Das weibliche Gesicht der Proteste in Belarus – Feminismus oder Kampf für Menschenrechte?

By Eva Kirchner –

„mein pflug steht fest, bewegt sich nicht vom fleck“ so heißt es in einem Gedicht der belarusischen Lyrikerin Volha Hapeyeva. Später heißt es dann noch „allein mein braches feld heißt niemanden willkommen“.

Diese Zeilen könnten fast schon sinnbildlich für das von Lukaschenko gezeichnete Belarus stehen. Seit 1994 ist Lukaschenko quasi Alleinherrscher des Landes in Osteuropa, das von manchen Medien auch als die „letzte Diktatur Europas“ bezeichnet wird. Das Land, das in den letzten Jahren oft hinter den Radar europäischer Medien fiel, ist seit wenigen Monaten dafür aber umso präsenter: Lukaschenkos selbst erklärter Wahlsieg scheint die Bevölkerung Belarus´ wachzurütteln. Doch die Proteste in Belarus haben ein erfrischend neues Gesicht: Sie sind weiblich.

Das weibliche Gesicht der Opposition

Im patriarchalen Belarus ist die Rollenverteilung noch sehr traditionell. Auch auf dem Gender Equality Index 2019 liegt Belarus gerade einmal auf Platz 50. Von einer emanzipierten Gesellschaft kann also nicht die Rede sein. Doch sind Frauen plötzlich die treibende Kraft der Protestbewegung?

Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, lohnt es sich, erst einmal einen Blick auf die drei führenden Oppositionellen zu werfen: Swetlana Tichanowskaja, Maria Kolesnikowa und Veronika Zepkalo. Auch wenn die drei Frauen eigentlich nie selbst Politikerinnen werden wollten, so wurden sie doch von Lukaschenko unterschätzt. Die drei Oppositionspolitiker, die sie eigentlich unterstützen, mussten entweder ins Exil fliehen oder wurden verhaftet. An ihre Stellen traten dann ihre weiblichen Unterstützerinnen. Swetlana Tichanowskaja gilt dabei sogar als die wirkliche Siegerin der Präsidentschaftswahl. Wegen anhaltender Drohungen floh sie jedoch kurz nach der Wahl nach Litauen – und wurde nun in Russland und Belarus zur Fahndung ausgeschrieben. Auch Maria Kolesnikowa ist mittlerweile gezwungenermaßen politisch handlungsunfähig: Sie wurde entführt und sitzt nun in Untersuchungshaft. Ihr wird die Gefährdung der nationalen Sicherheit vorgeworfen. Auch Veronika Zepkalo musste kurz vor der Wahl fliehen und lebt mittlerweile in Polen. Diese Nachrichten könnten Resignation und Verzweiflung hervorrufen. Doch in Belarus scheint vielmehr das Gegenteil zu passieren: Die Proteste setzten sich seit Wochen fort. Und auch hier zeigt sich wieder: Das Gesicht der Opposition ist weiblich. Und es sät Hoffnung in das bisher brach liegende Land Belarus.

Das weibliche Gesicht der Proteste

Lange wurden Frauen von Lukaschenko unterschätzt, er ging sogar so weit, sie als ungeeignet für die Politik zu bezeichnen. Doch als sie sich dazu entschieden für ihre Kinder und Männer einzustehen, bewiesen sie, dass dem definitiv nicht so ist. Mit weißen und roten Kleidern, singend und mit Blumen in der Hand protestieren vor allem Frauen gegen Gewalt. Anfangs formierten sich die Frauen in Solidaritätsketten und bildeten menschliche Schutzkäfige, um die Polizisten von Gewalthandlungen abzuhalten. Protestierende Männer wurden nämlich überwiegend gewaltsam verhaftet. Daher blieb den Frauen nicht viel anderes übrig, als selbst an den Protesten teilzunehmen. Da die Hemmschwelle der Polizisten gegenüber Frauen zumindest anfangs noch sehr hoch war, konnten diese deeskalierend in die Proteste eingreifen. Doch diese sank leider auch zunehmend: Teilweise wurden mehr als 300 Frauen festgenommen. Dennoch lässt sich die belarusische Bevölkerung nicht stoppen. Seit Wochen versammeln sich nicht nur in Minsk, sondern in ganz Belarus Millionen Menschen zu friedlichen Protesten, teilweise sogar täglich.

Feminismus oder Kampf für Menschenrechte?

Dennoch ist es wichtig, bei den Protesten zu differenzieren. Oder genauer: bei seinen Ursprüngen. Viele europäische Medien feiern die von Frauen geleiteten Proteste, bezeichnen die Frauen in weiß-roten Kleidern und mit Blumen in der Hand als „modern“ und „cool“. Eine Spiegel-Autorin stellte sogar die fehlende Solidarität westlicher Feminist*innen in Frage. Die Proteste als Ausbrüche feministischer Natur zu bezeichnen, ist allerdings zu kurz gegriffen.

Lukaschenko baut das osteuropäische Land seit 1994 systematisch zu einer Autokratie um. Bereits die Wahl im Jahr 1994 stufte die OSZE als unfair ein. 1996 löste er dann durch ein Referendum das Parlament auf und änderte die Verfassung. Auch die Legitimität dieses Referendums ist stark umstritten. Die darauf folgenden Wahlperioden entschied Lukaschenko angeblich immer für sich. Eine Studie des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) zeigt allerdings gegenteiliges: gerade einmal 10% der jungen Wähler*innen würden für Lukaschenko stimmen. Oppositionelle werden strukturell unterdrückt, politische Partizipation ist quasi unmöglich. Die Proteste sind ein verzweifelter Ruf nach Menschenrechten und nach Sicherheit. Dass die Proteste von Frauen geleitet werden, hat nicht damit zu tun, dass sie aus den traditionellen Rollenbildern ausbrechen möchten. Sondern damit, dass Männer verhaftet werden oder heftige Gewalthandlungen von Seiten der Polizei befürchten müssen.

Maria Kolesnikowa sagte selbst in einem Interview mit der SZ, dass Feminismus ein noch negativ konnotiertes Wort ist. Dies ändere sich zwar zurzeit – von einem emanzipierten Aufstand zu sprechen, wäre jedoch falsch. Auch die LGBTIQ*-Szene hat in Belarus noch einen sehr schweren Stand und wird kaum toleriert. Ein breiter gesellschaftlicher Wandel bleibt bisher also aus. Auch wenn zweifelsohne eine wichtige Bewegung ins Rollen gebracht wurde.

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Belarus´ Zukunft?

Bleibt nur noch die Frage nach einer Nachfolge Lukaschenko. Maria Tichanowskaja, die aussichtsreichste Oppositionelle Lukaschenkos, hat nämlich vor kurzem selbst zugegeben, dass sie nicht die Präsidentin Belarus´ werden möchte.

Im am Anfang zitierten Gedicht heißt es übrigens weiter „ich schaue auf die nachbarfelder, kornblumen im roggen, unter kamille der flachs“. Bleibt also zu hoffen, dass sich Belarus vom brach liegenden Land in ein blühendes Feld verwandeln wird. Es scheint zumindest in Sichtweite zu sein.

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