Aus meinem pandämonischen Notizbuch… Heute: Ein Brief aus dem Chocó

Meine Freunde Ursula und Uli lernte ich in den neunziger Jahren kennen. Damals lebten sie schon viele Jahre in einem der entlegensten Winkel von Kolumbien, am großen Atratofluss im tropischen Regenwald der Region Chocó an der Pazifikküste des Landes. Dort leben und arbeiten sie unter dem Dach der katholischen Diözese noch immer, begleiten und unterstützen die afrokolumbianischen und indigenen Gemeinschaften, die dort die große Mehrheit der Bevölkerung bilden. Die Menschen dort sind großenteils arm, nicht zuletzt, weil es so viele Reichtümer in der Region gibt, wie z.B. Gold. So war und ist der Chocó auch von den Bürgerkriegsparteien und Mafiaorganisationen besonders heimgesucht. Und nun auch von Corona.

Anfang Juli schrieben Ursula und Uli mal wieder einen langen Brief an ihre Freunde in Deutschland, in dem sie einen plastischen Einblick in die Auswirkungen von Corona in dieser ohnehin schon von Armut und Gewalt geschüttelten Region geben:

Versammlungen, Gesprächsrunden, Besprechungen, Hausbesuche, Fahrten in die Dörfer, all das, was den größten Teil unserer Zeit in Anspruch genommen hat, ist vorläufig nicht mehr möglich. Trotzdem ist es uns bisher keineswegs langweilig geworden. Im Gegenteil, das Telefon steht nicht still und fast jeden Tag werden Konferenzen per Internet angesetzt. Dabei muss sich unsere Hauptsorge nach wie vor auf die erschreckende Zunahme der Gewalt richten. Alle bewaffneten Gruppen benutzen die Pandemie, um ihre territoriale Herrschaft auszudehnen und zu verfestigen. Auf dem Land sind die Paramilitärs und die verbliebenen Guerillagruppen wieder auf dem Vormarsch. In der Stadt üben die Banden immer mehr die Kontrolle über die Wohnviertel aus. Die Gewaltakteure sind die Einzigen, die keinerlei Ausgangsbeschränkungen unterliegen. Personen, die sich dieser Herrschaft widersetzen wollen, werden eingeschüchtert und bedroht. Allein hier in der Provinzhauptstadt Quibdó haben wir dieses Jahr bereits 87 Mordfälle registrieren müssen. Es fallen nach wie vor weit mehr Menschen den Gewaltverbrechen zum Opfer als dem Coronavirus, der bisher im gesamten Chocó 70 Sterbefälle verursacht hat.

Die kirchliche Sozialarbeitsstelle, in der Ursula und Uli seit Jahrzehnten engagiert sind, arbeitet eng mit den Basisorganisationen sowohl der schwarzen wie der indigenen Bevölkerung zusammen. Auch der Bischof von Quibdó nimmt kein Blatt vor den Mund. Angesichts der immer dramatischeren Lage hat die Diözese im Juni gemeinsam ein Dokument mit dem Titel „Jenseits der Pandemie leidet der Chocó unter dem Vormarsch der historischen Viren der Gewalt, der staatlichen Vernachlässigung und der Korruption“ veröffentlicht. Wie Ursula und Uli schreiben, gibt es sogar kleine Erfolge:

Das korrupte Gesundheitssystem und die noch korruptere Landesregierung sind interveniert, und die katastrophale Gesundheitsversorgung wird jetzt durch Personal aus dem Landesinneren unterstützt. Nur auf das Problem der Gewalt gibt es noch keine Antwort.

Ihre Aufgabe sehen die beiden in dieser Situation vor allem in der Stärkung der solidarischen Ökonomie, d.h. der Gruppen, die in diesem Bereich schon lange tätig sind. Z.B. die Kunsthandwerksgruppe „Choibá“:

Artesanías Choibá hat bereits 7000 Mund- und Nasenschutzmasken genäht. Auch eine Gruppe, die von den Laienmissionarinnen der Claretiner begleitet werden, hat sich mit 1500 Exemplaren in diese Arbeit eingeklinkt. Die Frauen haben sich in Kleingruppen aufgeteilt. Auf dem Bild ist die größte Gruppe zu sehen. Sie wohnt in der Flüchtlingssiedlung Villa España. Gewundert hat uns, dass in diesem Monat doppelt so viel gearbeitet wurde wie in den „normalen“ Monaten. Die Frauen meinten: „Jetzt wo wir nicht hinter unseren Kindern her sein müssen, sie dürfen ja nicht raus, können wir nähen und die Kinder sitzen hier, machen ihre Aufgaben und helfen im Haushalt.“ Das hört sich doch ganz vernünftig an, oder? Die Mundschutzmasken wurden von der Pastoral Social, also Caritas geordert. Die Diözese hat ein Projekt, um vor allem die indigenen Gemeinden mit Masken zu versorgen, und somit haben wir wieder einmal erfahren können, dass sie auf die Gruppen zählen und wie immer aus einem Projekt zwei gemacht werden, Mundschutz für die Gemeinden und Einnahmen für die Gruppen der Gewaltopfer.

Sobald diese Arbeit abgeschlossen ist, wollen wir an unserem Erinnerungsprojekt weiterarbeiten. Dabei sollen auch Puppen mit Mundschutz genäht werden, damit man sich später einmal daran erinnern kann: das war 2020 in der Zeit der Corona-Pandemie. Es geht darum, die trauernden Frauen bei ihrer Mahnwache dieses Mal mit einer Maske zu zeigen, nach dem Motto: mit Mundschutz aber nicht mundtot.

Mir hat dieser Brief viel zu denken gegeben. Dass das, was viele von uns hier als Katastrophe empfinden, für andere einfach eine Plage mehr ist, und nicht unbedingt die schlimmste von allen. Allerdings eine, die alle anderen noch schlimmer macht. Und wie viel Mut und Kraft dazu gehört, in einer solchen Situation weiter zu kämpfen, nicht mit der Waffe, aber mit Beharrlichkeit und Gemeinschaftssinn. Danke, Ursula und Uli, für euer Engagement!


Rainer Huhle

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