Bauern hängen an langen Fäden, die von großen Händen gezogen werden, welche aus der Decke des Retablos herausragen. Die Bauern also als Marionetten mächtiger Drahtzieher, eine Symbolik, deren Drastik dem Realismus der übrigen Darstellung in nichts nachsteht. Wessen Hände da die Fäden ziehen, wird nicht gezeigt - aus Gründen, die auf der Hand liegen. Doch wenige Betrachter des Werkes hatten irgendwelche Zweifel, wem die großen Hände gehörten. Der Wille des Künstlers, eine konkrete Interpretation im politischen Kontext der Zeit zu liefern, wird hier klar erkennbar.

Noch deutlicher wird dies vielleicht in den folgenden Etagen, wo Ramírez es unternimmt, die zahllosen Greuel des schmutzigen Krieges auf zwei Grundformen zurückzuführen, die er als Kern des ganzen Schreckens betrachtet. Um keinen Zweifel zu lassen, sind die Etagen sogar mit einem Titelschildchen versehen: "arrasamiento" und "ajusticiamiento", Fachausdrücke gewissermaßen dieses schmutzigen Krieges, die in den letzten Jahren geläufig geworden sind, und etwa mit "Austilgung" ("dem Erdboden gleich machen") und "Hinrichtung" (mit deutlichem Akzent auf dem "richten") wiederzugeben wären. Im ersten Fall sehen wir die Militärs am Werk, im zweiten Fall die "Senderistas", die Aufständischen des "Sendero Luminoso". Die Opfer sind die gleichen: die Bauern, Frauen und Kinder eingeschlossen. Minutiös hält der Künstler fest, was ihm aus zahlreichen Schilderungen der verübten Greuel bekannt geworden ist. Nicht nur das Morden, wird gezeigt, sondern am linken Rand des Bildes auch in aller Brutalität eine Vergewaltigung und - oft übersehen, aber von den Bauern immer wieder als besonders schändlich gebrandmarkt - der Diebstahl ihres Viehs. Während sich so die Soldateska in vielfältiger Weise über die Bevölkerung hermacht, verdrücken sich zwei Senderistas in aller Ruhe nach hinten in die Berge. Die darunter liegende Etage zeigt die Hinrichtung von "Verrätern" oder "Feinden der Revolution" durch Angehörige von Sendero Luminoso. Die Hinrichtung findet durch Genickschuss bzw. Halsabschneiden statt. Die ebenfalls gezeigten modernen Waffen werden nicht eingesetzt. Anders als bei den Soldaten finden keine zusätzlichen Greuel statt.

In beiden Etagen fallen die zahlreichen Kinder auf, die an der Seite ihrer ermordeten Eltern in verzweifelte Klagen ausbrechen. Auch dies eine sehr realitätsgetreue Beobachtung, die eines der schlimmsten und weithin unbeachteten Probleme des Krieges berührt: die psychischen Folgen für die Kinder, die all die Schrecken mit ansehen. Im untersten Stockwerk schließlich versucht der Künstler eine Synthese des Ganzen. Noch einmal werden Soldaten und Senderisten parallel gesetzt, aber diesmal in räumlicher und zeitlicher Gemeinsamkeit. Dennoch kommt es auch hier zu keinem Gefecht zwischen ihnen. Zwischen ihnen sind vielmehr erneut die Bauern, die im Kreuzfeuer verbluten, während von den kämpfenden Parteien keiner eine erkennbare Verletzung davonträgt. Was in den vorangegangenen zwei Etagen schon klar wurde, nicht zuletzt durch die genau gleichartig gestaltete Allegorie des Todes an den Seitenwänden, wird hier noch einmal in aller Deutlichkeit vorgeführt. In den Augen des Künstlers hat das Volk von keiner der beiden Parteien anderes als Tod und Unterdrückung zu erwarten. Die Darstellung dieser Sichtweise ist so eindeutig, dass daran auch die Plazierung des Teufels bzw. Gottvaters in der untersten Etage nichts ändern kann. Dass hier der Teufel an der Seite der Soldaten, Gottvater dagegen bei den Senderisten angebracht ist, mag als kleine Bosheit gesehen werden, doch keinesfalls als Überhöhung der beiden Akteure zur Partei des Guten und des Bösen. Dies stünde in krassem Widerspruch zu den eindeutigen Aussagen des ganzen Werkes. Eher sind die beiden Figuren als Tribut an Konventionen religiöser Symbolik zu verstehen, wie wir sie in ausgeprägter Weise etwa in der Arbeit von Florentino Jiménez fanden.

Doch im Zusammenhang des ganzen Retablos von Teodoro Ramírez wirkt diese Symbolik eher aufgesetzt, fast schon karikaturhaft, als wolle der Künstler fragen: Und ihr beiden, was macht ihr hier? Dieser Eindruck wird nicht zuletzt durch die Allegorie im Zentrum der untersten Etage hervorgerufen, die weit deutlicher sagt, welche Interpretation der Künstler seiner Arbeit geben will. Hier finden wir einträchtig versammelt die Trunkenheit, den Hunger, die Bestechlichkeit, die Ungerechtigkeit, den Analphabetismus sowie den aus den oberen Etagen bereits vertrauten Tod. Zufrieden thronen sie über dem Schlachtfeld, das sie offenbar als ihr Werk betrachten. Um keinen Zweifel an der Identität der Figuren zu lassen, begnügt sich der Künstler nicht mit der drastischen bildlichen Darstellung, sondern greift erneut zum Bleistift und gibt jeder Figur ein Namensschildchen. Nicht in einem überzeitlichen Kampf zwischen Gut und Böse also, sondern in diesen sehr weltlichen und zeitlichen Übeln sieht Ramírez die Wurzeln der Greuel, die er uns vorführt. Und weil es weltliche und zeitliche, gesellschaftliche Übel sind, sind sie auch abschaffbare Übel. Zwar geht Ramírez nicht so weit, eine konkrete Perspektive zu weisen. Aber er ist auch kein Fatalist wie manche seiner Kollegen, die sich in der bloßen Darstellung des Greuels erschöpfen.

Die Geschichte geht weiter: Mate "La captura de Feliciano" und die Twin Towers

Im September 1992 wurde Abimael Guzmán, der Führer des Leuchtenden Pfads verhaftet. Die stark auf den Kult um seine Person zentrierte Organisation brach danach weitgehend zusammen. Einzelne Gruppierungen kämpften jedoch weiter. Im Juli 1999 wurde der wichtigste der Sendero-Anführer, die noch weiterkämpften, Oscar Ramírez Durand alias "Feliciano" gefasst, und zwar in unmittelbarer Nähe des Dorfes Cochas in der Nähe von Huancayo (Junín). Um die Umstände der Verhaftung entfesselte die Regierung Fujimori, ähnlich wie schon bei Guzmán einen Propagandakrieg, der u.a. dazu dienen sollte, die starken Zufallselemente bei diesem Erfolg zu vertuschen (DESCO 1999).

Cochas ist seit vielen Jahren ein, wenn nicht das Zentrum der peruanischen Matekünstler. Anders als bei den Volkskünstlern in Ayacucho - wo die Mateschnitzerei die allgemeine Krise des Kunsthandwerks nicht überstanden hatte - fand das Thema der politischen Gewalt in den neunziger Jahren nur selten Eingang in das Schaffen der Kürbisschnitzer im Mantarotal . Doch nun hatten sie ein wichtiges Ereignis, vielleicht das letzte wichtige Ereignis in dem Kampf des Leuchtenden Pfads gegen die Regierung gewissermaßen vor der Haustür. Journalisten und Neugierige kamen in das verkehrsgünstig gelegene Cochas, da fanden Kürbisse, die einmal nicht Dorfhochzeiten oder andere ländliche Idyllen, sondern "La captura de Feliciano" zeigten, guten Absatz. Die Dorfbewohner wussten außerdem, wie die Verhaftung geschehen war, und dass die regierungsamtlichen Versionen falsch waren. So gab es einige gute Gründe, dass auch die Mateschnitzer von Cochas, die sich bislang recht konsequent von der Politik ferngehalten hatten, zum Messer griffen, um "Feliciano" festzuhalten. Neben kleinen, zeitnah und schnell herstellbaren, gut vermarktbaren Arbeiten, entstanden dabei auch einige außergewöhnliche Kunstwerke, die viele Monate täglicher Arbeit zur Fertigstellung benötigen, immer vorausgesetzt, Gesundheit und Sehkraft des Künstlers halten durch.

Eine solche Arbeit ist "Maxima Expresion", ein enormer, ca. 30 cm hoher und ebenso breiter Kürbis mit Darstellungen der Gefangennahme des Senderoführers "Feliciano", des New Yorker Attentats vom 11. September 2001 und des Besuchs von Präsident Bush in Peru im März 2002, sowie zahlreichen, in winzigen Strichen geschnitzten Szenen von Gewalttaten gegen die bäuerliche Bevölkerung. Die vollendete Durchformung des ganzen Kürbisses, die Raumaufteilung der zahllosen Kleinszenen und vor allem die Feinheit der Ornamentik im Mudejarstil im oberen Teil weisen die Künstlerin Liz Medina als Meisterin aus. Das gestalterisch gleich gewichtete Nebeneinander dieser Ereignisse von so ungleichem Gewicht zeigt andererseits, dass die Aufnahme politischer Themen in der Kürbisschnitzerei ganz offensichtlich eine andere Tradition hat als in der Arte Popular von Ayacucho. Wie schon in den historischen Mates werden politische Ereignisse eher in Form einer neutralen Chronik eingeführt, ohne die erregte innere Beteiligung wie sie bei den expressiven Werken der Retablisten oder Keramiker von Ayacucho sichtbar wird, die den Titel "Maxima Expresion" eher verdienten. Vielleicht aber sind auch nur die Zeiten anders. Denn weder in Ayacucho noch im Mantarotal steht die Bevölkerung heute unter der täglichen brutalen Bedrohung ihres Lebens wie noch vor zehn Jahren. In Ayacucho sind seither die großen expressiven Darstellungen politischer oder sozialer Gewalt stark zurückgegangen. Einige wenige Künstler widmen sich weiterhin aktuellen Themen, die jedoch, wie etwa in neueren Arbeiten von Nicario Jiménez, einem der Söhne von don Florentino, aus räumlicher und emotionaler Distanz geschaffen werden. Angesichts der relativen Ruhe in den heimatlichen Bergen sind es andere Ereignisse, die das Schaffen der Volkskünstler anregen. Über die modernen Medien und ihren teilweise erreichten sozialen Aufstieg sind sie weit stärker in das globale mediale Welttheater eingebunden. Dort sitzen sie, wie wir alle, und wie auch Liz Medina aus dem kleinen Cochas, obzwar im Fall der Festnahme von "Feliciano" in der ersten Reihe, auf der Zuschauertribüne.

Literatur:

Alberdi, Alfredo: Sarhua. Eine andine Comunidad der Indio-Künstler, Berlin 1992

Araujo, Hilda G.: "Parentesco y representación iconográfica: el caso de las 'Tablas pintadas' de Sarhua, Ayacucho, Perú", in: Denise Y. Arnold (comp.): Gente de carne y hueso. Las tramas de parentesco en los Andes, La Paz 1998, S. 461-524

Arguedas, José María: "Notas elementales sobre el arte popular religioso y la cultura mestiza de Huamanga", in: Revista del Museo Nacional, Tomo XXVII, pp. 140-194 (Lima 1958)

Arguedas, José María: Yawar fiesta [1941], Buenos Aires 1977

Arguedas, José Maria: "La Cerámica popular india en el Perú" [1940], in: Ders.: Indios, Mestizos y Señores, Lima 19893:

Aronés Canchari, Nonato: "El Retablo Ayacuchano en el marco del realismo indigenista y el "neoindigenismo" expresionista", in: UNSCH: Ayacucho, Su Cultura Viva, Ayacucho 1986, S.136-148

Barrionuevo, Alfonsina: Artistas populares del Perú, Lima o.J.

Boyco, Patricia: entrevista con Florentino Jiménez, in: El zorro de abajo 3 (1985), pp.58-59

De la Fuente, María del Carmen / María Josefa Nolte / Lucy Núñez Rebaza / Roberto Villegas Robles: Artesanía peruana - orígenes y evolución, Lima 1992

Del Solar, María Elena: "Cajón San Marcos", in: El retablo ayacuchano. Un arte de los Andes, Lima 1992 (ed. IEP), S. 17-26

DESCO: La captura de Feliciano (la guerrilla de las versiones), Lima 1999

El retablo ayacuchano. Un arte de los Andes, Lima 1992 (ed. IEP)

Estenssoro, Juan Carlos: "La plástica colonial y sus relaciones con la Gran Rebelión", in: Henrique Urbanos (compilador): Mito y simbolismo en los andes, Cusco 1993, S. 157-182

Evanán Poma, Primitivo: "'Qellqay' en Sarhua de la Provincia de Víctor Fajardo" (recopilación y comentarios de José Sabogal Wiesse), in: Boletín de Lima, 19, 1982, S. 36-44

Fêtes, musique et art populaire du Pérou. Guide spécialisé du voyageur (ed. PromPeru), Lima 2000

Flores Ochoa, Jorge A.: "Las imágenes del inca en la ideología incanista de la ciudad del Cuzco", in: De palabra y obra en el Nuevo Mundo, 4. - Tramas de la identidad, J.Jorge Klor de Alva/Gary H.Gossen/Miguel León Portilla/Manuel Gutiérrez Estévez (eds.), Madrid 1995, S. 91-119

García Canclini, Néstor: Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad, México 1990

Gascón Gutiérrez, Jorge: "Violencia y artesanía en el Perú andino en torno a un retablo ayacuchano", in: artesanías de América, 51, 2001 (CIDAP, Ecuador), S. 115-120

Gisbert, Teresa: Iconografía y mitos indígenas en el arte, La Paz 1994

Gisbert, Teresa / José de Mesa: "La escultura en Cusco", in: Escultura en el Perú, Lima (Banco de Crédito) 1991, S. 191-250

Gjurinovic Canevaro, Pedro: "La textilería del Perú virreinal", in: De Lavalle, José Antonio / Rosario De Lavalle de Cárdenas (eds.): Tejidos milenarios del Perú, Lima 1999, S. 629-730

González Carré, Enrique / Yuri Gutiérrez / Jaime Urrutia: La ciudad de Huamanga. Espacio, historia y cultura, Ayacucho/Lima 1995

"Homenaje a don Joaquín López Antay", guamangensis, Revista de la Universidad Nacional de San Cristóbal de Huamanga, Año 3, N° 3, 1997

Huertas Clemente, Edilberto: Vida y obra de Florentino Jiménez Toma, Ayacucho 1987

Huhle, Rainer: "Vom Matamoros zum Mataindios, oder: Vom Sohn des Donners zum Herrn der Blitze. Die wundersamen Karrieren des Apostels Jakobus in Amerika",
in: De Orbis Hispani linguis litteris historia moribus, Festschrift für Dietrich Briesemeister zum 60.Geburtstag, Frankfurt/M 1994, pp.1167-1196

Huhle, Rainer: "Pistaco - Der Herr des Fettes. Funktion und Wandel des Bildes vom fremden Herrn bei den ‚indios' in den Zentralanden", in: Iberoamericana 40/41, Hamburg (1990), S.96-125

Huhle, Rainer: "Rückkehr in die Zukunft? Das Leben in den Bürgerkriegsgebieten Perus nach der Vertreibung des Sendero Luminoso", in: Lateinamerika, Analysen und Berichte, Band 21, Bad Honnef 1997, S. 96-108

Jiménez, Edilberto: "Santeros, ‚missas' y herranza en el campo ayacuchano", in: El retablo ayacuchano. Un arte de los Andes, Lima 1992 (ed. IEP), S. 27-35

Jiménez Borja, Arturo: "Mate peruano", in: Revista del museo nacional XVII (1948), S. 43-73 (Lima)

Lauer, Mirko: Crítica de la artesanía. Plástica y sociedad en los Andes peruanos, Lima 1982

Lauer, Mirko: "La pintura indigenista peruana. Una visión desde los años 90", in: Márgenes, Año VI No. 10/11, 1993, pp. 93-106 (Lima)

Macera, Pablo: La pintura mural andina siglo XVI - XIX, Lima 1993

Macera, Pablo: "Los retablos andinos y don Joaquín López Antay", in: Boletín de Lima, 19, 1982, S. 15-35

Macera, Pablo: Pintores populares andinos, Lima 1979

Macera, Pablo/José Sabogal Wiesse: Centenario de don Joaquín López Antay, Lima 1997

Majluf, Natalia / Luis Eduardo Wuffarden: La piedra de Huamanga - lo sagrado y lo profano, Lima 1998

Mendizábal Losack, Emilio: "La difusión, aculturación y reinterpretación a través de las Cajas de Imaginero Ayacuchanas", in: Folklore Americano (Lima), años XI y XII, n°11-12 (1963/64), S. 115-334

Millones, Luis / Mary Pratt: Amor brujo. Imagen y cultura del amor en los Andes, Lima 1989

Muñoz, Fanni: "La fiesta del Turupukllay en el mundo andino", in: Márgenes 10/11 (1993): 211-232 (Lima)

Museo Nacional de la Cultura Peruana: Ciclo El Artista Popular y su obra: Mamerto Sánchez, museodelacultura.perucultural.org.pe/etemporal.htm, 28.12.2002

Nolte, Josefa: Qellcay. Arte y vida de Sarhua, Lima 1991

Pinedo García, Paola: "Homenaje a Jesús Urbano Rojas", in: El Peruano 19.3.2002

Palomino Flores, Salvador: El sistema de oposiciones en la comunidad de Sarhua, Lima 1984

Portocarrero, Gonzalo: "Coyuntura social e imaginario popular: Los Sacaojos", in: Henrique Urbano (comp.): Poder y violencia en los Andes. Cusco 1991, S.379-394

Razzeto, Mario: Don Joaquín. Testimonio de un artista popular andino, Lima 1982

Rengifo, Antonio: La artesanía en la obra de José Sabogal Wiesse, Lima 1989

Sabogal, José: El desván de la imaginería peruana [1956], Lima 1988

Sabogal, José: Mates burilados. Arte vernicular peruano [1945], Lima 1987

Sabogal Wiesse, José: "El arte vernáculo de los andes ante la modernización. El caso de Ayacucho (Peru)" [1979], in: Antonio Rengifo: La artesanía en la obra de José Sabogal Wiesse, Lima 1989

Salas, Maria Angélica: Mates de Cochas. Productores artesanales de la sierra central, Lima 1987

Solari, Gertrudis de: "Ideogramas en la Textilería Andina Actual", in: Boletín de Lima, 21, 1982, S. 22-28

Sordo, Emma: "Del cajón San Marcos al Retablo Testimonio", in: Cuadernos de Arte y Cultura Popular 1, Lima-Barranco 1990, S.9-14
s.a. den Kommentar von Antonio Rengifo, im gleichen Heft S.19ff

Spahni, Jean-Christian: Mates decorados del Perú, Lima 1969

Urbano Rojas, Jesús / Pablo Macera: Santero y Caminante, Lima 1992

Vega-Centeno, Imelda: "Tradición oral, extirpación y represión", in: Henrique Urbano (compilador): Mito y simbolismo en los andes, Cusco 1993, S. 305-323

Villegas Robles, Roberto: Artesanías peruanas, Lima 2001

Vivanco G., Alejandro: 100 temas del folklore peruano, Lima 1988,

Wood, David: "Artesanía Peruana: A Study of the Production and Consumption of the Mate Burilado (Engraved Gourd)", in: Shelley Godsland/Anne M. White (ed.): Cultura popular. Studies in Spanish and Latin American Popular Culture, Bern 2002, S. 57-70

TOP


© Copyright 2003, Nürnberger Menschenrechtszentrum
buero@menschenrechte.org