Jugendrechte trotz Freiheitsentzug? (Teil 1)

Strudel

by Theresa Braun –

Schon im römischen Recht gab es die Furiosi – die Wahnsinnigen – die wegen unzureichender Schuldhaftigkeit mangels eigenen Willens nicht bestraft werden durften. Meist galten sie als unheilbar, weswegen sie in ihrer Gefangenschaft sich selbst überlassen wurden. Mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs im Jahr 1871 wurde im Strafgesetz erstmals die Unterscheidung zwischen voll schuldfähigen und nicht schuldfähigen Tätern festgelegt. Aufgrund ihrer Geisteskrankheit konnten sie nun in eine Irren- und Heilanstalt eingewiesen werden. Im Vordergrund stand die Sicherung der Allgemeinheit vor den Irren der Gesellschaft, deren Verhalten enorm von der sozialen Norm abwich.

Mit der Strafrechtsreform im Jahr 1933 wurde das duale System von Strafe und Maßregel endgültig festgelegt. Damit entstand der erste offizielle Maßregelvollzug in Deutschland. Zwar existiert die realisierte Einrichtung als solche bereits länger, jedoch fand der Maßregelvollzug bislang wenig Beachtung in Deutschland. Besonders der Umgang mit psychisch kranken Kindern und Jugendlichen, die aufgrund einer Straftat nach §63 Strafgesetzbuch in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen wurden, fand hingegen erst seit der Jahrtausendwende zusätzliches Gehör. Sogenannte Systemsprenger, die Unerziehbaren der Gesellschaft, die oft schon sämtliche Einrichtungen der Jugend- und Kinderfürsorge erfolglos durchlaufen haben, landeten mit erwachsenen psychisch kranken Straftäter*innen im Maßregelvollzug. Für sie bedeutete dies zwangsläufig die Verweigerung des Rechts auf Erziehung und Bildung.

Von der Irrenanstalt zur Sozialpsychiatrie

Das Bezirksklinikum Regensburg, früher Königliche Kreisirrenanstalt Karthaus-Prüll genannt, welche bereits im Januar 1852 gegründet wurde, besitzt den ersten Jugendmaßregelvollzug in Bayern für Patient*innen die nach §63 verurteilt werden – eröffnet im Jahr 2017. Das neue Gebäude hat grüne gestrichene Wände und wirkt farbenfroh. Unter den Nationalsozialisten wurden hier hunderte Menschenleben als nicht lebenswert eingestuft und im Rahmen der dezentralen Vernichtung der Aktion T4 in KZ’s deportiert und vergast beziehungsweise auch gleich vor Ort ermordet!

Knapp 30 Jahre später zeigt sich ein veränderter Umgang mit psychischem Leiden. Aufgrund eines Berichtes über die auffallend miserable Lage von psychiatrischen Kliniken veranlasste der Bundestag den Versorgungsbereich auszubauen. Es wurden neue Unterbringungsmöglichkeiten und Arbeitsplätze geschaffen. Die Entwicklungen lassen sich unter dem Stichwort sozialpsychiatrische Reformbewegung zusammenfassen, die vor allem auch die Veränderung im sozialen und therapeutischen Umgang mit psychisch kranken Straftäter*innen meint und bis heute andauert. Im europäischen Vergleich galt Deutschland lange als eines der Schlusslichter der europaweiten Reformbewegung.

Felix Bock, „Gebrochen“ 2020

Der veränderte Umgang mit seelischen Erkrankungen lässt sich auch durch die geographische Lage vieler Psychiatrien nachvollziehen. Wurden in vergangenen Zeiten Irrenhäuser und Anstalten an den Rand der Städte gebaut, so werden diese heute immer mehr von neuen Wohngegenden umschlossen. Alles was von der gesellschaftlichen Norm abwich, wurde kurz gesagt an den Rand der Gesellschaft verbannt. Heute wird der Maßregelvollzug als eine Institution betrachtet, die die Wiedereingliederung in die Gesellschaft möglich machen soll, und den Anspruch der Besserung vor der Sicherung vertritt. Wir betrachten psychisch kranke Täter*innen nicht mehr als Aussätzige, sondern als Teile unserer Gesellschaft, die auch weiterhin ein Anrecht haben in Kontakt zur Außenwelt zu stehen und in ihrer Lebensqualität eine Chance auf Besserung haben.

Stand zuvor der Sicherungsgedanke psychisch Kranker im Vordergrund, so ist es heute vor allem auch die therapeutische Behandlung, die die Verbesserung der Lebensqualität des Einzelnen bewirken soll. Zwar erfordert die Behandlung den Freiheitsentzug, jedoch steht jedem Insassen, der in seiner Behandlung Fortschritte macht, auch ein zeitlich begrenzter oder begleiteter Ausgang zu. Ein Stufenkonzept entscheidet schließlich über die Lockerungen der Maßregeln für die Patient*innen. Die Inhaftierung ist außerdem zunächst zeitlich unbefristet – in der Regel so lange, bis eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wieder gefahrlos möglich ist. Die Entscheidung darüber treffen die behandelnden Psychiater*innen oder Psycholog*innen der Einrichtung. 

Bereits seit Jahren werden allerdings immer wieder Stimmen der Öffentlichkeit laut, die dieses Verfahren kritisieren. Zuletzt sprach sich auch die Psychiatrische Fachgesellschaft DGPPN für eine einheitliche Regelung und Reform für die Verhältnismäßigkeit der Maßregel und die Dauer des Aufenthaltes in einer forensischen Psychiatrie aus. Hintergrund ist, dass die Patient*innen heutzutage wesentlich länger im Maßregelvollzug eingesperrt sind und die Einrichtungen zum Teil überfüllt sind.

»Wenn die Tür zur Aufnahmestation zugefallen und der Weg zurück versperrt ist, vollzieht sich ein Bruch in der Lebensgeschichte des Patienten.«

Der Spiegel, 1971

Im System der traditionellen Psychiatrie und des alten Maßregelvollzugs wurde Jugendlichen die Wiedereingliederung in die Gesellschaft deutlich erschwert. Da repressive und strafende Maßnahmen im Vordergrund standen und durch den Freiheitsentzug der Kontakt zur Außenwelt weitgehend unterbunden wurde, litt insbesondere der Aufbau sozialer Kompetenzen und Beziehungen darunter. Den Jugendlichen wurde durch die Unterbringung in Erwachsenenforensiken das Recht auf erzieherische Begleitung verweigert. Privatsphäre, die Jugendliche dringend nötig haben, wurde durch die jahrelange Unterbringung in Mehrbettzimmern unmöglich.

Dass dabei auf zusätzliche Bedürfnisse wie Integrationsförderung oder auch der produktive Umgang mit eigenen Lebenskrisen, ausreichend eingegangen wurde, ist dahingehend wenig vorstellbar. Der Gedanke, die Stunden an verfügbarer Psychotherapie für den Einzelnen seien für die persönliche Entwicklung ausreichend, zieht hier nicht. Wie soziale Beziehungen geführt werden oder mit Konflikten umgegangen werden kann, wird in den situativen Momenten erlernt. Entscheidend ist dabei der tägliche Umgang miteinander. Das Pflegepersonal kann hier eine unterstützende Rolle und beispielsweise selbst eine Vorbildfunktion einnehmen. Doch wie sieht die Versorgungssituation heute im Maßregelvollzug aus?

Einen Einblick aus der Sichtweise eines Pflegenden erhaltet ihr im zweiten Teil des Artikels.

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