Corona und Triage – Recht auf Leben und Gesundheit

Nein, wir sind nicht im Krieg, auch nicht im Notstand. Notfallmediziner werden nicht aufs Schlachtfeld geschickt und müssen dort entscheiden, wen sie noch retten können. Ärztinnen und Ärzte in Krankenhäusern sind nicht wie bei einer Katastrophe zur „Triage“ (= ignorieren der Leichtverletzten ebenso wie der Unrettbaren, damit sie ihre ganze Kraft für jene aufbringen können, die ohne ihre Hilfe sterben würden) gezwungen. Dennoch wird diese Horrorvision, ausgehend von Italien (Bergamo), auch in Deutschland diskutiert: Wer darf in der Corona-Krise bei einer nicht ausreichenden Zahl von Notfallbetten von der Behandlung ausgeschlossen werden – nach welchen Kriterien dürfen Kliniken und Ärztinnen und Ärzte dabei vorgehen? Die Frage, wer entscheidet, ob in bestimmten Situationen ein Menschenleben mehr wert ist als ein anderes, ist allerdings immer eine alarmierende Frage: Gilt das Menschenrecht auf Leben, Gesundheit und Nichtdiskriminierung hier noch uneingeschränkt?

Recht auf Leben

Erklärtermaßen ist in der Corona-Krise der Schutz des Lebens und der Gesundheit das Ziel aller Maßnahmen und Freiheits-Einschränkungen. Aber hier soll vom Recht darauf die Rede sein: Das Recht auf Gesundheit sieht vor, dass Gesundheitseinrichtungen, -güter und -dienstleistungen in ausreichender Menge zur Verfügung stehen und für alle ohne Diskriminierung zugänglich sind. Für das Recht auf Leben ist eine notfall-begründete gesetzliche Einschränkung in Deutschland sowieso nicht vorstellbar, seit das Bundesverfassungsgericht 2006 im Urteil zum Luftsicherheitsgesetz deutlich gemacht hat: Nicht einmal ein gekapertes Flugzeug, das von einem Terroristen auf eine Stadt gesteuert wird, darf abgeschossen werden, um eine größere Katastrophe zu verhindern (BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 15. Februar 2006 – 1 BvR 357/05 –, Rn. 124)

Aussortieren?

Im Alltag von Notaufnahmestationen ist damit nicht weitergeholfen. Dort wird mit einer weltweit anerkannten Entscheidungsstruktur, dem Manchester Triage System (MTS) gearbeitet. Hierbei handelt es sich um ein System zur Ersteinschätzung der medizinischen Behandlungsdringlichkeit. Es wurde in England entwickelt, um die Wartezeiten in der Notaufnahme zu steuern. Lebensbedrohliche Erkrankungen gehen dabei natürlich vor. Triage, vom französischen trier, übersetzt »sortieren: „Es wird nach Dringlichkeit sortiert, um sich auf Patienten zu konzentrieren, die wir retten können“ sagen Mediziner wie Michael de Ridder in der Zeit vom 19.3.2020.

Der Berufsverband DIVI (Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin) gibt den Ärzten dabei Empfehlungen für eine Behandlungspriorisierung an die Hand. DIVI geht vom Gleichheitssatz aus; nach Maßgabe unserer Rechtsordnung dürfen weder kalendarisches Alter noch soziale Kriterien das „alleinige“ Kriterium für die Bereitstellung von medizinischen Ressourcen sein. Entscheidend sei die Erfolgsaussicht der Behandlung in Bezug auf Überlebenswahrscheinlichkeit und Lebenszeiterwartung. Diese sei für jeden Patienten individuell festzustellen und dann gegen die Erfolgsaussichten anderer Intensiv-Patienten abzuwägen. Als Kriterien seien neben dem Schweregrad der akuten Erkrankung zusätzlich Komorbiditäten, also weitere Grunderkrankungen, und der Grad der Gebrechlichkeit heranzuziehen.

Peter Dabrock, der Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, evangelischer Theologe an der Universität Erlangen-Nürnberg, befürchtet allerdings trotzdem, dass mit den DIVI-Empfehlungen Diskriminierungen einhergehen: „Wir vom Ethikrat haben gesagt, dass in der Katastrophe das Grundvertrauen in die Rechtsordnung erhalten bleiben muss, und da gilt der allgemeine Gleichheitsgrundsatz: dass man eben nicht aufgrund von Ethnie, sozialem Status oder Alter hinten angestellt wird.“ (BR, 7.4.2020). Denn es liegt auf der Hand, dass Grunderkrankungen und Gebrechlichkeit mit Alter und sozialem Status zusammenhängen.

Kritik der Empfehlungen

Wesentlich schärfer weist BODYS (Bochumer Zentrum für Disability Studies) die DIVI-Empfehlungen zurück. In seiner Stellungnahme weist es vor allem auf die nicht ausdrückliche, sondern indirekte und naheliegende Verletzung des Lebensrechtes von Menschen mit Behinderungen hin.

Der Algorithmus der „Empfehlungen“ bevorzuge im Ergebnis z.B. den 51-jährigen Familienvater ohne Beeinträchtigungen gegenüber dem 49-jährigen Familienvater, der an Multipler Sklerose erkrankt ist und einen hohen Assistenzbedarf hat, und gegenüber der 17- jährigen jungen Frau mit Down-Syndrom und einem leichten Herzfehler. Eine Abwägung entlang der Lebenszeiterwartung verschlechtert zudem von vornherein die Aussicht auf Behandlung für viele Menschen mit chronischen Erkrankungen. Das Kriterium der Gebrechlichkeit bezieht sich auf (altersbedingte) verminderte Belastbarkeit und körperliche Funktionalität.

Mittelbar gegen behinderte und alte Menschen werde diskriminiert, wenn auf Faktoren wie Gebrechlichkeit und Komorbidität abgestellt wird und wenn Assistenz- oder Hilfsmittelbedarfe automatisch zu einer niedrigeren Bewertung im „Überlebensranking“ führen. Das aber ist weder mit unserer Verfassung noch mit den internationalen Menschenrechten vereinbar. Sowohl Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes als auch die UN Behindertenrechtskonvention (Art. 5) verbieten auch die mittelbare Diskriminierung.

Wer die Reihenfolge der Behandlung nach den Kriterien Lebenserwartung und körperliche Fitness entscheidet, favorisiert gesellschaftliche Funktionalität gegenüber Schwäche und Hilfsbedürftigkeit. Das widerspricht meinem Begriff von Menschenwürde.

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