by Fin-Jasper Langmack –
Das Versagen des OLG Koblenz in der Transitional-Justice-Logik
Die Spannung zwischen der rein strafrechtlichen und der Transitional-Justice-Logik von Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip erklärt, warum Überlebende der verhandelten Taten häufig vom Prozess enttäuscht sind. Wo sie, mit Recht, umfassende Aufklärung und Anerkennung erwarten, bietet ihnen das Gericht häufig „nur“ einen Strafprozess. Das ist den Gerichten im Kern nicht einmal vorzuwerfen. Diese Spannung ist Verfahren nach dem Weltrechtsprinzip immanent. Gerichte können sie nur bedingt auflösen.
Im Al-Khatib-Verfahren haben manche Beteiligten aber nicht einmal einen entsprechenden Versuch unternommen. Im Gegenteil, gerade das Gericht ignorierte die Transitional-Justice-Logik des Verfahrens beharrlich und blockierte Anregungen in diese Richtung.
Bereits die Anklage ignorierte manche Verbrechen. So wurden die Straftaten der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung zunächst nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern nach dem „normalen“ deutschen Strafgesetzbuch angeklagt. Damit brachte die Staatsanwaltschaft zum Ausdruck, dass aus ihrer Sicht die Taten kein Mittel des systematischen Angriffs auf die Zivilbevölkerung waren, sondern isolierte Handlungen von Einzeltätern. Dem widersprechen zahlreiche internationale Studien. Während das Gericht diesen Fehler noch korrigierte, spielte das gewaltsame Verschwindenlassen bis zum Schluss des Verfahrens keine Rolle. Das Gericht beließ es bei dem Vorwurf der Freiheitsberaubung. Dieser Vorwurf verschweigt, dass die Gefangenen im Al-Khatib-Gefängnis nicht nur gefangen, sondern verschwunden waren. Ihre Angehörigen wussten nicht, wo sie sich befanden und ob sie noch lebten. Die besonders schwerwiegenden Folgen dieses Verbrechens für Gefangene wie Angehörige machte erst der Nebenkläger Ghrer zum Gegenstand seines Schlussvortrags. So eindrucksvoll dieser Moment auch war, eine vollständige Aufklärung ersetzte er natürlich nicht.
Bis zum Schluss ignorierten die Richter:innen auch, dass eine Aufarbeitung im Sinne der Transitional Justice die Verarbeitung, Verbreitung und Erforschung der Wahrheit voraussetzt. Es versagte arabischsprachigen Journalist:innen Zugriff auf die Übersetzung des Verfahrens, die den Angeklagten zuteil wurde. Technisch wäre es kein Problem gewesen, diesen Zugang zu gewähren. Spätestens nach einem Eilbeschluss des Bundesverfassungsgerichtes, der die Übersetzung für Journalist:innen anordnete, wäre dieses Vorgehen auch rechtlich abgesichert gewesen. Doch selbst diesen Beschluss legte das Gericht derart eng aus, dass er kaum Journalist:innen zugutekam.
Auch lehnte es das Gericht ab, das Verfahren auf Tonband aufzuzeichnen. Verhandlungen vor Oberlandesgerichten werden weder inhaltlich protokolliert noch aufgezeichnet. Das ist bereits ein gravierendes Defizit des deutschen Rechtssystems, das im internationalen Vergleich unverständlich ist. Gerichte haben aber die Möglichkeit, historisch bedeutsame Verfahren aufzunehmen und die Aufnahmen nach Verfahrensende einem Landes- oder Bundesarchiv zu übergeben. Das ermöglicht die Verbreitung und Erforschung von Verfahrensinhalten zumindest nach Ablauf der rigiden archivrechtlichen Sperrfristen. Doch auch das lehnte das OLG Koblenz mehrfach ab. In seinen Augen war die historische Bedeutung des Verfahrens nicht hinreichend dargetan, was die Frage aufwirft, was ein Verfahren noch erfüllen muss, um als historisch zu gelten. Außerdem befürchtete das Gericht die negative Beeinflussung von Zeug:innen. Das wiederum erscheint angesichts der Regelmäßigkeit von Aufnahmen im internationalen Vergleich und dem starken rechtlichen Schutz der Aufnahmen zumindest fragwürdig.
Vermutlich war das Gericht bei diesen Entscheidungen von der Logik des Strafprozesses getrieben: Die Abweichung vom normalen Ablauf des Strafverfahrens durch Übersetzung oder Tonbandaufnahmen erhöht das Risiko für mit Rechtsmitteln angreifbare Fehler. Sie schafft Mehrarbeit ohne durch einen Vorteil in der Logik des Strafverfahrens gerechtfertigt zu sein. Aus der Transitional-Justice-Perspektive heraus hat das Gericht mit diesen Entscheidungen aber unwiederbringlichen Schaden verursacht. Die syrische Zivilgesellschaft konnte noch weniger am Verfahren teilhaben, als dies durch die geographischen, kulturellen und sprachlichen Grenzen ohnehin bereits der Fall war. Die Verbreitung, Verarbeitung und Erforschung des Verfahrens anhand von Originalaufnahmen ist nun nicht möglich.
Fazit: Handlungsbedarf beim Gesetzgeber und die Möglichkeit kreativeren Denkens
Das OLG Koblenz hat einen hochkomplexen und wichtigen Prozess rechtsstaatlich einwandfrei geführt. Das Urteil ist juristisch hochwertig und trifft wichtige Feststellungen, die weit über das konkrete Verfahren Wirkung entfalten können. Das ist eine Leistung der Richter:innen, die nicht unerwähnt bleiben soll.
Überschattet wird dies aber durch ein Versagen in der Transitional-Justice-Logik. Der Vorwurf trifft das Gericht; der Schatten fällt aber auch und vor allem auf den Gesetzgeber. Er könnte dafür sorgen, dass Gerichte künftig die Transitional-Justice-Logik nicht völlig ignorieren können. Zurzeit haben Gerichte freies Ermessen, ob sie Tonbandaufnahmen zulassen. Ihre Entscheidung ist nicht überprüfbar. Beides kann der Gesetzgeber ändern. Er kann auch einen Anspruch auf Übersetzung gewähren, zumindest bei einem besonderen Interesse an historischen Verfahren. So würde er Gerichten Anreize zur Berücksichtigung der Transitional-Justice-Logik von Verfahren geben, die sie zurzeit schlicht nicht haben.
Die Defizite des Koblenzer Verfahrens sollten aber auch zum Nachdenken darüber anregen, ob Strafverfahren nicht durch andere Maßnahmen komplettiert werden sollten. Eine weitere Maxime der Transitional Justice ist die holistische Herangehensweise an systematisches Unrecht. Sie erkennt an, dass angesichts umfassenden Unrechts keine Aufarbeitungsmaßnahme alleine für Gerechtigkeit sorgen kann. Also setzen die meisten Staaten neben Strafverfahren z.B. auch auf Entschädigungen und Wahrheitskommissionen, um eine möglichst umfängliche Aufarbeitung zu erreichen.
In Deutschland können Überlebenden von Straftaten bereits während des Strafverfahrens Entschädigung fordern. Das Verfahren ist aber für systematisches Unrecht nicht geeignet. Die Täter:innen werden meist nicht solvent genug sein, um die hohen Schäden wiedergutzumachen. Auch sieht das deutsche Recht grundsätzlich eine monetäre Entschädigung vor, die derart schwere Verbrechen allein nicht entschädigen kann. Einen besseren Weg zeigt der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) auf. Dieser verfügt über einen eigenen Fonds für Überlebende (Trust Fund for Victims, TFV), der durch Beiträge hauptsächlich von Staaten finanziert wird. Nach einer Verurteilung legt eine Kammer des Gerichts Parameter für eine Entschädigung der Überlebenden der verurteilten Straftat fest, die der Fonds dann in große Entschädigungsprogramme umsetzt. Diese beinhalten nicht nur eine Entschädigung in Geld, sondern auch Infrastrukturmaßnahmen, psychologische Unterstützung und vieles mehr. Eine ähnliche Struktur gibt es weder in Deutschland noch sonst auf der internationalen Ebene; sie müsste neu geschaffen werden. Auch ist die Struktur des IStGH und seines TFV nicht frei von Kritik. Die Verfahren dauern lange und es gibt große Zweifel an ihrer Effektivität. IStGH und TFV können aber als erste Orientierungspunkte dienen, um das Verhältnis von Entschädigungen zu Weltrechtsverfahren zu denken.
Bezüglich der Wahrheitsfindung haben sich bereits Untersuchungskommissionen der Vereinten Nationen um eine umfassende Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen im Syrienkonflikt bemüht. Hier könnte man ansetzen und für eine stärkere Beteiligung der Überlebenden sorgen, nicht nur als passive Zeug:innen, sondern als Akteure. Inspiration dafür können Wahrheitskommission geben. Viele Länder haben dieses Instrument genutzt, um ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Man kann also auf einen großen Erfahrungsschatz im Umgang mit diesem Instrument zurückgreifen.
Es soll jedoch nicht verschwiegen werden, dass Entschädigungen und Wahrheitskommissionen bisher nicht umgesetzt wurden, solange im betroffenen Staat noch dasselbe Unrechtsregime an der Macht war und entsprechende Bemühungen zumindest auf seinem Territorium verhindern konnte. Die besonderen Schwierigkeiten, die diese Situation im Syrienkontext mit sich bringen würde, kann dieser Beitrag nicht umfassend berücksichtigen. Unter kluger Einbindung der großen syrischen Diaspora ließen sich diese Schwierigkeiten aber zumindest verringern.
Fin-Jasper Langmack ist ehemaliger Praktikant am NMRZ. Zurzeit ist er Doktorand am Institut für Friedenssicherungsrecht der Universität Köln und Rechtsreferendar am Kammergericht in Berlin. Als Mercator-Fellow arbeitete er u.a. beim Internationalen Strafgerichtshof und später bei Amnesty International. Im Jahr 2020 arbeitete er im Rahmen des Mercator-Kollegs für internationale Aufgaben auch beim European Center for Constitutional and Human Rights, für das er an mehreren Prozesstagen das Al-Khatib-Verfahren beobachtete und Nebenklageanwälte unterstützte. Dieser Beitrag spiegelt nur die privaten Ansichten des Autors wider.