Indien – vom vorbildlichen Verfassungsstaat zur repressiven „illiberalen Demokratie“?

Im Jahr 2003 verlieh die Stadt Nürnberg ihren internationalen Menschenrechtspreis an zwei Personen: den pakistanischen Journalisten und Gründungsmitglied der Human Rights Commission of Pakistan (HRCP), Ibn Abdur Rehman (gest. 2021) und an die indische Journalistin Teesta Setalvad. Beide wurden für ihr mutiges Engagement für die Einhaltung der Menschenrechte in den beiden Nachbarstaaten geehrt, insbesondere für ihren Kampf gegen religiös, ethnisch oder sonst wie motivierte Diskriminierung und Verfolgung.

In ihrer Rede bei der Preisverleihung in Nürnberg sagte Teesta Setalvad u.a. Folgendes:

Wir haben es in Indien mit einer Bedrohung durch Hass und Spaltung zu tun, die sich auf alle Bereiche des öffentlichen Diskurses und des Lebens auswirkt. […] Heute sind bei uns die brutalen, unverhohlenen Hasstiraden in Reden und Schriften, die sich auf Grund ihrer Religionszugehörigkeit gegen bestimmte Bevölkerungsteile richten, die Norm geworden, die den Pogromen vorausgeht und das Klima für diese Ausschreitungen vorbereitet. Gegen solche Reden und Schriften gehen die Behörden nicht vor, obwohl wir immer noch in einer politischen Demokratie leben, die sich dem Rechtsstaat verschrieben hat. […] Das Indien vergangener Zeiten hat sich unwiederbringlich geändert, und das sichere Fundament eines herrlichen gemeinsamen Erbes in unserer Literatur, Musik und Kultur, mit dem wir aufgewachsen sind, existiert für unsere Kinder nicht mehr. Das Aufblitzen des Wahnsinns und die Töne des Hasses dringen bis in die Klassenzimmer und in die Schulen vor und machen finstere Unterscheidungen zwischen dem legitimen „Wir“ und den verräterischen „Anderen“. Die Geschichte wird leise, still und heimlich immer mehr verzerrt, um eine Politik der Ausgrenzung und des Hasses zu unterstützen.

Das war, wie gesagt, 2003, ein Jahr nachdem im Bundesstaat Gujarat ein fürchterliches Massaker an der moslemischen Bevölkerung mit über Tausend Toten stattgefunden hatte. Die damalige Regierung von Gujarat unter Chief Minister Narendra Modi schritt weder gegen den Mob ein, der drei Tage wütete, noch kam es zu einer umfassenden Aufklärung der Ereignisse, die das Gesicht Indiens dauerhaft veränderten, wie Teesta Setalvat es in Nürnberg so eindrücklich beschrieb. Zwar wurden seither ca. 120 Urteile gegen Beteiligte gesprochen, die politisch Verantwortliche blieben jedoch straffrei.

Auch fast 20 Jahre später wirken das Massaker von Gujarat und seine weitgehende Straflosigkeit nach. Der damals den Bundesstaat Gujarat regierende Narendra Modi ist inzwischen seit 2014 Premierminister von ganz Indien und versucht systematisch, das einst säkulare, demokratisch verfasste Indien auf den religiös-fundamentalistischen Kurs seiner Hindu-Partei Bharatiya Janata Party (BJP) zu bringen. Teesta Setalvats damalige Worte klingen heute wie eine düstere Prophezeiung. Und wie damals nimmt die Preisträgerin auch heute kein Blatt vor den Mund. Der Preis dafür ist freilich ein anderer.

Am 25. Juni diesen Jahres wurde Frau Setalvad in ihrem Haus in Mumbai von einem Spezialkommando (ATS) der Polizei aus Gujarat überfallen, geschlagen und von ihrem Schlafzimmer direkt in Polizeigewahrsam in dem benachbarten, aber weit entfernten Bundesstaat Gujarat verschleppt. Dieses Vorgehen verweist auf die wahren Gründe für die brutale Aktion. Teesta Setalvad und ihre NGO „Citizens for Justice and Peace“ waren an einem Verfahren in Gujarat beteiligt, mit dem die überlebende Witwe eines der Opfer des Massakers von Gujarat die beschlossene Einstellung der Ermittlungen gegen 64 vermutliche Verantwortliche für das Massaker, darunter den heutigen Premierminister, verhindern wollte. Nachdem die Klage am 24. Juni vom Obersten Gerichtshof abgewiesen wurde, schlugen die Beschuldigten zurück und bezichtigten die Kläger falscher Behauptungen. Und nur einen Tag später wurde Teesta Setalvad von der Anti-Terror-Einheit ATS festgenommen. Die Justiz deckte das Vorgehen auf auch in Indien nicht alltäglich geschwinde Weise und hielt Frau Setalval zwei Monate in Untersuchungshaft. Vorgeworfen wurden ihr insgesamt fünf Straftaten: Fabrikation falscher Beweise; Dokumentenfälschung; Bildung einer kriminellen Vereinigung; Falschaussagen und Verleitung anderer zum Meineid.

Solche Vorwürfe finden sich immer wieder verstreut im Urteil des Obersten Gerichtshofs, der eigentlich nur über die Klage der Opfer zu entscheiden hatte, wie der ehemalige Richter am Obersten Gerichtshof, Madan B. Lokur, in einem ausführlichen kritischen Kommentar zu dem Urteil und zur Festnahme Setalvads ausführte. Angeklagt war Frau Setalvad dagegen gar nicht. Die Polizei von Gujarat nahm also die im Urteil enthaltenen Anspielungen auf vermutete Vergehen von Teesta Setalvad zum Anlass, sofort in der brutalen Weise zuzuschlagen, noch dazu in einem anderen Bundesstaat, ein Vorgehen, das ohne vorherige Kenntnis des Urteils und, wie viele vermuten, Absprache mit den Richtern nicht denkbar gewesen wäre.

Mit der Entscheidung des Gerichtshofs vom 2. September, Frau Setalvad gegen Kaution aus der Haft zu entlassen, ist das Verfahren gegen sie nicht beendet. Lediglich die von ihr beschriebenen, teils unwürdigen Haftbedingungen bleiben ihr vorerst erspart. Ob und wann gegen sie formell Anklage erhoben wird, ist ungewiss.

Ganz und gar nicht beendet können auch die Sorgen um die Entwicklung des Rechtsstaats in Indien sein. Das Land, das sich bei seiner Unabhängigkeit eine weltweit vorbildliche Verfassung gab und lange als Beispiel für eine gelungene Demokratie im Globalen Süden galt, wirft immer stärker die Prinzipien eines säkularen, auf Gewaltenteilung beruhenden demokratischen Rechtsstaats über Bord. Nur wenige Opfer von Polizeigewalt und Justizwillkür sind so prominent, dass sie mit internationaler Unterstützung auf Besserung ihrer Situation hoffen können. Daher gilt es, das weitere Vorgehen der indischen Behörden gegen die Nürnberger Menschenrechtspreisträgerin Teesta Setalvad genau zu verfolgen und mit ihrer Unterstützung auch die Botschaft zu verbinden, dass uns die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in Indien nicht gleichgültig lassen kann.


Beitragsbild zeigt Teesta Setalvad © Christine Dierenbach / Stadt Nürnberg.

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