„The reports of free speech’s death are greatly exaggerated.“* (Teil 2 von 2)

Ein kritischer Blick auf beide Seiten der Cancel Culture (Teil 2 von 2)

Was spricht gegen Cancel Culture?

Die Angst ist hier, dass einfache Meinungen, die vom Mainstream abweichen, bereits auf sozialen Medien nicht mehr erlaubt sind. Hier geht es nicht um strafrechtlich verfolgbare Aussagen, wie Hetzrede, sondern Meinungen wie „Donald Trump war ein guter Präsident.“ Diese Person liegt zwar falsch, jedoch hat sie das Recht dazu falsch zu liegen und sollte es auch haben. Teilt ein naher Verwandter solche Aussagen auf sozialen Medien, dann kann man dies größtenteils noch ignorieren. Wenn jedoch aufgrund dessen Meinungen oder Aussagen generell den Kontakt zu ihm vermieden wird, spürt er direkte Konsequenzen davon, seine Meinung ausgedrückt zu haben. Das führt dann dazu, dass viele sich fühlen, als würde ihre Meinungsfreiheit eingeschränkt werden. Aus einer rein gesetzlichen Sicht stimmt das nicht, denn Menschen können genauso sagen, was sie ohnehin sagen wollen, solange sie sich im gesetzlichen Rahmen befinden. Wenn sie jedoch wissen, dass sie enorme soziale Konsequenzen als Resultat ihrer Aussagen verspüren können, herrscht eine Art implizite Zensur vor.

Für Personen der Öffentlichkeit gilt dies entsprechend deutlich stärker. Je nach Menge ihrer Follower stößt ihre Meinung auf eine Vielzahl von Ohren. Hier ist es deutlich leichter jemanden mit der eigenen Meinung zu verletzen oder zu verärgern. Entscheiden sich die Follower dann, dass die jeweilige Meinung nicht vertretbar ist, kommt Cancel Culture ins Spiel. Gerade sogenannte Content Creator müssen dann besonders darauf aufpassen nur Aussagen zu treffen, die niemandem aufstoßen könnten. Auch hier ist die Angst da, dass man sich für soziale Medien verstellen muss, also die eigene Meinung nicht preisgeben darf. Die Meinungsfreiheit wird also dadurch eingeschränkt, dass nicht klar ist, was die Konsequenzen des freien Ausdruckes wären.

Dies führt zu einer Einschränkung der Meinungsvielfalt. Wenn es einen festen Satz an Meinungen gibt, die öffentlich geäußert werden dürfen, dann gibt es auch keinen Diskurs mehr. Denn über was soll diskutiert werden, wenn die andere Seite kategorisch nicht zum Gespräch eingeladen wird? Es liegt die Angst vor einer Meinungsdiktatur vor.

Ein weiteres, starkes Argument gegen das Canceln ist, dass der Prozess nicht zu Ende gedacht wird. Es sei natürlich jedem freigestellt zu canceln, denn der gesamte Prozess läuft in einem legalen Rahmen ab. Eine Seite sagt etwas „unmoralisches“, jedoch legales. Die andere Seite verlangt den Ausschluss dieser Person aus der Debatte, was ebenfalls erlaubt ist. Doch der gesamte Prozess kann das Gegenteil von dem bewirken, was gerne erreicht werden würde. Ein gerne verwendetes Argument für das Canceln ist, dass niemand tatsächlich gecancelt werde, denn Lisa Eckhart, Dieter Nuhr, J.K. Rowling und andere haben nun noch mehr Aufmerksamkeit als zuvor. Dieses Argument hat jedoch einige Probleme. Zunächst einmal: Doch, manche wurden tatsächlich gecancelt. Der Politikanalyst David Shor beispielsweise teilte eine Studie, in der die Proteste, die der Ermordung Martin Luther Kings folgten auf die BlackLivesMatter-Proteste von 2020 übertragen wurden. Diese könnten dazu geführt haben, dass Richard Nixon die Präsidentschaft von 1968 gewann, weil mehr Leute als Reaktion auf zivilrechtliche Proteste in das rechtere Lager rutschten. Dementsprechend wurde gewarnt, dass die Proteste von 2020 ebenfalls Trump zugutekommen konnten. Dies wurde auf Twitter so interpretiert, dass er sich gegen die Proteste ausdrücke. Als Folge einer „Cancel-Kampagne“ auf Twitter wurde er gefeuert. Die zitierte Studie stammt eigentlich von einem schwarzen Amerikaner. Hier ist die jeweilige Definition von Cancel Culture wichtig: Wird Canceln als Auslöschen verstanden, dann war dies nicht der Fall, denn er wurde – genau wie jede andere Person, die von Cancel Culture betroffen war – nicht endgültig ausgelöscht, was auch immer das genau heißen soll. Er hat jedoch seinen Job verloren. Mit der Definition Unterstützung entziehen wurde er gecancelt, denn er hat tatsächlich Unterstützung von seinem Arbeitgeber verloren und für seinen freien Ausdruck zivile Konsequenzen erfahren.

Ein zweites Problem an der Aussage „niemand wäre je gecancelt worden“ ist, dass beim Großmachen von „skandalösen Bemerkungen“ mancher Menschen auf sozialen Medien natürlich zu erwarten ist, dass sie anschließend genau in den sozialen Medien Platz finden. Nichts anderes geschieht, wenn öffentliche Aufmerksamkeit auf eine Person gezogen wird. Genau diese „großen“ Fälle des Cancelns werden dann als Paradebeispiele angeführt. Es wird also enorme negative Aufmerksamkeit auf eine Person gezogen und anschließend argumentiert, dass diese Person keinen Schaden erlitten hat, denn sie wäre nicht verschwunden, sondern nun stärker im Rampenlicht als noch zuvor. Die Person, deren Meinung eigentlich hätte klein gehalten werden sollen, findet nun Zustimmung bei jenen die gegen das Canceln sind.

Das führt zusätzlich zu einer Spaltung der Lager. Lisa Eckhart wurde dank Judenwitzen ausgeladen, die der linken Seite des öffentlichen Diskurses aufstießen. Die anschließende Debatte um Cancel Culture fand entsprechend Anklang bei der rechten Seite. So hat die AfD Hessen Solidarität mit Lisa Eckhart in Form eines Plakates gezeigt. Eckhart wiederum hat dafür rechtliche Schritte gegen die Partei angekündigt.

Eine tatsächliche Änderung wird also durch Canceln auch nicht erzielt, denn der Versuch manche Meinungen aus dem öffentlichen Diskurs zu vertreiben wird die eigentliche Meinung bei den Leuten nicht vertrieben. Sie ist dann nur nicht mehr Teil des Diskurses. Wenn eine Person nicht mehr in der Öffentlichkeit sagen darf was sie will, dann sagt sie dies eben im privaten Bereich, wo sie Anklang findet. So erzeugt eine Seite eine eigene Echokammer und schiebt die andere Seite ebenfalls in eine. Gesellschaftlicher Fortschritt entstand noch nie durch den Ausschluss mancher, sondern durch den Einschluss vieler. Das geschieht nur, wenn wir dem demokratischen Prozess vertrauen und uns mit Meinungen konfrontieren, die für uns unliebsam sind. Andere Menschen haben andere Meinungen und unsere öffentliche Debatte und die Politik spiegeln das wider. Versuchen wir einander die Chance darauf zu nehmen unsere tatsächliche Meinung auszudrücken, dann verhindern wir nicht das Ausbreiten von extremerem Gedankengut, sondern fördern dies vielleicht sogar. Eine Partei wie die AfD profitiert vom Ausschluss der Menschen, die allgemein akzeptierten Themen kritisch gegenüberstehen. Denn diese Menschen wiederum suchen sich Gleichgesinnte, die sie wiederum akzeptieren.

Welche Kritik ist hier angebracht?

Die Lager spalten sich zwar, aber bei einem strikten Blick auf die Meinungen sind diese ohnehin gespalten. Es entstehen keine neuen Lager, sie verfestigen sich lediglich. Kaum jemand befindet sich in einer echten Echokammer, in der lediglich die eigene Meinung auftaucht. Bei Vertrauen auf die Selbstverantwortung von Individuen bezüglich Bildung und der Aufnahme neuer Eindrücke wirkt auch eine dauerhafte Verfestigung in diese Lager unrealistisch. Teil des demokratischen Prozesses ist der Diskurs auf politischer Ebene und dieser wird wahrscheinlich auch nicht verschwinden können, zumindest mit Blick auf Deutschland. Hier sind Koalitionen die Norm und es wäre überraschend, wenn eine Alleinregierung entstünde. Die verschiedenen Parteien sind also dazu gezwungen zusammenzuarbeiten. In den USA beispielsweise sieht das anders aus: Hier entstand der Begriff Cancel Culture und hier ist eine Spaltung der Öffentlichkeit nicht nur realistisch, sondern wird durch das politische System deutlich unterstützt. Drittparteien sind hier irrelevant, die Wähler ordnen sich entweder Demokraten oder Republikanern zu. Die Mitte verschwindet hier mit Trends, welche Einzelne dazu zwingen Partei zu ergreifen. Cancel Culture ist aber in diesem Sinne eben auch nur ein weiterer solcher Trend. Sie stellt dort eher ein weiteres Symptom einer bestehenden Spaltung dar, bei der wir in Deutschland noch nicht angekommen sind. Diese Spaltung wird vermutlich nicht durch die Cancel Culture geschehen, sondern sich unteranderem in dieser manifestieren.

Die Meinungsfreiheit wird in einem zivilen Kontext eingeschränkt, das stimmt. Diese zivile Einschränkung ist jedoch noch immer keine Zensur. Es kann sich weniger ungestört ausgedrückt werden, was auch etwas Gutes bedeuten kann. Cancel Culture ist essenziell nichts anderes als Public Shaming, welches selbst zum Ziel hat Menschen eines „Besseren“ zu belehren. Wenn die eigene Meinung also auf enorme Gegenwehr stößt, dann muss das nicht notwendigerweise dazu führen, dass sich das eigene Gedankengut stärker manifestiert, weil die Überzeugung durch diese Gegenwehr noch stärker wird, sondern es kann auch einen „lehrenden“ Effekt der Selbstreflexion erzeugen. Canceln ist jedoch kein eleganter Weg dafür, dies bei einer anderen Person zu erreichen.

Die Kunstfreiheit kann jedoch in der Tat extremere Meinungen schützen. Ein Blick in die USA verweist hier unter anderem auf den FOX-Moderator Tucker Carlson und den Infowars-Host Alex Jones. Beide wurden aufgrund problematischer Aussagen in der Vergangenheit bereits verklagt. Alex Jones hat beispielsweise behauptet, das Sandy Hook Massaker in den USA wäre eine Verschwörung der US-Regierung gewesen. Vor Gericht war sowohl Carlsons als auch Jones‘ Verteidigung, sie würden lediglich Kunstfiguren spielen, die nicht ihre echte Meinung ausdrücken, demnach können sie nicht gerichtlich belangt werden. In Carlsons Fall zeigte sich dies erfolgreich.

Die Freiheit dazu sich auszudrücken ist also insgesamt betrachtet nicht eingeschränkt. Diejenigen, die sich als Opfer des Cancelns betrachten, scheinen bewusst etwas viel Lärm um die Problematik zu machen, denn der Ausschluss aus einer Debatte fühlt sich für niemanden gut an, egal wie weit seine Meinungen vom allgemein Akzeptierten abweichen. Aber genau das ist, was die marginalisierten Gruppen für sich jetzt bereits erkennen. Canceln stellt also eine Möglichkeit genau dieser Gruppe dar, der dominanten Seite in der Debattenkultur den Spiegel vorzuhalten und genau dies aufzuzeigen: Ein Ausschluss aus der Debatte fühlt sich nicht gut an.

*Der Titel dieses Blogposts ist eine Referenz zu einem Zitat von Mark Twain (eigentlich „The report of my death was an exaggeration“), welcher genau wie die Meinungsfreiheit frühzeitig für tot erklärt wurde.

Zum ersten Teil des Artikels geht es hier entlang.


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