Richard W. Sonnenfeldt: Mehr als ein Leben. Vom jüdischen Flüchtlingsjungen zum Chefdolmetscher der Anklage bei den Nürnberger Prozessen.

28. Februar 2003 | Von | Kategorie: Rezensionen

Bern (Scherz-Verlag) 2003, 288 Seiten

Heinz Wolfgang Richard Sonnenfeldt wurde 1923 in dem konservativen preußischen Städtchen Gardelegen bei Berlin geboren. In Nürnberg lernten wir ihn in den letzten Jahren bei mehreren Veranstaltungen kennen, deren Anlass bereits im Titel seines Buches genannt ist: Als junger Mann von gerade 23 Jahren wurde er Chefdolmetscher des amerikanischen Anklägers Robert Jackson im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des NS-Regimes. Sehr lebendig, mit erstaunlichem Gedächtnis und viel Humor erzählte der 80-Jährige bei seinen Besuchen im historischen Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes (dem damaligen Gerichtssaal) und im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände von seiner Arbeit bei diesem Jahrhundertprozess, die ihm manchen aufschlussreichen Einblick in das Innenleben des Prozesses, aber auch der Angeklagten erlaubten. Die vielen Fragen, die ihm bei diesen Gelegenheiten, und auch bei späten Besuchen in seiner Geburtsstadt Gardelegen gestellt wurden, motivierten Sonnenfeldt, dieses Erinnerungsbuch zu schreiben.

Auch das Buch ist vom Humor, der Lebensfreude und dem Selbstbewusstsein des Autors geprägt, die er bei seinen Vorträgen ausstrahlt. Als Jugendlicher gelangte Sonnenfeldt über England, Australien und Indien in die USA, die ihm damals das gelobte Land erschienen, und mit deren demokratischen Grundsätzen er sich auch heute identifiziert. Der Umweg über Australien und Indien war keineswegs freiwillig: Sonnenfeldt ereilte das Schicksal so manchen Flüchtlings vor Hitler, der bei Kriegsbeginn, ohne Rücksicht auf den Grund seiner Ausreise aus Deutschland, als “feindlicher Ausländer” interniert wurde. Die schlimme Behandlung auf dem Internierungsschiff und manch andere Diskriminierung schildert Sonnenfeldt ohne Larmoyanz und Ressentiment, aber er verschweigt sie auch keineswegs. Sein unbefangener Blick ins Auge der Wahrheit ist überhaupt ein durchgehender Zug in Sonnenfeldts Erinnerungen, ebenso wie seine Weigerung, sich als Opfer zu fühlen, auch wenn er objektiv Opfer war. Seine jugendliche Energie, die bis ins hohe Alter reichte, seine vielseitige Begabung und seine ungemein rasche Auffassungsgabe erlaubten ihm, sich in jeder neuen Wendung des Schicksals schnell zurechtzufinden. Den Blick zurück übte er so wirklich erst im Alter, als junger Emigrant wollte Sonnenfeldt sich dort bewähren, wohin es ihn verschlug, und in die Zukunft blicken. Anders als etwa seine Eltern und viele andere Emigranten wollte er sofort ein hundertprozentiger Amerikaner werden – und wurde es. Aus seinen komplizierten Vornamen machte er ein amerikanisches “Richard W.”, sein Englisch war bald akzentfrei, und eine praktische Lebensauffassung ohne Standesdünkel war ihm ohnehin zu eigen.

In diesem Geist agierte Sonnenfeldt auch im Nürnberger Prozess. Seine Neugierde auf Personen wie Göring überwog allemal seine Abscheu, und so kam es zu erstaunlich nahen Interaktionen, deren Schilderung sicher zu den interessantesten Passagen des Buches gehört. Wo seine Urteile bisweilen fast naiv anmuten, sind sie letztlich doch von nichts anderem als einer aufrechten Menschlichkeit geprägt, die ihn auch immer wieder im Lauf seines Lebens fragen ließ: Was hätte ich getan, wenn die Nazis mich nicht ausgegrenzt, sondern an ihrem Wahn hätten teilnehmen lassen? Und ebenso unbefangen stellt er in Frage, dass Opfer schon deswegen besonders gute Menschen seien müssten, weil sie eben Opfer sind.

Sonnenfeldts Buch wird in Deutschland vor allem im Hinblick auf seine Tätigkeit als Dolmetscher und damit Zeitzeuge beim Nürnberger Prozess rezipiert und vermarktet. Doch dieses eine Jahr seines Lebens macht auch nur ein Kapitel im Buch aus. Das ganz Buch ist aber darüber hinaus sehr lesenswert als Dokument eines Lebens, das die Schläge der Vertreibung und Migration auf bemerkenswerte Weise in einen positiven Lebensentwurf verwandelte. “Mehr als ein Leben” zu haben, sah Sonnenfeldt immer als Chance, auch wenn diese zusätzlichen Leben durch Leid und Unglück verursacht war. Insofern auch ein Buch für das 21. Jahrhundert, in dem immer mehr Menschen die von Sonnenfeldt gelebte Einstellung zu den Wechselfällen des Lebens abverlangt wird.

von Rainer Huhle

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