Ein Gedächtnisbuch für die Opfer des Kondors

16. November 2014 | Von | Kategorie: Rezensionen

Pina, João: Cóndor, Barcelona (Blume) 2014

Über die “Operación Cóndor”, diesen Verbund der Geheimdienste südamerikanischer Diktaturen, gibt es inzwischen viele wissenschaftliche und journalistische Publikationen. 1975 auf Initiative des chilenischen Geheimdienstchefs Contreras gegründet, verschleppte, folterte und ermordete dieses Netzwerk Oppositionelle in Brasilien, Bolivien, Uruguay, Argentinien, Chile und Paraguay. Mindestens in einem Fall waren auch peruanische Militärs beteiligt (s. den Artikel von Carmen Rosa Cardoza auf https://www.menschenrechte.org/lang/de/lateinamerika/a-desaparicion-forzada-en-el-peru). Der Fund eines Archivs in der paraguayischen Hauptstadt Asunción 1992 durch eines der Opfer der Operation Kondor, den Rechtsanwalt Martín Almada, brachte 1979 erstmals Licht in dieses düstere Netzwerk.

Nüchterne Analysen gehen heute davon aus, dass die Bedeutung der Operation Kondor im Gesamtzusammenhang der Diktaturen vielleicht überschätzt wird. Zu groß war das gegenseitige Misstrauen, zu wenig waren die Geheimdienste zu einer umfassenden Zusammenarbeit bereit. Wenn der verdienstvolle amerikanische Reporter Jon Lee Anderson daher in seinem kurzen Vorwort zu dem Buch von João Pina die Zahl von 60.000 Opfern der Operation Kondor angibt, so bezieht sich diese auch anderswo zu findende Zahl wohl eher auf die gesamten Opfer der südamerikanischen Diktaturen. Opfer der Operation Kondor im engeren Sinn waren diejenigen Oppositionellen, die dank der Zusammenarbeit der Polizeien und Geheimdienste im Rahmen von Kondor außerhalb ihrer Heimatländer verfolgt und getötet oder „verschwunden“ wurden. In dem großen Prozess, den seit März 2013 das Tribunal Oral en lo Criminal Federal Nº 1 von Buenos Aires gegen 22 Angehörige der argentinischen und uruguayischen Diktatur wegen ihrer Verbrechen im Rahmen der Operation Kondor durchführt, bezieht sich die Anklage auf 106 namentliche Opfer aus Argentinien, Uruguay, Chile, Paraguay, Brasilien, Bolivien und Peru.

Der portugiesische Fotograf João Pina ist zehn Jahre den Spuren der Operation Kondor nachgegangen. In Argentinien, Chile, Uruguay, Brasilien, Paraguay und Bolivien hat er die Angehörigen von Verschwundenen und Überlebende des Terrors gesucht, ihre Geschichten aufgeschrieben und sie fotografiert. Diese Personen stehen im Mittelpunkt des Buches. Pina hat aber auch die Orte gesucht und fotografiert, wo sie gefangen waren oder gefoltert wurden, er hat im „Archiv des Terrors“ in Asunción Dokumente abgelichtet und festgehalten, wie aus Täterorten Erinnerungsorte wurden, er war bei der Exhumierung von anonymen Gräbern dabei, und bei Prozessen, die vor allem in Argentinien stattfinden. Hier, wenn sie Rechenschaft ablegen müssen, kommen schließlich auch Täter ins Bild.

Das Ergebnis seiner Arbeit ist kein weiteres Sachbuch über die Operation Kondor, sondern ein mit hohem künstlerischem Anspruch gestaltetes Buch der Erinnerung an die Opfer einer Allianz unerbittlicher Terrorregime. Alle Fotografien sind in oft grobkörnigem Schwarz-Weiß. Sie wollen als Bilder betrachtet und aufgenommen werden, weshalb die sachlichen Daten dazu in einem eigenen separaten Beiheft nachzuschlagen sind. Nur den Personenportraits sind auf Transparentpapier ihre Geschichten direkt zugeordnet. Die Portraits selbst sind sehr unterschiedlich gestaltet und erkennbar das Ergebnis eines kommunikativen Aushandlungsprozesses. Manche stellen sich dem Fotografen in klarer, frontaler, fast herausfordernder Position, andere suchen eine vertraute Umgebung, und wieder andere muss das Auge in der Landschaft suchen, wo ihre Figur anonym bleibt. So entsteht keine Galerie von Opfern wie in den von Pina ebenfalls aufgenommenen Steckbriefen des „Archivs des Terrors“, sondern wir sehen Menschen, die bei aller Ähnlichkeit ihres Schicksals ihre individuelle Menschlichkeit demonstrieren.

João Pinas Buch vermeidet jeden Anflug von Voyeurismus, Aufnahmen und Aufmachung zeugen vom tiefen Respekt, den der Fotograf für die Opfer der Operation Kondor hat. In seiner kurzen Nachbemerkung schreibt Pina, dass er seine Arbeit nur dank einer crowd funding Kampagne fertigstellen konnte. Während der Arbeit an der Operation Kondor war er in den besuchten Ländern auch mit heutigen Menschenrechtsverletzungen konfrontiert, die möglicherweise Thema eines weiteren Buches sein werden. Es ist zu hoffen, dass ihm auch dies gelingen wird.

Rainer Huhle

Schlagworte:

Kommentare sind geschlossen