Apartheid: Ein unvermeidlicher Begriff in der Diskussion über Israel und Palästina?

Die Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Deutschland und der Streit um die richtige Charakterisierung der israelischen Politik.

Wer in Deutschland in der historisch-politischen Menschenrechsbildung unterwegs ist, sieht sich gelegentlich von postkolonialer Seite aus wegen seiner ‚Holocaust-Fixierung‘ dem Vorwurf des Provinzialismus ausgesetzt. Denn diese Form von Eurozentrismus würde den Kolonialverbrechen der europäischen Nationen, auch der Deutschen, nicht gerecht. In der ersten Septemberwoche präsentierte sich jetzt (ohne große Resonanz hierzulande) ein zwar nicht so prominenter, aber doch aktiver Sektor der weltweiten Menschenrechtsbewegung, der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK), zum ersten Mal in der Provinz Deutschland, in Karlsruhe (5000 Delegierte). Alle acht Jahre versammeln sich die 352 Mitgliedskirchen, die mehr als eine halbe Milliarde Christinnen und Christen vertreten, zu einer Vollversammlung. Wer sich an dieser Stelle wundert: Vom ÖRK wurde die christliche Parole „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ 1993 bei seiner Vollversammlung in Vancouver auf den Weg gebracht. Sie wirkt bis heute, inzwischen auch in der Katholischen Kirche, die nicht im ÖRK mitarbeitet. Die Prinzipien der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hatte sich der ÖRK schon bei seiner Gründungsversammlung 1948 in Amsterdam zu eigen gemacht. Seit 1969 gibt es das ÖRK-Programm zur Bekämpfung des Rassismus, aus dem sich auch die in der Bundesrepublik erfolgreiche­­ Kampagne gegen die Apartheid in Südafrika entwickelte („Kauft keine Früchte der Apartheid“).

Bittere Klagen

Vor dem Hintergrund dieser Geschichte, nach den vielen Auseinandersetzungen in den Landeskirchen der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und an ihrem Rande; nachdem der Südafrikaner Jerry Pillay zum ÖRK- Generalsekretär gewählt worden war; nachdem amnesty international mit seiner Untersuchung zu „Israels Apartheid gegen Palästinenser“ das Thema verschärft hatte, lag die Auseinandersetzung mit dem Apartheid-Begriff in Karlsruhe in der Luft. Reinhard Bingener schreibt in der FAZ vom 03.08.2022:

„Hintergrund der Debatte sind die bitterlichen Klagen der Kirchen in Palästina über die Politik Israels, die in der weltweiten Christenheit zunehmend Resonanz finden – bei Weitem nicht nur im sogenannten globalen Süden, sondern auch bei protestantischen Kirchen in Nordamerika oder in Skandinavien. Im Zentrum steht das Deutungsmuster der ‚Apartheid‘, das aus seinem südafrikanischen Kontext auf den israelisch-palästinensischen Konflikt übertragen wird. Der künftige ÖRK-Generalsekretär Pillay publizierte 2016 einen Aufsatz mit dem Titel ‚Apartheid in the Holy Land‘“

Zum erwähnten Aufsatz geht es hier.

Ungelöster Streit 

Die Landeskirchen in der EKD hatten sich gut vorbereitet; sie legten ein ausgefeiltes ‚konsentisches‘ Papier vor, das in jedem Fall eine Erklärung mit dem Tenor ‚Israel-Apartheid-Staat“ vermeiden sollte. Das Statement der EKD-Auslandsbischöfin Petra Bosse-Huber hierzu: „Als Leiterin der deutschen EKD-Delegation sage ich sehr deutlich: Wir werden nicht von Israel als einem Apartheid-Staat sprechen.“

„Der Streit um das „A“-Wort blieb bis zum Schluss ungelöst“

Stephan Kosch von zeitzeichen

Im verabschiedeten Text wird darauf hingewiesen, dass zahlreiche Menschenrechtsorganisationen Studien und Berichte veröffentlicht hätten, die Israels Politik und Handeln als auf ‚Apartheid‘ hinauslaufend beschrieben. Dann folgen diese Sätze:

„Innerhalb der Versammlung unterstützen einige Kirchen und Delegierte stark den Gebrauch dieses Begriffes als akkurate Beschreibung der Realität der Menschen in Palästina/Israel (…), während andere diesen für unangebracht, nicht hilfreich und schmerzhaft halten. Wir sind in diesem Punkt nicht einer Meinung.“

In der internationalen Öffentlichkeit, vor allem auch im ‚Globalen Süden‘ und in postkolonialen Strömungen des Westens, wird man, wie in Karlsruhe, zunehmend auf die Forderung stoßen, Israel als ‚Apartheid-Staat‘ zu bezeichnen. Vom Staat Israel und seinen Regierungen zu verantwortende diskriminierenden Erfahrungen und Strukturen in Palästina werden immer häufiger mit dem polemischen Begriff ‚Apartheid-Staat‘ und dessen Bedeutungshorizont verknüpft.

Gegen den Begriff und seine politisch-polemische Verwendung spricht, dass er genau mit den ‚drei Ds‘ als Antisemitismus erfassbar wäre: Mit der nahegelegten Assoziation Südafrika-Apartheidstaat wird Israel dämonisiert, ein Apartheid-Staat wäre menschenrechtlich per se und per Völkerstrafrecht delegitimiert und zudem führen diskriminierende Praktiken anderer Staaten noch lange nicht zum Verdikt ‚Apartheid‘ (Doppelstandards).

Falsche Fokussierung

„Israel ist kein Apartheidstaat.“ Unter dieser Überschrift argumentiert Christian Staffa, Antisemitismus-Beauftragter der EKD, so:

„Den Staat Israel als ‚Apartheidstaat‘ zu bezeichnen, ist sachlich falsch und verdreht die historischen Tatsachen. Die Regierungsbeteiligung der Ra´am (der vereinigten arabischen Liste), arabische Richterinnen bis hin zum Obersten Gericht, die professionelle Mischung der Ärztinnenschaft und des Krankenhaus-Personals (im Staat Israel sind rund ein Viertel des medizinischen Personals, inklusive Ärzt*innen, Palästinenser*innen) oder die Zusammensetzung der Studierendenschaft oder des Militärs im Staat Israel – all das spricht auffällig dagegen […] Wenn das Leid der Palästinenser*innen thematisiert wird, dann ist die Fokussierung auf Israel und die besetzten Gebiete zu eng oder von unlauteren Motiven getrieben. Der Blick muss ebenso auf ihre Marginalisierung und Ausgrenzung in den arabischen Staaten wie Libanon oder Syrien und die Instrumentalisierung der Zivilbevölkerung durch Hamas, IS oder korrupte Fatah-Eliten geweitet werden.“

Öffnung der Diskussion

Die Erweiterung des Blickes in der Diskussion um den Apartheid-Begriff mahnen auch Gert Krell und Micha Brumlik in ihrer Auseinandersetzung mit dem ai-Bericht an: Die reale Konfliktgeschichte zwischen Juden und Arabern werde unzureichend berücksichtigt, auch wenn eine grundsätzliche Berechtigung israelischer Sicherheitsinteressen eingeräumt werde. Sie fahren fort:

„Freilich bleibt der Begriff Apartheid für das Kernland Israel unzutreffend. Denn massive, strukturell verankerte Ausgrenzung gibt es in vielen Ländern, darunter auch andere Demokratien, die üblicherweise nicht als Apartheid-Regime charakterisiert werden. Und schließlich verfügen die arabischen Israelis, seien sie nun Christen oder Muslime, über mehr politische Rechte als Araber und Muslime in allen anderen Ländern des Südens – von Marokko bis Indonesien, mit Ausnahme Tunesiens.“ (Brumlik/Krell 6/2022, S. 113 ff.) Zudem halten Brumlik und Krell fest, „dass weder im Zionismus noch in der israelischen Staatsdoktrin jemals von einer biologischen Minderwertigkeit der Araber die Rede war. Und auch ein System der wirtschaftlichen Ausbeutung, das mit dem südafrikanischen vergleichbar wäre, hat es im Mandatsgebiet oder in Israel nie gegeben.“

Micha Brumlik/Gert Krell „Der neue Antisemitismusstreit“ in: »Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/2022, S. 103–111 und 6/2022 S. 113–120.

Aber sie öffnen die Diskussion auch:

„Fasst man den Begriff Apartheid aber, wie inzwischen üblich, weiter, kann man ihn sehr wohl auf die Zustände in der Westbank anwenden – nämlich im Sinne einer politischen, sozialen und wirtschaftlichen Dominanz, kombiniert mit Formen von Unterdrückung, Diskriminierung und Separation, wie sie sich auch gegen anders als ‚rassisch‘ definierte Großgruppen richten können.“

Micha Brumlik/Gert Krell „Der neue Antisemitismusstreit“ in: »Blätter für deutsche und internationale Politik, 6/2022 S. 114.

Mein Fazit

In der deutschen Öffentlichkeit und in der historisch-politischen Menschenrechtsbildung sollte die Frage nach Apartheid-Praktiken in Palästina nicht gleich als antisemitisch abgewehrt werden. Aber Ziel eines politischen Urteilsvermögens sollte es sein, zwischen der Beschreibung von Apartheid-Elementen und der ultimativen Delegitimierung Israels als Apartheid-Staat unterscheiden zu lernen. Israel ist kein Apartheidstaat. Aber um dies Behauptung zu beweisen oder zumindest plausibel zu machen, müssen das nötige Framing und die detaillierte Sachkenntnis verbunden werden; zurückzuweisen sind also Rahmungen, die entweder immer schon Beweise für eine kolonialistische Apartheid als System (das damit wie das südafrikanische zur Zerstörung freigegeben ist) sehen oder jede israelische Maßnahme als staatliche Selbstverteidigung legitimieren. In der wissenschaftlichen Welt, auch in der Israels, lässt sich das A-Wort nicht vermeiden; als Kampfbegriff sollte es aber eine begründete Zurückweisung erfahren. In Karlsruhe wurde es nur (kirchen)diplomatisch abgewehrt.

Nachtrag zum juristischen Gehalt des Apartheidbegriffs:
Unabdingbar für die menschenrechtliche Diskussion ist die Frage nach dem Rechtsbegriff ‚Apartheid‘, der über den spezifischen Fall Südafrika hinausgeht. Im universellen Völker(straf)recht ist er als eine besonders schwere und systematisierte Form der diskriminierenden Unterdrückung definiert. Das internationale Strafrecht, einschließlich der Anti-Apartheidkonvention von 1974 (Artikel 2) und des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs von 1998 (Art. 7 Abs. 2 j), definiert Apartheid als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das aus drei Elementen besteht: 

  • Die Absicht einer rassischen Gruppe, eine andere zu dominieren;
  • Die systematisierte Unterdrückung der dominanten Gruppe gegenüber der marginalisierten Gruppe und
  • Besonders schwerwiegende Verstöße in Form unmenschlicher Behandlung

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