Erkundungen im Maschinenraum der Demokratie

Maschinenraum

Ich habe keine Ahnung, wie ein Maschinenraum aussieht oder was darin geschieht. Ich stelle ihn mir als Teil eines Schiffes vor, wie man Maschinenräume eben aus Filmen kennt. Was ich aber weiß, ist, dass in einem Maschinenraum alles reibungslos zusammenspielen muss. Wenn etwas nicht rund läuft – wenn zum Beispiel eine Zündkerze defekt ist – gibt das einen Fehler im System.

Das Coronavirus ist so eine Zündkerze. Es hat unseren Alltag völlig durcheinandergebracht. Und es hat politische Entscheidungen nötig werden lassen, die unsere Freiheiten einschränken. In einer Demokratie sollen solche Entscheidungen im Sinne und zum Wohle der Bevölkerung getroffen werden – so weit, so klar. Aber wie bei allen notwendigen Abwägungen zwischen verschiedenen Rechten und Pflichten, liegen die Ergebnisse dieser Abwägungen nicht so klar auf der Hand, wie man meinen könnte. Das liegt auch daran, dass wir in einer pluralen Gesellschaft leben. Die Wünsche und Bedürfnisse der einzelnen Menschen könnten, was die Gestaltung ihres Alltags angeht, unterschiedlicher kaum sein.

Unterschiedliche Menschen – unterschiedliche Wünsche

Um es etwas konkreter zu machen: Was stört es den Bankangestellten groß, für ein paar Wochen im Home Office zu arbeiten? Außer natürlich, es handelt sich um einen alleinerziehenden Vater, dem plötzlich die Kita-Betreuung flöten geht. Eine junge Gastronomin fürchtet sich vielleicht nicht vor einer COVID-19-Infektion, sondern vor den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie auf ihr Unternehmen. Außer, ihre Partnerin ist schwer lungenkrank. Dann fürchtet sie sich vermutlich vor beidem. Eine geflüchtete Familie ist in einer Sammelunterkunft einem stark erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt. Aber wer weiß, ob ihre noch größere Sorge nicht vielleicht darin liegt, dass sich ihr Asylprozess nun noch länger hinzieht, die Eltern noch länger nicht arbeiten und die Kinder noch länger in Ungewissheit leben müssen? Man könnte die Liste ewig fortsetzen.

It’s all about perspective

So unterschiedlich die Menschen in ihren Bedürfnissen sein mögen – in ihren Rechten sind sie alle gleich. Oder etwa nicht? Sind wir alle gleich, aber vielleicht – in der Praxis – einige doch gleicher? Ganz offensichtlich. In von Rassismus geprägten Gesellschaften erkranken Betroffene überdurchschnittlich häufig an COVID-19 und haben schlechteren Zugang zum Gesundheitssystem. Das wird unter anderem in den USA gerade schmerzhaft deutlich. Wer finanziell schlechter dasteht, wohnt häufiger beengt oder hat einen Job, in dem Abstand halten schlicht nicht möglich ist. Und gerade Frauen bekommen nun wieder die Doppelbelastung zu spüren, wenn sie sowohl Erwerbs- als auch Care-Arbeit schultern müssen.

Wird man von einer Gesellschaft, ihren Institutionen oder Entscheidungsträger:innen benachteiligt, leidet darunter notwendigerweise das Vertrauen in das System und die Menschen dahinter. Doch Vertrauen braucht es, um in Krisenzeiten wie diesen das Gefühl zu haben, die getroffenen Entscheidungen seien richtig und tatsächlich wichtig. Lautstarke Kritik an den Entscheidungen, die zur Eindämmung des Coronavirus getroffen wurden, schallt derzeit nicht nur aus den sozialen Medien, sondern auch von den Straßen Berlins, Stuttgarts oder Münchens. Doch beim Blick in die Menge der Demonstrant:innen kann man sich des Eindrucks nicht verwehren, es handle sich gerade nicht mehrheitlich um die in unserem System benachteiligten. Moment, was für ein Schwachsinn: Wer sieht einem Menschen schon an, was in seinem Alltag vor sich geht? Wer weiß schon, ob der „alte weiße Mann“ nicht vielleicht unter schweren Depressionen leidet, oder ob Demonstrantin Gudrun Doppelschichten auf der Intensivstation schiebt und nebenher drei Kinder, eine Oma und einen Ehemann betreut?

Ich revidiere also: Der Eindruck entsteht beim Horchen in die Menge. Zwischen die genuinen Sorgen um das eigene wirtschaftliche Bestehen oder Angst vor sozialer Isolation mischen sich besonders laut Stimmen, die Bill Gates die Schuld am Ausbruch des Virus geben oder eine jüdische Verschwörung wittern. Sie meinen hinter jedem Medienbericht Fake-News zu erkennen und bezichtigen Politiker:innen und Mediziner:innen, diktatorisch über die Bevölkerung zu herrschen. Vollends entfernen sie sich von jedweder ernstzunehmenden Kritik, wenn sie Vergleiche zur Verfolgung von Jüdinnen und Juden im Dritten Reich anstellen und damit die Opfer des Holocaust verhöhnen.

Wer entscheidet?

Wenn wir ein Schlaglicht darauf werfen, wer in Krisenzeiten vertrauen kann und wer welche Sorgen hat, dann steht das aber auch im direkten Zusammenhang damit, wer die Entscheidungen trifft. Denn aus unterschiedlichen Brillen betrachten schließlich nicht nur die Bürger:innen die Pandemie und ihre Folgen. Es schafft unter verunsicherten oder überarbeiteten Familien wohl kaum besonderes Vertrauen, wenn dem Leopoldina-Ausschuss, der sich mit dem Umgang mit Corona in Kitas und Schulen befasst, neben 24 Männern zwei Frauen angehören und das Durchschnittsalter bei 60 Jahren liegt. Oder wie es die Medien so schön zusammenfassten: Wenn die Gruppe mehr Personen mit dem Namen Thomas als Frauen umfasste. Das heißt nicht zwangsläufig, dass die Thomase in den Entscheidungsebenen voreingenommen sind und einseitig denken – aber zweifellos heißt es, dass wichtige Erfahrungen und Perspektiven unter den Tisch fallen.

Perspektive spielt auch eine wichtige Rolle, wenn es um Ansprüche geht. Um Ansprüche, die wir an unsere Freiheiten und den Umgang der Entscheidungsträger:innen damit stellen. Für viele Menschen in Deutschland lautete dieser Anspruch an das System bisher, in kontrolliertem Frieden zu leben. Wir haben die Kontrolle. Wir kontrollieren, was geschieht und vor allem auch, dass bestimmte Dinge nicht geschehen. Da kommt eine Pandemie reichlich ungelegen, ereilten derart unkontrollierbare Gefahren doch bislang eher die Erdteile, denen man problemlos eine eigene Schuld daran zuschieben oder die man zumindest bis auf die allabendliche kurze Erwähnung in den Tagesthemen weitestgehend ignorieren konnte.

Die Probleme und Ängste der Menschen dürfen nicht geringgeschätzt oder weggewischt werden. Gleichzeitig erinnert einen ein Schuss Perspektive aber daran, dass viele Menschen weltweit über Urlaubsverbote, verwackelte Zoom-Meetings und geschlossene Fitnessstudios nur müde lächeln können. Wenn der tägliche Gang zur Arbeit darüber bestimmt, ob noch mehr Geld als nur für die nächste Mahlzeit in der Haushaltskasse ist, dann sind Mietstundungen und Sozialhilfe nicht einmal einen kühnen Traum wert.

Maschine defekt?

Doch wer definiert, wo genuine Kritik aufhört und Arroganz oder Wahnsinn anfangen? Sind neben ernsthaft zu diskutierenden Forderungen auch Verschwörungstheorien der fortwährenden Aufklärung wert? Also: Ist das Kritik oder kann das weg? Ist die Demokratie ernsthaft in Gefahr, weil sich nicht mehr ein paar wenige in einschlägigen Foren tummeln, sondern tausende ohne Schutzmaske und Abstandseinhaltung auf die Straße gehen? Nehmen wir doch den Maschinenraum: Ist ein unbedeutendes kleines Ventil etwas rostig oder sitzt ein Schräubchen unter unzähligen locker, kann das System das zweifelsfrei verkraften. Aber umso lauter es knarzt, umso mehr Muttern sich lösen, desto schwerer fällt es der Maschine, wie gewohnt weiterzulaufen.

Deshalb drängt sich bei all den Einforderungen von Perspektiven eine weitere – ich verspreche, die letzte – Frage auf: Müssen in einer Demokratie alle Perspektiven gleichermaßen zählen, auch die, die auf kruden Theorien fußen oder Dinge fordern, die gemeinhin bedeutungslos erscheinen? Perspektiven müssen zählen, um den bestmöglichen Konsens zu finden. Doch wer auch hinter auf wissenschaftlicher Evidenz und vorsichtiger politischer Abwägung beruhenden Maßnahmen die Weltverschwörung wittert und dafür antisemitische Klischees bedient, oder wer gemeinsam mit Menschen, die das tun, auf der Straße steht, der katapultiert sich selbst ins Aus. Denn das Spiel mit den Perspektiven ist keine Einbahnstraße: Wer die eigenen Freiheiten in Gefahr wähnt, muss auch selbst in die Rolle anderer schlüpfen, deren körperliches oder geistiges Wohl vielleicht stärker gefährdet ist. Und in die Rolle derjenigen Entscheidungsträger:innen, die auf die Gesundheit aller schauen müssen, ohne das Wohl des einzelnen zu stark einzuschränken. Denn nur so läuft die Maschine.

Der Artikel wurde leicht abgeändert als Essay auf einen Open Call der Initiative WIR MACHEN DAS mit dem Titel „Erkundungen im Maschinenraum der Demokratie“ eingereicht.

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