Aus meinem pandämonischen Notizbuch – Eine Zeichnung aus Peru

Zeichnung aus Peru

Edilberto Jiménez kenne ich seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als er im vom Bürgerkrieg verheerten Ayacucho in den Bergen Perus wunderbare Kunstwerke schuf, „retablos“ genannt, kleine Holzkästen voller bunter Figuren, ein traditionelles Produkt der Volkskünstler Ayacuchos. Edilbertos Vater Florentino Jiménez war der wohl berühmteste dieser „Retablistas“, und alle seine Kinder lernten diese Kunst ebenfalls. Was Edilberto auszeichnet, war seine konsequente Verbindung seiner Kunst mit dem Einsatz für die Menschenrechte, damals kein ungefährliches Engagement.

Später studierte er Anthropologie und engagierte sich in der peruanischen „Kommission für Wahrheit und Versöhnung“, deren achtbändiger Abschlussbericht zu den wichtigsten der vielen weltweit existierenden Wahrheitskommissionen gehört. Für diese Kommission erstellte er eine erschütternde Fallstudie über die Gewalt in einer der entlegensten Provinzen Perus, Chungui. Als Anthropologe führte er zahlreiche Interviews mit den Überlebenden in den Dörfern der Region und als Künstler hielt er mit dem Zeichenstift die Schrecken fest, die er zu hören bekam. Daraus ist eines der eindrucksvollsten Zeugnisse über die Gewalt in Peru entstanden, das Buch Chungui. Violencia y trazos de memoria. Das Buch mit den Zeichnungen ist heute auch im web-Archiv des Lugar de Memoria in Peru zu sehen. 2003 kam Edilberto auch nach Nürnberg, im Rahmen einer großen Ausstellung peruanischer Volkskunst in der Stadtbibliothek hielt er in Nürnberger Schulen Workshops zur Retablo-Kunst.

Buchtitel von „Chungui“, Edilberto Jiménez

Covid-19 trifft die Armen besonders hart

Trotz aller Anerkennung seiner Arbeit als Forscher und Künstler ist Edilberto nicht reich geworden. Er lebt im bescheidenen Viertel Cantogrande im Norden der Hauptstadt Lima, wo er weiterhin seine Retablowerkstatt hat, auch wenn die Nachfrage längst nicht mehr groß ist. Gelegentlich schreibt er mir, was er dort sieht, Dinge, die in der Weltpresse nicht auftauchen. „Einige meiner besten Freunde, darunter ein paar der größten Künstler von Ayacucho, sind jetzt am Virus gestorben, – schreibt er – und täglich sehe ich vor meinem Haus das Elend der von der Krankheit gezeichneten.“ Peru, ein Land von 31 Millionen Einwohnern, zählte Anfang September 663.000 an Covid-19 Erkrankte und fast 30.000 an der Pandemie Gestorbene, und das, obwohl die Regierung schon früh strenge Kontaktverbote erlassen und die meisten wirtschaftlichen Aktivitäten eingeschränkt oder geschlossen hat. Für die vielen Armen in der Bevölkerung sind diese Maßnahmen aber gar nicht einzuhalten, so dass sie besonders gefährdet sind. Und von den tatsächlich getroffenen Maßnahmen werden sie tiefer in die Armut gestürzt, weil sie ihren bescheidenen Lebensunterhalt nicht mehr verdienen können und keine Ersparnisse haben. „Bleib zu Hause! ist keine Option für die meisten,“ schreibt Edilberto.

Nach einer Umfrage des Instituto de Estudios Peruanos vom August 2020 haben in Peru, wo ohnehin eine große Zahl von Menschen nur prekäre Arbeitsverhältnisse hat, ca. 30 % während der Pandemie ihre Arbeit verloren. Die Opfer des Virus sind deshalb nicht gleichmäßig übers Land verteilt, sondern die Hotspots bilden recht zuverlässig die soziale Landkarte des Landes ab. Es ist das Dilemma, das auch gutwillige Regierungen in vielen Ländern Lateinamerikas, Afrikas oder Asiens kaum aufzulösen vermögen. Und hierzulande gibt es Menschen, die einfach die Augen verschließen und behaupten, die Krankheit sei nur eine böswillige Erfindung.

Edilberto verschließt die Augen nicht. Vor einigen Tagen schickte er mir die obige Zeichnung, ganz im Stil seiner Auf-Zeichnungen aus Chungui. Aber nicht die Ermordeten und Gefolterten aus dem Bürgerkrieg sind es diesmal, die er mit seinem Stift festhält. Der Tod, hundertfach multipliziert, greift nach dem Nachbarn, den Edilberto in seiner Straße liegen sah. Auch der Mundschutz konnte ihn nicht vor der Seuche bewahren. Es ist dieses Bild, das ich gerne all denen zeigen würde, die es für Freiheitsbeschränkung halten, dass sie ein hierzulande sehr bescheidenes Maß an Rücksicht üben sollen.

Rainer Huhle

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