Jugendrechte trotz Freiheitsentzug? (Teil 2)

Psychatrie

By Theresa Braun –

Während es im ersten Teil um die Entwicklung der Irrenanstalt zur Sozialpsychiatrie insbesondere für Jugendliche ging, zeigt der zweite Teil einen praktischen Einblick in die Arbeit vor Ort.

Aufwachsen im jugendgerechten Maßregelvollzug als Ziel

Nach wie vor bleibt eine bundeseinheitliche Regelung über die Unterbringung von Jugendlichen und Kindern in spezialisierten Einrichtungen aus. Das Land Thüringen legte als Erstes der Bundesländer im Jahr 2002 die spezifische Unterbringung fest, besitzt jedoch selbst keinen Jugendmaßregelvollzug, weswegen die Patient*innen im Regelfall in ein anderes Bundesland verlegt werden. In manchen Fällen jedoch kann die Unterbringung in einem Erwachsenenvollzug aufgrund der Nähe zu dem Wohnort der Eltern und den damit verbleibenden Kontaktmöglichkeiten ebenso sinnvoll sein. Hier ist ein Abwägen der individuellen Situation notwendig. Weitere Bundesländer, die sich anschließen waren Hessen und Rheinland-Pfalz. Im bayerischen Landesrecht ist mittlerweile das Recht auf erzieherische Begleitung und die Wahrnehmung von „altersgemäßen Beschäftigungs-, Bildungs- und Freizeitmöglichkeiten sowie entwicklungsfördernde[n] Hilfestellungen“ festgelegt. Jugendliche werden jedoch nur bedingt nach Möglichkeit im Jugendmaßregelvollzug versorgt. Die Möglichkeiten sind in Bayern ausgeschöpft, wenn die zwanzig Plätze auf der Station im Bezirkskrankenhaus in Regensburg belegt sind.

Der Gesundheits- und Krankenpfleger Frederik L. (Name anonymisiert) gewährte mir durch seine Erzählungen einen Einblick in seinen aktuellen Arbeitsalltag im Maßregelvollzug für Heranwachsende. Er ist nun seit zwei Jahren im Bezirksklinikum Regensburg in der Abteilung der Forensischen Jugendpsychiatrie und Psychotherapie tätig und kennt durch seine langjährige Erfahrung in diesem Berufsfeld die besonderen Herausforderungen des Arbeitens in psychiatrischen Einrichtungen. Besonders die lange Aufenthaltsdauer macht die Arbeit im Vergleich zu anderen psychiatrischen Stationen so spezifisch. Das Berufsbild des Pflegers konzentriert sich heute nicht mehr nur auf Ziele wie Überwachung und Sicherheit, sondern vor allem auf die erzieherische und therapeutische Fürsorge und unterliegt somit einem enormen Wandel.

Als Pflegender, der in einer 1:1 Betreuung mit den Heranwachsenden arbeitet, steht Frederik L. jeden Tag in engem Kontakt zu ihnen: „Manche von ihnen kenne ich länger als eigene Freunde.“ Die Insassen leiden an unterschiedlichen Krankheitsbildern: Psychosen und Persönlichkeitsstörungen, sexuellen Verhaltensabweichungen oder Intelligenzminderung und Minderbegabung. Die meisten sind zwischen 14 und 24 Jahren alt und somit in einer Phase, die für die Persönlichkeitsentwicklung besonders wichtig ist. Manche von ihnen bezogen ihr Zimmer bereits mit der Gründung der Abteilung im Jahr 2017 und werden nach wie vor dort behandelt.

Beziehungsarbeit als Grundlage pflegerischen Handelns

Wie Frederik L. erklärt, ermöglicht der lange Aufenthalt aber auch den Aufbau einer Beziehung: „Durch eine vertraute Atmosphäre wird die therapeutische Arbeit erst möglich“. Durch eine wertschätzende und vertrauensvolle Umgebung lernen die psychisch gestörten Jugendlichen soziale Beziehungen und Kompetenzen aufzubauen. Dabei müsse der Pflegende sein eigenes Verhalten auch reflektieren: Einerseits, um die Beziehung nicht zu persönlich werden zu lassen. Andererseits, um seine eigene Art und Weise der Erziehungs- und Therapiearbeit mit den Jugendlichen immer wieder zu hinterfragen.

Auch wenn er die Jugendlichen in ihrem Alltag begleitet, mit ihnen Fifa spielt, gemeinsam Sport macht und sie unterstützt, muss er sich immer wieder distanzieren. Die Pfleger*innen begleiten im Alltag und wirken hier oft wie ein Elternersatz oder Freunde, die den fehlenden sozialen Bezug schließlich mit ersetzen. Das macht es schwierig, dabei eine professionelle Beziehung und die nötige Distanz zu wahren. Nicht nur für das Krankenhaus, das sich vor Interessensvereinnahmung schützen muss, sondern auch für sich selbst: „Es gibt natürlich Tage, wo man Sachen mit nach Hause nimmt, wo man auch von Situationen träumt. Oder wo man sich schlechter regulieren kann oder wo man einfach ein paar Tage braucht, bis man wieder auf einem normalen Entspannungslevel ist“, erzählt Frederik.Sich abzugrenzen von Geschehenem oder den eigenen Emotionen ist Teil seines Jobs. Die Pflegenden erleben, wie die Jugendlichen Erfolge oder auch Misserfolge haben. Wenn sie gewalttätig werden oder Konflikte provozieren, passiert es schnell, dass man sich mit der Situation überidentifiziere. Man fühle mit, ob gekränkt, wütend oder traurig, oft müsse man die eigenen Emotionen verdrängen, um nach außen hin die Rolle des Pflegenden zu wahren.

Um die Arbeit leisten zu können, betreibt Frederik L. aktiv Psychohygiene, um sich von dem für ihn sehr fordernden Arbeitsalltag abzugrenzen. Er versuche einfach gesund zu bleiben, Freundschaften zu pflegen und arbeite aufgrund der psychischen Belastung nur noch Teilzeit. Auch der Austausch mit seinem Team hilft ihm dabei. In der multiprofessionellen Zusammenarbeit finden verschiedene Fachrichtungen zusammen, die allesamt für den Patienten zuständig sind. In Gruppenstunden oder gemeinsamen Aktivitäten gibt es für die Patienten die Möglichkeit zum Austausch. Neben den Therapiezeiten haben die Jugendlichen die Möglichkeit in die Schule zu gehen oder erste berufliche Erfahrungen zu machen. Es gibt für jeden Einzelnen einen festgelegten Wochenplan, der eine Beschäftigung von 9 Uhr morgens bis 17 Uhr abends vorsieht. Neben der Gesprächstherapie gibt es ein unterschiedliches Beschäftigungs- und Betreuungsangebot wie etwa Sporttherapie. Jede*r Patient*in besitzt sein eigenes Zimmer, welches selbst gestaltet werden kann. Wird sichtbar, dass Erfolge in der Therapie eintreten, diskutiert das multiprofessionelle Team gemeinsam über Lockerungsschritte, die beispielsweise einen zeitlich begrenzten oder auch begleiteten Ausgang in der Woche vorsehen. Im Vordergrund steht dabei vor allem die persönliche Entwicklung, zu der die Pflegenden einen großen Teil beitragen.

Die neue Jugendforensik verändert sich dahingehend in den letzten Jahren hin zu einem offeneren und individuelleren Umgang und integriert dabei neue pädagogische Ansätze in ihre Arbeit, die so im Erwachsenenbereich nicht gefordert sind. Es gibt das Recht sich eine Stunde täglich im Freien aufhalten zu dürfen, das Recht auf berufliche Weiterbildungsmaßnahmen oder auch das Recht an Deutsch- bzw. Integrationsunterricht teilzunehmen. Gleichzeitig bedeuten diese Entwicklungen neue Arbeitsverhältnisse und somit neue Herausforderungen für die Mitarbeiter*innen. Schön ist, dass den spezifischen Entwicklungsbedürfnissen der Jugendlichen nun deutlich mehr Raum gegeben wird, indem bestimmte Mindestanforderungen für den Jugendmaßregelvollzug festgelegt wurden.

Die Umsetzung von sozialen Menschenrechten im Freiheitsentzug übernimmt einen wichtigen Part bei der Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen mit schweren psychischen Erkrankungen! Lockerungen ermöglichen ihnen Erfahrungen außerhalb eines Umfelds, in dem sie als kriminalisiert abgestempelt werden. Es verhindert im besten Fall das Gefühl des Abgehängt werdens von gleichaltrigen Jugendlichen. Aktuelle Daten sprechen auch nach wie vor für die Trennung des Jugendmaßregelvollzugs vom Erwachsenenbereich, denn wie die thematisierten Fälle zeigen, haben Kinder und Jugendliche, die heute eine spezifische Behandlung erhalten, deutlich höhere Chancen auf Besserung als noch vor 15 Jahren.

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