Zur Erinnerung an drei außergewöhnliche Menschenrechtsverteidigerinnen
Innerhalb weniger Tage starben im September drei außergewöhnliche Menschen, drei Frauen, die auf ihre je eigene Weise die Idee der Menschenrechte hochgehalten haben. Im NMRZ hatten wir die Ehre und Freude, sie alle drei zu Gast zu haben. In unserer Erinnerung leben sie weiter.
Yanette
Am 1. September erlag in Bogotá Yanette Bautista im Alter von 79 Jahren ihrer Krankheit, die sie schon länger begleitete. Zum ersten Mal begegnete ich Yanette 1991 in Bogotá. Das gewaltsame Verschwinden ihrer Schwester Nydia Erika lag da vier Jahre zurück, und erst vor kurzem hatte sie nach beharrlicher Suche deren Leichnam gefunden. Aber ihr Kampf um die Aufklärung der Verantwortlichen – wie sich später erwies, höchste Militärs – hatte da längst begonnen und Yanette bereits zu einer bekannten Menschenrechtsverteidigerin des Landes gemacht. Als ich in den späten Neunzigerjahren dann für den UN-Hochkommissar für Menschenrechte in Kolumbien arbeitete und Yanette mehrfach begegnete, wurde die Gefährdung, die dieses Engagement für sie und ihre Mitstreiterinnen bedeutete, immer sichtbarer. Morddrohungen, Bespitzelungen, Verfolgungen gehörten zu ihrem Alltag, dem ihrer Familie und aller, die Aufklärung des Schicksals der vielen Verschwundenen forderten.
Wenige Monate nach meiner Ankunft musste Yanette schließlich ins Exil gehen – nach Deutschland. Es waren sieben lange Jahre, traurige Jahre, aber auch Jahre intensiven Lernens über das komplizierte System des internationalen Menschenrechtsschutzes. Das ermöglichte ihr, gleich nach ihrer Rückkehr die Stiftung Erika Nydia Bautista zu gründen, die bis heute eine der aktivsten Menschenrechtsorganisationen Kolumbiens ist.

Noch während ihres Exils war sie auch zur Präsidentin von FEDEFAM, des lateinamerikanischen Dachverbands der Angehörigen von „Verschwundenen“, gewählt. Seither hatte Yanette immer ein Bein auf internationaler Ebene, z.B. als Beobachterin am Menschenrechtsrat in Genf, und ein anderes, sehr solides bei ihren Mitstreiterinnen in der Stiftung und überhaupt in der kolumbianischen Menschenrechtsbewegung. Während des Friedensprozesses mit der FARC-Guerrilla 2015 wurde sie als eine Vertreterin der Opfer des Bürgerkriegs in die kleine Delegation von Frauen gewählt, die erstmals die Sicht von Frauen in solche Verhandlungen einführten.
Im Juli 2018 kam Yanette auf Einladung des „Weltgebetstags der Frauen“ auch nach Nürnberg. Ihr Besuch bei uns im NMRZ war bewegend und eine nicht verblassende Erinnerung. Aus ihrem Gesicht sprach damals und wann immer ich sie später noch in Kolumbien traf, eine ganz eigene Mélange aus Trauer und Lebensfrohheit. Beides braucht es wohl, um aus dem Schmerz um die verlorene Schwester die Kraft für ein solche Engagement für die Menschenrechte, also für ein gutes Leben zu schöpfen.

Rosa
Am 6. September verstarb in Buenos Aires Rosa Tarlovsky de Roisinblit. Rosa wurde 106 Jahre alt, und fast das letzte halbe Jahrhundert ihres Lebens widmete sie der Suche nach ihrer von der Militärdiktatur „verschwundenen“ Tochter Patricia und deren ungeborenem Kind. Patricia war im achten Monat schwanger, als sie 1978 entführt wurde. Im Jahr zuvor hatte sich eine Gruppe von Großmüttern mit dem gleichen Schicksal zur Vereinigung der Großmütter (Abuelas) der Plaza de Mayo zusammengefunden, nach dem Vorbild der Mütter, die dort schon länger ihre Runden um den Platz vor dem Präsidentenpalast drehten. Und Rosa zögerte nicht, sich ihnen anzuschließen, wurde bald stellvertretende Vorsitzende und später dann Ehrenvorsitzende bis zu ihrem Tod.
Im Jahr 2000 erfuhr Rosa über das inzwischen weite Netz an Quellen der Abuelas von einem bei der Luftwaffe angestellten Ehepaar, das sich wenige Tage nach dem erwarteten Geburtstermin ihrer Tochter ein Kind angeeignet habe. So erfuhr auch Rosas Enkelin Mariana, die bei der Entführung 15 Monate alt war und, sei es aus Ratlosigkeit oder in einem Anfall von Menschlichkeit, von einem Polizisten den Großeltern zurückgebracht wurde, von diesem möglichen Bruder. Sie suchte und fand ihn tatsächlich. Er ließ sich überzeugen, einen DNA-Test zu machen, und so hatte Mariana einen Bruder und Rosa noch einen Enkel. Er war das achtundsechzigste von inzwischen 140 wiedergefundenen Kindern. Die Suche geht weiter, denn die Abuelas schätzen die Gesamtzahl an in Haft von verschwundenen und dann ermordeten Müttern geborener Kinder auf über 400.

Unsere erste Begegnung mit Rosa fand im Juni 2011 im Rahmen einer Rundreise durch Deutschland im Büro des NMRZ statt. Aufgrund der langjährigen Arbeit des NMRZ in der Koalition gegen die Straflosigkeit der argentinischen Diktaturverbrecher war uns die Arbeit der Abuelas gut bekannt. Doch die Begegnung mit Rosa war einfach umwerfend. Keine Spur von Opfermiene, im Gegenteil, Rosa strahlte eine solche Energie und ein solches Gefühl aus, auf der richtigen Seite der Geschichte, also DIESER Geschichte Argentiniens zu stehen, dass wir einigermaßen sprachlos blieben. An Gesprächsmoderation war nicht zu denken. Rosa war damals schon fast 92 Jahre alt, nur war davon nichts zu merken – sicher einer der eindrucksvollsten Besuche in unseren bescheidenen Räumlichkeiten. Ein Zugeständnis an ihr Alter machte sie aber, sie trat die Rundreise in Begleitung ihrer Enkelin Mariana an. Und sie wollte keine quälende Zugreise zu ihrer nächsten Station Berlin machen, sondern bestand auf einem Auto. So besorgte ich also einen Wagen und fuhr Oma und Enkelin nach Berlin, sorgsam Rosas Anweisungen bezüglich Pausen und in Berlin dann Zwischenstopps zu befolgen. Ich habe es nicht bereut, es war sicher eine der unterhaltsamsten Autofahrten, die ich je unternehmen durfte. Rosas bissiger Humor und scharfsinnige Beobachtungen, die durchaus auch mal ihren Chauffeur betreffen konnten, waren gelegentlich geradezu verkehrsgefährdend.
2015 besuchte ich dann das Büro der Abuelas im Zentrum von Buenos Aires. Im Raum saß, neben der international bekannteren Präsidentin Estela de Carloto, mit Stock und verschmitztem Lächeln, kein bisschen gealtert, die inzwischen 96-jährige Rosa. Ein freudiges Wiedersehen, leider das letzte. Als ich von ihrem Tod hörte, war mein Gedanke: Sie muss ein glückliches Leben gehabt haben.

Ruth
Am 5. September starb Ruth Weiss im Alter von 101 Jahren in Ålborg (Dänemark), wo sie ihre letzten Lebensjahre mit ihrem Sohn verbracht hatte. 101 Jahre zwischen Rückersdorf bei Nürnberg, Fürth, Johannesburg, London, Harare, Köln, der Isle of Wight, wo sie einmal den Versuch machte, sich zur Ruhe zu setzen, später Lüdenscheid und zuletzt eben Ålborg, eine lange Reise mit einem klaren Kompass: für Menschlichkeit und Menschenrechte, gegen Hass und Ausgrenzung.
Meine Erinnerungen an den Evangelischen Kirchentag 1979 in Nürnberg sind etwas verblasst. Aber an zwei Personen erinnere ich mich: An einen afrikanischen Geistlichen, der mit breitem Lachen im Gesicht die Straße von der Lorenzkirche hinunter zur Museumsbrücke ging – später erfuhr ich, dass es ein gewisser Desmond Tutu war, noch kein Bischof und noch kein Vorsitzender der südafrikanischen Wahrheitskommission. Und an eine weitere Kämpferin gegen das Apartheidsystem, Ruth Weiss. Denn als solche wurde sie am Kirchentag vorgestellt, als sie vor Tausenden junger Deutscher sprach, nicht als vor den Nazis mit ihrer Familie 1936 aus Fürth nach Südafrika entkommene deutsche Jüdin. Wie für sie die Diskriminierungserfahrungen mit dem Apartheidsystem (und auch dem Antisemitismus) in Südafrika und dem Schicksal ihrer Familie und der europäischen Juden zusammengehörten und doch verschieden waren, das beschrieb Ruth Weiss sehr eindrucksvoll in ihrer „Politischen Autobiografie“ mit dem Titel „Ein Lied ohne Musik“, das schon zwei Jahre nach ihrem Auftritt auf dem Nürnberger Kirchentag erschien (Burckhardhaus/Laetare-Verlag 1981, 336 Seiten; verschiedene Neuauflagen).
Ruth war nach langen beruflichen Lebensabschnitten als Journalistin in Südafrika, Rhodesien und immer wieder London 1975 erstmals für länger Zeit nach Deutschland zurückgekehrt, ins Büro der Deutschen Welle nach Köln. Wie fremd sie sich dort fühlte, nicht weil sie Jüdin war, sondern weil sie eine andere Auffassung von guter journalistischer Arbeit hatte, beschreibt sie ausführlich in ihrer Autobiografie. Sie ging wieder ins Ausland, u.a. in das Land, das jetzt nicht mehr Rhodesien, sondern Zimbabwe hieß. Inzwischen war Ruth aber in Deutschland durch ihre Afrikaexpertise, ihren Kampf gegen Apartheid und für die Befreiung bekannt geworden, und die Stadt Fürth begann sie als eine prominente ehemalige Bürgerin zu würdigen. Ihre Besuche in Fürth und auch Nürnberg wurden häufiger, und damit rückte langsam auch ihre jüdische Familiengeschichte in den Vordergrund.
Gerade diese Verbindung von deutsch-jüdischer Vergangenheit und dem Kampf gegen Antisemitismus mit ihrem Kampf für Gerechtigkeit und Wahrheit in Südafrika machte sie zu einem idealen Gast auf der Tagung „Von Nürnberg nach Den Haag“, die das NMRZ mit anderen 1995 in Nürnberg organisierte. Ruth sprach über die Aufarbeitung des gerade erst beendeten Apartheidregimes in Südafrika, der israelische Psychologe Dan Bar-On über seine Arbeit mit Nachfahren von NS-Tätern – sie hatten sich viel zu sagen.

Hier wie bei vielen weiteren Veranstaltungen, ob vor großem Publikum im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände oder in einem kleinen Gemeindehaus, und in wunderbaren persönlichen Gesprächen lernten wir immer besser Ruths so großen wie einfachen Sinn für Gerechtigkeit, aber auch für den rechten Ton zur rechten Zeit kennen. Das machte Ruth zu einer geradezu magischen Kommunikatorin. Vor allem mit Jugendlichen, bei ihren vielen Besuchen in Schulklassen, sprang vom ersten Moment an ein Funke in ihr Publikum über. So empfand Ruth es gewiss als die größte unter ihren vielen Ehrungen, dass 2010 in Aschaffenburg eine Realschule zur „Ruth-Weiss-Realschule“ umbenannt wurde. Dort hat sie, im Rahmen eines großen Fests der gesamten Schule, im Juli 2024 ihren hundertsten Geburtstag gefeiert. Wer dabei sein durfte, war überwältigt von so viel Zuneigung. Ruth genoss alles still, dankte in wenigen Worten und schnitt die riesige Geburtstagstorte an.

Ruth war ihr Leben lang Journalistin, und immer mehr auch Schriftstellerin. Die Liste ihrer Bücher reicht von vielen Sachbüchern zu Afrika bis zuletzt Romanen über jüdisches Leben in Deutschland, ehe dieses Leben zerstört wurde. Wenige Tage vor ihrem Tod erschien im Herder-Verlag eine zweite Autobiografie, in der Ruth auf ihr persönliches Jahrhundert zurückblickt: „Erinnern heißt Handeln: Mein Jahrhundertleben für Demokratie und Menschlichkeit“. Dieses Buch, schreibt Ruth, „soll vor allem Mut machen. Mut zum Handeln.“ Die Erinnerungen aus ihrem langen Leben auf zwei Kontinenten, die sie in dem Buch aufruft, müssten aber mehr sein als das. „Denn aus dem Erinnern kann – oder besser gesagt: muss – Handeln erwachsen.“ Ruth Weiss hat es uns exemplarisch vorgelebt.