Kommt unsere Zukunft aus Honduras?

Honduras macht normalerweise keine guten Schlagzeilen: ein Platz ganz weit hinten auf dem Korruptionsindex von Transparency International, eine politische „Elite“, deren führende Köpfe in den Rauschgifthandel verwickelt sind, eine Verelendung weiter Teile der Bevölkerung, die in großen Scharen nach Norden zu fliehen sucht. Und die brutale Verfolgung von Menschen, die die elementaren Menschenrechte dieser Bevölkerung zu schützen versuchen – in Nürnberg ist uns noch gut in Erinnerung das Beispiel der Direktorin einer dieser Menschenrechtsorganisationen, Hedme Castro, die ein halbes Jahr im Rahmen des Schutzprogramms ESI beim NMRZ zu Gast war.

Da verwundert es doch ein bisschen, von einem deutschen Unternehmer zu hören, dass in Honduras, dem mittelamerikanischen Kleinstaat mit ca. 10 Millionen Einwohnern, mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von ca. 2.500 US-Dollar und einer Mordrate von rund 40 Menschen pro Hunderttausend Einwohnern (zum Vergleich: in Deutschland sind es 0,7 pro Hunderttausend) gerade ein hoffnungsvoller „Testlauf“ auch für Europa abläuft. Worum geht es da?

In Honduras haben die beiden durch einen Putsch 2009 an die Macht gekommenen Präsidenten Porfirio Lobo und sein vor kurzem abgewählter Nachfolger Juan Orlando Hernández sich etwas einfallen (oder einreden) lassen, was nicht nur für ihre Geschäfte einträglich ist, sondern eben auch UnternehmerInnen ins Schwärmen geraten lässt. 2016 gaben sie grünes Licht für die Gründung einer ersten „Sonderentwicklungszone“ (ZEDE = Zonas de Empleo y Desarrollo Económico, wörtlich: Zonen für Entwicklung und Beschäftigung) auf Roatán, eine der karibischen Küste vorgelagerten, von indigenen Garífuna bewohnten Insel. Das klang zunächst wie die seit Jahrzehnten aus Mexiko und anderen Ländern bekannten Freihandelszonen oder Sonderwirtschaftszonen („Maquilas“), in denen transnationalen Unternehmen Steuererlass und weitere wirtschaftliche Vorteile als Anreiz geboten werden.

Die Idee vom Staat im Staat

Doch die honduranischen ZEDE gehen weit über dieses Modell hinaus. Dahinter steckt eine Idee, die extremen Wirtschaftsliberalismus mit extremer Demokratiefeindlichkeit verbindet. Als ihr „Erfinder“ gilt allgemein der US-amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger (von 2018!) und zeitweiser Chefökonom der Weltbank Paul Romer, der dieses Konzept in Gestalt von „Charter Cities“ realisieren will. Nach dem Putsch sah Romer in Honduras die perfekte Gelegenheit, seine Ideen in die Tat umzusetzen. Er schwadronierte von einer reformorientierten neuen Elite in Honduras, vom „Wunsch aller Honduraner nach fundamentalen sozialen Veränderungen“, ja nach „Versöhnung“, dem seine kapitalistischen Privatstädte dienen würden, und von der Einsicht der neuen politischen Führung, dass sie einen „sicheren Hafen“ bräuchten, wo sie „einen scharfen Bruch mit dem Kreislauf aus Unsicherheit und Instabilität, der Furcht erzeugt und Vertrauen unterminiert“, vollziehen könnten (so nachzulesen in seinem Buch „Success and the City: How charter cities could transform the developing world” von 2012, S. 8).

Honduras als Modell: Freiheit für das Finanzkapital, Diktatur für die Bevölkerung

Einer dieser „Reformer“ Octavio Sánchez, der Stabschef des Putschpräsidenten Lobo, sorgte denn auch dafür, dass die für den Traum der rechtsfreien Gebiete nötige Verfassungsreform durchgesetzt wurde. Dass der Oberste Gerichtshof diese 2012 dann für verfassungswidrig erklärte, war kein Problem für das Regime. Die uneinsichtigen RichterInnen wurden einfach abgesetzt und durch willfährige ersetzt. Damit stand der Gründung der ersten ZEDE nichts mehr im Weg. Wie das im Einzelnen funktionierte, welche Gesetze und Garantien für die honduranische Bevölkerung aufgehoben, welche umfassenden Vollmachten dafür der aus Unternehmern bestehenden „Regierung“ der ZEDE gegeben wurden, das beschreibt in schöner Offenheit Erick Brimen, Geschäftsführer des im US-Staat Delaware ansässigen Unternehmens Honduras Próspera LLC, von dem aus die Próspera-ZEDE auf der honduranischen Insel Roatán in Wirklichkeit regiert wird.

Obwohl das Durchpeitschen der ZEDE durch die korrupte Putschregierung als großer, durch eine breite Mehrheit legitimierter Erfolg gefeiert wird, dient den Ideologen der ZEDE dann der „Ruf von Honduras, dass dort Korruption und Straflosigkeit herrscht“, als Argument dafür, dass deren eigene Struktur „so weit als möglich von dem täglichen Geschäft des Gesetzgebers isoliert sein“ müsse. Damit das auch so bleibt, hat man in die Verfassung schreiben lassen, dass die Privilegien der ZEDE nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit geändert werden können (die neue demokratisch orientierte Regierung von Xiomara Castro verfügt nicht einmal über die einfache Mehrheit). Ferner hat man dafür gesorgt, dass Honduras mit einer Reihe wichtiger Geschäftspartner (natürlich den USA, ferner Kuwait und die im CAFTA-Freihandelsabkommen zusammengeschlossenen zentralamerikanischen Staaten) Investitionsschutzabkommen unterzeichnete, die jeweils Garantien für die ZEDE enthalten. Und schließlich sollen eventuelle Streitigkeiten vor einem privaten Schiedsgericht entschieden werden.

Triumphierend stellen die Erfinder dieses kapitalistischen Paradieses fest, dass es sich Honduras wohl kaum leisten kann, die ZEDE einmal wieder aufzulösen, dafür seien „die politischen und pekuniären Kosten“ einfach zu hoch. „Und selbst wenn das gleichnamige ZEDE-Gesetz aufgehoben würde, wäre die Existenz der ZEDE für etwa 50 Jahre garantiert.“ Ob die neue Präsidentin sich also an das Problem wagt, wird sich zeigen. Dass der abgewählte Präsident Juan Orlando Hernández inzwischen wie sein schon zu lebenslanger Haft verurteilter Bruder ebenfalls wegen Rauschgifthandel verhaftet wurde, mag helfen, doch die Macht dieser Herrschaftsclique ist damit noch nicht gebrochen. Die ZEDE Próspera macht jedenfalls schon mal die Geschütze scharf. Am 2. Februar 2022 ließ sie verlauten:

“Seit fünf Jahren glauben wir an Honduras und haben hier Millionen Dollar investiert, die Tausende Arbeitsplätze geschaffen haben, direkte und indirekte […] Diese Investitionen und Arbeitsplätze, und obendrein der internationale Ruf von Honduras und seine Staatsfinanzen geraten nun in Gefahr, wegen eines juristischen, nicht verfassungsgemäßen Vorgehens [der neuen Regierung, d.A.] das darauf zielt, die arbeitsplatzschaffenden und investitionsfördernden Dekrete bezüglich der Sonderwirtschaftszonen (ZEDE) zu widerrufen. […] Handlungen, die die anwendbaren Rechtsnormen nicht respektieren, einschließlich internationaler Verträge, können dem honduranischen Staat finanzielle Einbußen und Nachteile in Höhe von mehr 1,3 Milliarden Dollar verursachen, internationale Kontroversen auslösen, Tausende honduranischer Familien schaden und Investitionen verhindern, die für ein prosperierende Zukunft von Honduras wesentlich sind.“

(Eigene Übersetzung)

Die Wirklichkeit schaut anders aus

Die ZEDE können in Honduras schalten und walten, praktisch ohne staatliche Kontrolle (die schwach genug ist). Zwar sind sie – bisher – flächenmäßig klein, ihrer Ausdehnung sind jedoch keine Grenzen gesetzt, sodass die Bevölkerung in ihrer Umgebung sich ständig von Enteignungen bedroht sieht. Ihre weitgehende Loslösung von staatlichen Normen machen sie zu einem Vorbild für andere, groß angelegte Vorhaben extraktiver Unternehmen. Nicht nur die ansässige Bevölkerung, große Teile der honduranischen Zivilgesellschaft wie Universitäten, Gewerkschaften, Verbände und indigene Organisationen wehren sich gegen das Modell der ZEDE und seine Ausbreitung. Doch solcher Widerstand hat einen hohen Preis. Honduras belegt traurige Spitzenplätze bei der Ermordung von Menschenrechts- und UmweltschützerInnen.

Von den ZEDE zum globalen Modell eines entfesselten Kapitalismus

So schlimm die ZEDE für die honduranische Gesellschaft sind, es geht nicht nur um Honduras. Den Erfindern dieser von jeglicher öffentlicher Kontrolle unabhängigen kapitalistischen Kleinrepubliken –gelegentlich nennen sie explizit die italienischen Stadtstaaten der aufstrebenden Bourgeoisie als Vorbild – geht es um mehr. Wenn der deutsche Investor Titus Gebel von einem „Testlauf“ in Honduras spricht, der „einzigartige und innovative Lösungen des Zusammenlebens entwickelt“, lohnt es sich, genau hinzuhören. Diese einzigartige Art des Zusammenlebens besteht im Kern darin, dass die Bewohner einer solchen „Charter City“, für die die honduranische ZEDE „Próspera“ Modell steht, keiner Regierung, sondern dem Konsortium der InvestorInnen unterstehen, das die jeweilige Enklave gründet und finanziert. Die InvestorInnen sind zugleich die HerrscherInnen des Gebiets. Im Fall von Próspera haben sie einen Aufsichtsrat mit dem orwellschen Namen CAMP, the Committee for the Adoption of Best Practices gegründet, in dessen Händen alle Entscheidungsmacht liegt. Seine erste Vorsitzende war die österreichische FPÖ-Politikerin Barbara Kolm. Statt einen Pass zu beantragen, muss man sich – nach der gehörigen Bonitätsprüfung durch die EigentümerInnen – nur einkaufen.

Bürgerrechte im herkömmlichen Sinn und demokratische Strukturen, die nur Unruhe stiften, braucht es nicht mehr, alle Beziehungen werden privatrechtlich geregelt. Politik als solche ist für die IdeologInnen der „Charter Cities“ des Teufels und die Quelle allen Übels, also muss sie weg. Jedenfalls die Art von Politik, die die freie Selbstregulierung des Kapitals durch sozialpolitische Eingriffe zu stören droht. Investor Gebel malt da ein wahres Schreckensszenario, in dem es „lichterloh an allen Fronten brennt“ und zitiert als Kronzeugin die Pegida-Propagandistin und AfD-Unterstützerin Vera Lengsfeld: „Wir sind in einer Transformationsphase hin zur bewussten politischen, kulturellen und ökonomischen Destabilisierung der einst wohlhabendsten und freiheitlichsten Teile dieser Erde.“ Recht unverblümt lässt er durchblicken, dass allenfalls „die als ‚populistisch‘ diffamierten Oppositionsparteien“ noch Rettung bringen könnten. Oder eben die freien, selbstverwalteten „Charter Cities“:

„Die einzige Chance, die wir Freiheitlichen haben, ist, in der Zeit der Ungewissheit, also wenn die alte Ordnung erkennbar zu Ende geht, aber noch keine neue etabliert ist, ein System weitgehend unabhängiger Städte und Gemeinden zu etablieren, idealerweise Freie Privatstädte, die aufgrund ihrer Konstruktion praktisch politikfrei sind. Nur in solchen Umbruchzeiten besteht die Möglichkeit, Modelle zu etablieren, die zuvor noch undenkbar gewesen sind,“ erklärte Gebel im Interview. In seinem Buch Freie Privatstädte hat Gebel diese dystopischen Vorstellungen ausführlich entwickelt. Ganz offen beschreibt er da, dass er das „Zusammenleben als Markt“ betrachtet, und dass die Privatstädte die „alternative Ordnung“ der Zukunft sein müssten. Diese Freiheit freilich, so der längste Teil des Buches, muss durch ein umfassendes Netz von Sicherheitsmaßnahmen kontrolliert werden, das natürlich in Händen der InvestorInnen liegt.

Zukunft der „Charter Cities“ im Mittelmeerraum?

Bei so viel libertär-autoritärem Pioniergeist kann einer nicht fehlen: Peter Thiel, der US-Milliardär und neue Boss von Sebastian Kurz. Tatsächlich gehört der rechtsradikale Trump-Flüsterer Thiel zu den ersten InverstorInnen des honduranischen Próspera-Projekts. Doch auch Thiels Pläne sind weltumspannend. Mit seiner Firma Bluebook Cities plant er große „Charter Cities“ für die neuen Menschen, die frei und reich ohne lästige Regeln leben wollen. Und auch dieser große Philosoph beruft sich auf die kapitalistischen Keimzellen in den italienischen Städten der Renaissance. Leben soll dort nur eine exquisit ausgesuchte „Elite“, gecheckt durch zahlreiche Referenzen aus dem Milliardärsumfeld. Gedacht ist an einen Ort irgendwo am Mittelmeer, in einem Land, das keine „dumb regulations“ kennt. An welches Land er wohl denkt? Titus Gebel hat da schon mal Ideen:

„Parallel werden wir versuchen, mit Regierungen in Europa Möglichkeiten zu eruieren, weitgehend autonome Privatstädte zu etablieren. Diese können dann als Fluchtpunkt dienen, falls es keinen geordneten Übergang gibt oder die Repression anderswo unerträglich wird. Es liegt auf der Hand, dass aus politischen und rechtlichen Gründen so etwas eher nicht innerhalb der EU möglich ist. Erste Ansätze bestehen im Kaukasus, wir untersuchen aber auch rechtliche Sonderregime in westlichen Ländern im Hinblick auf ihre Eignung für Privatstädte oder autonome Sonderzonen.“

Freuen wir uns also über unsere EU-Bürgerschaft. In Honduras allerdings sind die schauerlichen Pläne dieser kapitalistischen Herrschaft schon Teil der Realität. Und da sie als Modell präsentiert wird, sollte uns das nicht gleichgültig sein.


Titelbild von amerika21, 28.11.2020, „ZEDE – Inseln des Wohlstands im Chaos von Armut, Gewalt und organisiertem Verbrechen?“ aufrufbar unter https://amerika21.de/termin/2020/11/244965/zede-inseln-des-wohlstands-im-chaos

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