by Jil M. –
„Niemand weiß, was die Zukunft bringt, aber eines ist sicher: Du selbst gestaltest Deine Zukunft“.
Was zunächst wie ein typischer Motivationsspruch aus einem Selbsthilfebuch oder einem Social-Media-Coaching klingt, stammt in Wahrheit aus dem Kinderbuch „Mein Leitfaden zur Rückkehr“, das die EU-Grenzagentur Frontex 2023 veröffentlicht hat. Es richtet sich an Kinder zwischen 6 und 11 Jahren sowie an Jugendliche ab 12 Jahren und soll sie auf Abschiebungen vorbereiten; außerdem enthält es einen Abschnitt für Eltern, der sie über den Ablauf informiert und Hinweise gibt, wie sie ihre Kinder unterstützen können. Es wurde in mehreren Sprachen veröffentlicht und ist Teil einer Reihe von Materialien, die von Frontex zur Unterstützung von Rückkehrprozessen entwickelt wurden. Hierbei soll es als eine Art ‚Benutzerhandbuch‘ für Kinder und Jugendliche dienen, welches die Abschiebung als vermeintliche Abenteuerreise darstellt, als eine Reise ins Heimatland der Eltern, bei der man sich auf Leckereien und viele neue spaßige Eindrücke freuen kann.
„Neues Kennenlernen ist immer aufregend, darum habe ich keine Angst, Neues zu entdecken – vielleicht nette neue Lehrer, nette neue Freundinnen und Freunde oder leckere neue Süßigkeiten.“
Aber das ist leider sehr irreführend. Es gibt erhebliche Kritik an diesem Leitfaden, insbesondere aus menschenrechtlicher und kinderrechtlicher Perspektive. Hier werden gewaltsame und oft auch traumatische Erlebnisse verharmlost. Abschiebungen, die im Buch als bloßer Umzug oder freiwillige Rückkehrentscheidung beschrieben werden, bedeuten in der Realität für Kinder und Jugendliche den Verlust von Sicherheit, Zuhause, Freundschaften und Bildung. Die Rückkehr in die Herkunftsländer der Eltern, in denen die Betroffenen oft nie gelebt haben, führt zu Ausgrenzung, zwingt sie in existenzielle Notlagen und gefährdet häufig auch ihr Wohlergehen. Das Buch verpackt Zwangsmaßnahmen als harmlose Details: „Diese Begleitpersonen tragen vielleicht eine besondere Weste, damit Du sie erkennen kannst. Sie sind da, um Dir zu helfen.“ Oder: „Möglicherweise siehst Du jemanden mit Handschellen. So sind er und die anderen sicher.“ Frontex vermittelt hier den Eindruck, dass Polizeimaßnahmen, Fesselungen und begleitende Sicherheitskräfte wie freundliche Helfer:innen wirken, die Kinder „unterstützen“. In Wirklichkeit geht es um Zwang und Kontrolle, die in Form von harmlosen Details verpackt werden.
Die Darstellungen im Buch zeichnen ein stark idealisiertes Bild, das in der Realität kaum der Wahrheit entspricht. Abschiebungen verletzen regelmäßig grundlegende Kinderrechte und stehen im klaren Widerspruch zu einem umfassenden Kinderschutz. Und auch wenn im Buch die Grundprinzipien der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) dargestellt werden, dient es wohl vielmehr dem oberflächlichen Schein. Da die Abschiebungen, beispielsweise dem in Art. 3 UN-KRK verankerten Vorrang des Kindeswohls widerspricht: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen (…) ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ Diese Formulierung verdeutlicht, dass bei kinderbezogenen Entscheidungen – öffentlicher wie privater Natur – das Kindeswohl oberste Priorität haben muss. Darüber hinaus werden in Art. 8 UN-KRK die Rechte des Kindes auf Identität und familiäre Bindungen betont: „Die Vertragsstaaten sichern jedes Kind sein Recht auf Identität, einschließlich Staatsangehörigkeit, Name und familiäre Beziehungen, soweit möglich von Geburt an zu wahren.“ Abschiebungen können diese Rechte massiv gefährden, indem sie Kinder von ihrem vertrauten Umfeld entfremden. Art. 12 UN-KRK stärkt zudem das Recht auf Beteiligung: „Die Vertragsstaaten gewährleisten dem Kind, das in der Lage ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht, diese Meinung in allen das Kind betreffenden Angelegenheiten frei zu äußern, wobei die Ansichten des Kindes angemessenes Gewicht entsprechend seinem Alter und seiner Reife haben.“ Die Praxis der Abschiebung nimmt Kindern jedoch die Möglichkeit, gehört zu werden und missachtet damit ihr Recht auf Mitsprache.
Kinderrechte sind auch im Hinblick auf Abschiebungen unbedingt zu wahren
In den Materialien von Frontex bleiben Kinderrechte weitgehend abstrakt und ohne konkrete Konsequenzen. Sie werden nicht mit dem tatsächlichen Ablauf von Abschiebungen verknüpft. So wird im Abschnitt „Identitätspapiere und Reisedokumente“ ein Gespräch mit unbekannter Person zur Klärung der Identität angekündigt – ohne zu erklären, wer diese Person ist, welche Befugnisse sie hat oder was geschieht, wenn das Kind nicht antworten kann oder möchte. Der Text informiert Kinder nicht über Rechte auf altersgerechte Begleitung, Übersetzung oder psychische Unterstützung. Ebenso fehlt der Hinweis, dass sie nicht zu Antworten gedrängt werden dürfen, die sie überfordern. Diese Vorgehensweise verstößt gegen zentrale Artikel der UN-Kinderrechtskonvention: Art. 3 sichert den Vorrang des Kindeswohls, Art. 8 das Recht auf Identität und Art. 12 das Recht auf Beteiligung. Zusätzlich werden Art. 22 und Art. 39 der UN-KRK verletzt: Art. 22 UN-KRK gewährleistet geflüchteten und vertriebenen Kindern besonderen Schutz, Hilfe und soziale Unterstützung. Art. 39 UN-KRK verpflichtet die Staaten, Kindern, die Opfer von Gewalt, Misshandlung oder traumatisierenden Erfahrungen geworden sind, umfassende Unterstützung zur Wiederherstellung ihres körperlichen und seelischen Wohlergehens sowie zur sozialen Reintegration zu bieten. Das Frontex-Kinderbuch berücksichtigt weder diese Schutzpflichten noch praktische Unterstützungsmaßnahmen. Auch im Hinblick auf Art. 6 (Recht auf Leben, Überleben und Entwicklung) und Art. 19 (Schutz vor Gewalt, Misshandlung und Vernachlässigung) können Abschiebungen ohne ausreichende Schutzmaßnahmen die körperliche und psychische Entwicklung von Kindern erheblich gefährden, da das Material belastende Situationen verharmlost und Kinder in stressige oder potenziell traumatisierende Abläufe gedrängt werden könnten. Statt die Kinder zu schützen, erhöht die Darstellung das Risiko, sie in belastende oder einschüchternde Situationen zu bringen, ohne dass ihnen angemessene Unterstützung oder Schutzmechanismen zur Verfügung stehen.

Obwohl Frontex gegenüber Correctiv erklärte, das Buch sei „zur Unterstützung von Kindern während eines schwierigen Übergangs“ und nicht dazu gedacht, die Realität von Rückführungen zu verharmlosen oder die Komplexität jeder einzelnen Erfahrung zu ignorieren, bleibt aus kinderrechtlicher Perspektive die Problematik bestehen: Die dokumentierten Menschenrechtsverletzungen von Frontex, insbesondere im Zusammenhang mit sogenannten Pushbacks an den EU-Außengrenzen, werfen Zweifel an der Eignung der Agentur auf. Vor diesem Hintergrund ist Frontex weder eine geeignete noch glaubwürdige Institution, um Informations- und Bildungsmaterial für Kinder zu erstellen, die den Anforderungen der UN-Kinderrechtskonvention gerecht werden. Vor diesem Hintergrund hat das Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention vor 2 Monaten diesbezüglich Stellung bezogen und fordert nun:
- Die sofortige Rücknahme der Materialien „Mein Leitfaden zur Rückkehr“ durch den Verwaltungsrat von Frontex;
- Eine unabhängige Prüfung der kindbezogenen Kommunikation im Kontext von Abschiebungen und Flucht durch die Europäische Kommission, um sicherzustellen, dass Informationen für Kinder altersgerecht, wahrheitsgemäß und nicht irreführend sind, ihre Rechte im Verfahren konkret benannt werden und dem besonderen Schutzbedürfnis von Kindern Rechnung getragen wird;
- Die Beauftragung unabhängiger, kinderrechtsorientierter Fachstellen mit der Entwicklung von Informationsmaterialien, die sowohl kindgerecht als auch menschenrechtskonform sind;
- Die Sicherstellung von Verfahren, die dem Kindeswohl vorrangig Rechnung tragen, einschließlich psychosozialer Begleitung, Rechtsbeistand und effektiver Beschwerdemechanismen.
Im Buch werden Kinder und Jugendliche dazu aufgefordert, sich ihre Zukunft in schönen Farben auszumalen: „Was wünschst Du Dir für die Zeit nach Deiner Rückkehr? (…) Wie stellst Du Dir Deine Zukunft in ein paar Jahren vor? Was würdest Du gerne erleben, was würde Dich glücklich machen? Wo wirst Du sein? (…) Wenn Du klare Träume, Wünsche und Ziele hast, kann Dir das helfen, alles zu tun, damit sie wahr werden.“ Damit sollen Träume und Hoffnungen gestärkt werden. Hier wird aber die schwierige Realität einer Abschiebung ausgeblendet. Die Aufforderung vermittelt den Eindruck, dass Rückführungen grundsätzlich ein positives Erlebnis sind, ohne die damit verbundenen Probleme und Belastungen anzusprechen.
Frontex-Kinderbuch verfehlt die Anforderungen der UN-Kinderrechtskonvention
Grundsätzlich ist es wichtig und richtig, mit Kindern über Abschiebungen zu sprechen – daran besteht kein Zweifel. Problematisch ist jedoch, die Realität derart zu verzerren. Dadurch entsteht der Eindruck, dass die Folgen und Probleme einer Abschiebung als etwas grundsätzlich Positives dargestellt werden. Das Buch von Frontex bleibt abstrakt, berücksichtigt zentrale Kinderrechte nicht und verharmlost potenziell belastende Abläufe. Rechte wie der Vorrang des Kinderwohls (Art. 3), Schutz geflüchteter Kinder (Art. 22), psychologische Unterstützung bei Traumatisierung (Art. 39) sowie Beteiligungs- und Identitätsrechte (Art. 8, 12) werden nicht ausreichend umgesetzt. Auch weitere Schutzrechte, etwa aus Art. 6, 19 oder 37, werden nicht hinreichend berücksichtigt.
Deshalb müssen die Forderungen des Netzwerks Kinderrechte Deutschland umgesetzt werden. Das Frontex-Kinderbuch verfehlt die Anforderungen der UN-Kinderrechtskonvention, vermittelt ein verzerrtes Bild von Rückführungen und gefährdet das Wohlergehen von Kindern, weshalb eine umfassende Überarbeitung unter kinderrechtsorientierten Gesichtspunkten dringend notwendig ist.
Jil M. studiert den Zwei-Fach-Bachelor „Politikwissenschaft und Öffentliches Recht“ an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen. Ihr besonderes Interesse gilt dem Völkerrecht, der Menschenrechtsarbeit und der Analyse der politisch-rechtlichen Entwicklungen in der Balkan-Region.