Frontex-Skandal: Ein europäisches aber auch ein deutsches Armutszeugnis

Zurzeit steht die EU-Agentur Frontex massiv in der Kritik. Dass der Skandal um die europäischen Grenzschützer:innen nicht nur ein europäisches, sondern auch ein deutsches Armutszeugnis ist, werde ich im Folgenden aufzeigen. Doch der Reihe nach.

Was ist passiert?

Die Agentur Frontex ist vielen Menschen, die im Bereich der Flüchtlingshilfe arbeiten, schon lange ein Dorn im Auge. Wird die europäische Agentur doch oftmals als Sinnbild für die Abschottung Europas gesehen, als Beweis einer gewissen Militarisierung der EU und dafür, dass die EU Menschenrechtsverletzungen nicht so ernst nimmt, wenn sie nicht auf europäischem Boden passieren und man deswegen von Beginn an verhindern will, dass Asylsuchende ihren Weg nach Europa finden. Die letzten Wochen und Monate scheinen diese Zweifel zu nähren und viele dürften sich nun in ihrer kritischen Haltung zurecht bestätigt sehen.

Frontex ist an massiven Menschenrechtsverletzungen beteiligt

Dank gutem Journalismus (und nicht etwa mithilfe nationaler oder EU-Behörden oder zuständigen Innenminister:innen) ist die öffentlich bekannte Beweislast erdrückend. In Kooperation haben verschiedene Medien (u.a. SPIEGEL, Bellingcat und die ARD) zusammentragen können, dass Frontex seit April letzten Jahres bei mindestens sechs Pushbacks in der Nähe und in mindestens einen Pushback selbst verwickelt war. Videos zeigen, dass durch ein gewaltsames Zurückdrängen Geflüchtete in ihren Booten zurück in internationales bzw. türkisches, libysches oder andere nordafrikanische Gewässer gedrängt werden. Diese Praxis ist nicht nur moralisch höchst verwerflich, sondern auch nach dem völkerrechtlichen Prinzip der Nichtzurückweisung klar rechtswidrig (sog. Refoulement-Verbot). Hier hat jede:r Fliehende das Recht, gegenüber einem anderen Staat Zuflucht und Schutz vor Menschenrechtsverletzungen zu suchen, indem ein Asylantrag gestellt werden kann. Erst wenn dieser in einem rechtsstaatlichen und fairen Verfahren abgelehnt wurde, darf ein Staat abschieben.

Ein Grundsatz, der nicht nur in der Genfer Flüchtlingskonvention in Art. 33 festgelegt ist, sondern auch u.a. in Art. 3 der UN-Antifolterkonvention, Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, Art. 5 der EU-Rückführungsrichtlinie, Art. 21 der EU-Qualifikationsrichtlinie und in der EU-Seeaußengrenzenverordnung. Mit anderen Worten, die Regeln sind für alle klar festgelegt, aber es ist offensichtlich, dass dieses Verfahren bewusst von den Beteiligten ignoriert wird und grobe Menschenrechtsverletzungen billigend in Kauf genommen werden.

„Keiner der […] Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit […] bedroht sein würde.“

Art. 33 Genfer Flüchtlingskonvention

Neben Frontex stehen insbesondere die griechischen Behörden in der Kritik, systematisch Pushbacks durchzuführen. Eine Vielzahl an Menschenrechtsorganisationen kritisieren diese Praxis schon sehr lange und sehr deutlich. Doch nun scheint es sich auch bei den Verantwortlichen der Behörden herumgesprochen zu haben und die Hülle des Schweigens lichtet sich langsam. Das Anti-Folter-Komitee hat beispielsweise als Teil des Europarates die Vorwürfe, dass Griechenland an illegalen Rückführungen in die Türkei beteiligt ist, als „schlüssig“ und „glaubhaft“ bezeichnet. Und selbst in internen Unterlagen der deutschen Bundespolizei werden diese Vorwürfe bestätigt. 

Der Skandal hat ein Gesicht: Frontex-Direktor Fabrice Leggeri

Dass Frontex das rechtswidrige Verfahren mindestens akzeptiert und duldet, ist hinlänglich bekannt. Auch, wenn der Frontex-Direktor Fabrice Leggeri vor öffentlichen Stellen dreist lügt und die gut belegten Vorwürfe der Pushbacks öffentlich herunterspielt. Selbst eine speziell dafür gegründete Arbeitsgruppe des eigenen Frontex-Verwaltungsrates hat in einem internen Bericht die Informationspolitik des Direktors deutlich kritisiert. Auch dass sich der Direktor bisher schlichtweg geweigert hat, 40 Grundrechtsbeobachter:innen einzustellen (wie mit der EU-Kommission eigentlich vereinbart), die den Schutz der Menschenwürde an Europas Grenzen sicherstellen sollen, offenbart ein gefährliches Muster des Direktors.

Nicht nur ein europäisches, sondern auch ein deutsches Armutszeugnis

Aber es ist nicht nur ein griechisches Problem oder ein Skandal der EU, sondern auch ein Armutszeugnis für Deutschland, insbesondere für den Bundesinnenminister Horst Seehofer, der hierfür die politische Verantwortung trägt. Deutsche Grenzbeamt:innen der Bundespolizei waren nachweislich in Pushbacks involviert. Wie aus dem Intranet der Bundespolizei hervorgeht, waren Bundespolizist:innen Zeugen, wie die griechische Küstenwacht Geflüchtete in Seenot auf ihr Schiff aufgenommen hat, nur um dann ohne diese Menschen wieder im eigenen Hafen anzulegen. Dies lässt nur einen möglichen Schluss zu: illegale Rückführung von Menschen in Not auf hoher See.

Warum die deutsche Polizei hier zwar intern im Detail berichtete, aber nicht von einer klaren Menschenrechtsverletzung spricht bleibt unbeantwortet. Der Innenminister weiß um diese Brisanz, stellt sich aber schützend vor die griechischen Behörden und nimmt damit billigend in Kauf, dass deutsche Bundespolizist:innen an kriminellen Machenschaften beteiligt sind. Auch dies ein wiederkehrendes und gefährliches Muster.

Wir erinnern uns beispielsweise an Seehofers denkwürdigen Auftritt im September letzten Jahres, als er lächelnd in die Kameras sagte:

„Wir sollten […] nicht vergessen, dass die Griechen vor einigen Monaten die europäische Außengrenze geschützt haben. Wenn Sie sich zurück erinnern, dass die Türken ja die Flüchtlinge in großem Maße über diese Grenze nach Europa und damit auch zu uns schleusen wollten. Wenn die Griechen das nicht verhindert hätten, hätten wir ganz andere Flüchtlingsströme nach Europa bekommen. Das muss man auch ein bisschen mitbedenken […]“

Bundesinnenminister Horst Seehofer, September 2020

Er bedankte sich also bei den griechischen Grenzschützer:innen, dass sie gewaltsam mit Tränengas (und übrigens wieder in Zusammenarbeit mit Frontex!) Menschen davon abgehalten haben, Asyl in Griechenland zu suchen. Also der Vorgang, bei dem Menschenrechtsexpert:innen Griechenland scharf für das rigide und aggressive Vorgehen gegen die Geflüchteten kritisiert haben. Insofern muss man sich über das schützende Schweigen des deutschen Innenministers in dieser Sache nicht wundern.

Was muss passieren?

Nun stellt sich die Frage, welche Konsequenzen die Verwickelung von Frontex in illegale und lebensgefährliche Pushbacks mit sich bringen muss.

Kurzfristig muss es bedeuten, dass Deutschland keine Geflüchteten in einen Staat abschieben darf, der nachweislich gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstößt. Dies ist dankenswerterweise auch bereits gerichtlich entschieden. Die rechtswidrige Praxis der griechischen Behörden muss sofort beendet werden. Um hier politischen Druck aufzubauen, sind die deutschen Behörden ebenso in der Verantwortung wie die EU. Der Frontex-Direktor Leggeri muss sich der Frage stellen, ob er mit der Duldung der systematischen Menschenrechtsverstöße und seinen gezielten, irreführenden Aussagen noch geeignet für sein Amt ist. Die laufenden Ermittlungen der EU-Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF gegen seine Behörde wegen Belästigung und Fehlverhalten und die neuen Vorwürfe, dass sich Frontex entgegen eigener Angaben mit Waffenlobbyisten getroffen habe, die nicht im EU-Transparenzregister verzeichnet seien, tragen zu einer neuen Brisanz bei.

Mittel- und langfristig: Trotz aller berechtigten Kritik ist eine Auflösung von Frontex weder realpolitisch umsetzbar noch gewollt oder unbedingt nötig. Auch ist erst einmal nichts dagegen einzuwenden, wenn die Wahrung einer Ordnung an der EU-Außengrenze europäisiert wird und nicht nur den nationalen Grenzbeamt:innen obliegt. Doch muss die derzeitige Abschottungspolitik ein sofortiges Ende finden und sich auch in den Strukturen der EU-Grenzschutzbehörde bemerkbar machen. Grundschutzbeobachter:innen müssen umgehend eingestellt werden, um mögliche Menschenrechtsverletzungen frühzeitig zu identifizieren. Frontex darf nicht weiter militarisiert und enthumanisiert werden, wie es derzeit geplant ist. Zudem braucht es ein zuverlässiges, unabhängiges und dauerhaftes Melde- und Überwachungssystem für Grundrechtsverletzungen der EU-Agentur, das weit über den derzeitigen Mechanismus des Frontex-Verwaltungsrates hinausgeht. Für eine erfolgreiche Implementierung müssen hierzu auch ausdrücklich Menschenrechtsexpert:innen und Journalist:innen zurate gezogen werden. Auch wäre ein Untersuchungsausschuss des Europaparlaments eine denkbare Option, um mögliche Aufsichtsversäumnisse der EU-Kommission aufzuklären.

Fazit: Es lebe der Freie Journalismus und die Zivile Seenotrettung

Aber vor allem macht dieser Frontex-Skandal zwei Sachen deutlich. Zum einen, dass unabhängiger und freier Journalismus unabdingbar ist, um massive Missstände und systematische Menschenrechtsverletzungen aufzudecken. Und zwar nicht nur in fernen autokratischen Ländern, sondern auch in Demokratien im Herzen Europas.

Und zum anderen unterstreicht dieser Skandal ein weiteres Mal, dass die zivilen Initiativen zur Seenotrettung wie die von Sea Eye nicht nur wichtig, sondern unerlässlich sind, solange das Prinzip Unterlassene Hilfeleistung seitens der Nationalstaaten im Mittelmeerraum gilt. Diese privaten Initiativen müssen ideell wie auch materiell gefördert werden, um Menschenleben zu retten und die Menschen vor illegalen Rückführungen zu schützen. Dies bleibt in diesen asylfeindlichen Zeiten wichtiger denn je!

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