Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Herausgegeben von Monika Flacke, Deutsches Historisches Museum, 2 Bände, 970 Seiten, Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2004 (zugleich Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin)
Rheinisches JournalistInnenbüro: “Unsere Opfer zählen nicht”. Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg, Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2005, 444 Seiten
Schon rechtzeitig vor dem in allen Medien intensiv beackerten 60. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs hatte das Deutsche Historische Museum in Berlin eine Ausstellung vorbereitet, die das Jahr 1945 als “Arena der Erinnerungen” beleuchtete, und zwar unter dem eigenartigen Obertitel “Mythen der Nationen”. Dieses Projekt fand seinen Niederschlag zugleich in zwei umfangreichen Katalogbänden gleichen Titels. Dass die Erinnerung an die Zäsur von 1945 in diesem quasi-offiziellen Unternehmen des Deutschen Historischen Museums als zentrale Perspektive die der Neubestimmung des Nationalstaats in Europa hat, begründen die Herausgeber mit der gleichnamigen Ausstellung von 1998 “Mythen der Nationen”, die der Entstehung der europäischen Nationalstaaten im 19. Jahrhundert gewidmet war. Die neue Ausstellung wollte also eine Art Fortsetzung dieser Beschäftigung mit dem europäischen Nationalstaat sein. 1945, so Hans Ottomeyer in seinem Vorwort zu dem Katalog, waren “Positionen nationaler Identität [“¦] in ihren Fundamenten erschüttert oder sogar nachhaltig zerstört. Sie galt es europaweit zu festigen oder völlig neu zu bestimmen.” Ziel des Projekts sei es daher gewesen, “die Ideen nachzuzeichnen, welche das politische Bewußtsein der Nachkriegszeit bestimmten.” Eine weitere Begründung für diese ja nicht gerade selbstverständliche Einengung möglicher Erinnerungsmotive wird nicht gegeben. Und so geht es denn hinein in einen langen Reigen von 29 Monografien über die nationalen Erinnerungskulturen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg in den europäischen Nationalstaaten, von Norwegen bis Griechenland und Sowjetunion/Russland bis Spanien, also nahezu ganz Europa wenngleich einige Länder fehlen, die, wie etwa Albanien oder Portugal, sicher auch ihre Erinnerungen beizusteuern hätten. Zwei Länder außerhalb Europas, die aber im europäischen Bewusstsein untrennbar mit dem Weltkrieg und seinen Folgen verknüpft sind, werden ebenfalls berücksichtigt: USA und Israel. So bilden die beiden Bände so etwas wie eine Enzyklopädie der Erinnerungspolitiken im Nachkriegseuropa wie sie bisher nicht zur Verfügung stand. Deren Nutzwert wird noch erheblich erhöht durch die jedem Artikel beigegebenen Karten mit den wechselnden Gebietsgrenzen, bibliografische Nachweise und nicht zuletzt eine meist sehr ausführliche Chronologie zur Landesgeschichte mit Bezug zu den relevanten Daten von Krieg und Völkermord.
Den einzelnen Beiträge sollte zwar ein Satz von Fragen zugrunde liegen, die von Etienne François in einem einleitenden grundsätzlichen Essay in komparatistischer Perspektive auch ausformuliert wurden. Sie weiten das thematische Spektrum der Erinnerung an den Weltkrieg gegenüber der im Titel des Projekts angelegten Engführung auf die Frage der nationalen Selbstfindung deutlich aus. Nach einer differenzierenden Entwirrung der verschiedenen Fäden “patriotischer Erinnerung”, wie sie nicht nur in Osteuropa bis zur Wende das Bild bestimmten, kontrastiert François diesen Strang mit der “Völkermord-Erinnerung”, die sich erst sehr langsam als konstitutives Element von Erinnerung und Erinnerungspolitik durchsetzen konnte (und in etlichen Ländern noch immer heiß umstritten ist).
Die Autoren folgen diesen programmatischen Fragestellungen in unterschiedlicher, oft nur partieller Weise, und greifen in aller Regel, mehr oder weniger in den spezifischen Bedingungen des jeweiligen Landes begründet, bestimmte Aspekte des Erinnerns heraus. Doch der erinnerungspolitische Widerstreit zwischen dem nationalen Widerstand gegen den Nationalsozialismus und dem Gedenken an die Opfer des Holocaust ist in allen Beiträgen zu den Ländern zentrales Thema, die unter der Herrschaft der Nazis litten. Dabei stellen sich zwei Komplexe als Quelle besonders hartnäckiger Mythologisierungen und Geschichtsdebatten bis heute dar, insbesondere in den osteuropäischen Ländern: Erstens die Zuordnung des Widerstands zu einer “nationalen” Widerstandsbewegung bzw. zu einer ideologisch motivierten und mit der Sowjetunion verbündeten “antifaschistischen” Bewegung. Und zweitens das Verhältnis dieser beiden entgegengesetzten Strömungen zu den Verbrechen des Nationalsozialismus, insbesondere der Ermordung der Juden, und zu denen des Stalinismus. In den entsprechenden Länderdarstellungen werden die oft mit heftigen Tabus belegten und durch grobe Fälschungen verzerrten Geschichtsbilder meist nüchtern vorgestellt und ihre zeitliche Abfolge in den Kontext der gesamteuropäischen Nachkriegsentwicklung gestellt.
Zu den von François angesprochenen Hauptmerkmalen der “Völkermord-Erinnerung” gehört auch “der systematische Rückgriff auf das Recht in einem Prozess der “šVerrechtlichung’ der Debatten über die jüngste Vergangenheit”. Es fällt auf, dass dieser Aspekt von den Autoren des Bandes kaum aufgegriffen wird. Waren die Nürnberger Prozesse und die verschiedenen nationalen Gerichtsverfahren gegen NS-Verbrecher so wirkungsohnmächtig, dass sie nicht einmal in dem Beitrag über die Bundesrepublik Deutschland Berücksichtigung verdienten? Und das, obwohl der Beitrag selbst darauf hinweist, dass die Bilder vom Nürnberger Prozess das am häufigsten abgebildete einschlägige Motiv in der Nachkriegszeit überhaupt waren. Konzipiert als Ausstellungskatalog, konzentrieren sich die Beiträge der beiden Bände legitimerweise in ihrer Darstellung an Abbildungen, also am Abbildbaren und am Abgebildeten als “Zeugnis und Urteil”, wie es in dem hierfür programmatischen zweiten einleitenden Essay von Horst Bredekamp heißt. Die Prozesse entziehen sich diesem Verfahren aber gerade nicht, im Gegenteil, Bilder aus Nürnberg oder dem Eichmannprozess gehören zu den meistzitierten Ikonen von Vergangenheitspolitik weltweit, und in Moshe Zuckermanns Beitrag über die israelische Gedenkkultur werden sie ausführlich zitiert und in die Analyse einbezogen. Dass die Prozesse als von außen aufgezwungener oder aus eigener Kraft vorgehaltener Spiegel der Erinnerung an Völkermord und Menschheitsverbrechen insgesamt so geringe Beachtung finden, ist wohl doch eine analytische Schwäche des Konzepts.
Auf ein ganz anderes Defizit des hier unternommenen Erinnerns an den Zweiten Weltkrieg verweist eine andere wichtige Neuerscheinung: “Mythen der Nationen” ist ein durch und durch eurozentrischer Blick auf den Krieg, der doch zu Recht “Weltkrieg” heißt. Erstmals hat nun nach jahrelanger Recherche ein Autorenkollektiv eine umfassende Bestandsaufnahme der Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs noch auf die entferntesten Bevölkerungsgruppen der Teile der Welt, die einige Zeit später die “Dritte” genannt werden würde, vorgelegt. “Unsere Opfer zählen nicht” ist diese umfassende, unter anderem auf zahlreiche Zeitzeugen zurückgreifende Anklage überschrieben. Chinesen und Inder, Senegalesen und Kenianer, Südseebewohner und Lateinamerikaner, kaum ein Land der “Dritten Welt” das nicht Soldaten oder Hilfspersonal für die Heere der großen kriegführenden Parteien zu stellen hatte. Und zu den Opfern mörderischer Kriegsführung gehörten nicht nur die Zivilbevölkerung Europas. Dass auch Italien in Abessinien mit Giftgas, Bombardierungen und Massenhinrichtungen “Krieg” gegen die einheimische Bevölkerung führte, wird bis heute weitgehend verdrängt. Und auch das offizielle Japan hat bis heute größte Schwierigkeiten, die Massaker der japanischen Armeen vor und während des Zweiten Weltkriegs in China, Korea und ganz Südostasien und den pazifischen Inseln anzuerkennen. Im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit sind die an den Völkern der Dritten Welt begangenen Grausamkeiten bis heute kaum präsent. Schon deswegen ist dieses Buch überfällig.
Es zeigt aber nicht nur das vergessene Leid in oft eindrucksvoller Weise auf. Die Autoren machen deutlich, wie die in “Mythen der Nationen” angesprochenen Widersprüche auch in der Dritten Welt zu finden waren. Der Kampf gegen die Kolonialherrschaft ließ manche Freiheitskämpfer Nazis und Japaner als willkommene Befreier betrachten, während andere mit der Beteiligung an dem europäischen Krieg auf Seiten der Alliierten die Hoffnung verbanden, auf dem Weg über die Uniform auch im zivilen Leben endlich Gleichberechtigung zu erhalten. Belohnt wurden weder die einen noch die andern. Bei den Sympathisanten der Achsenmächte wurde ihr Anliegen deskreditiert, auch wenn sie nicht in ihrer pronazistischen Haltung verharrten wie manche Vertreter nahöstlicher Regime. Und die tapferen Soldaten der alliierten Befreiungsarmen wurden schnell wieder auf ihren kolonialen Status zurückgestutzt, wenn sie die mörderischen Kämpfe überlebt hatten, wie etwa der Rest der neuseeländischen Maoris, die in Griechenland, Nordafrika und Monte Cassino ihr Leben retten konnten.
In vielen Territorien der “Dritten Welt” ging der Zweite Weltkrieg nach 1945 weiter. Die Kolonialmächte versuchten, die Zügel in ihren Herrschaftsgebieten wieder anzuziehen, die sie um der Loyalität der Einheimischen willen oder wegen der Kriegsereignisse nicht mehr so fest wie früher in der Hand hatten. Der sich abzeichnende Kalte Krieg war vor allem in Asien und Ozeanien sehr schnell wieder ein heißer. Massaker und Deportationen gingen in Korea, Indochina und anderswo bald weiter, und wieder wurden Soldaten aus den verschiedensten Ländern auch der Dritten Welt für die neuen Kriege rekrutiert. Es ist ein Verdienst des Buches, dass es auch auf diese Kontinuitäten hinweist, die das Ende des Zweiten Weltkriegs für viele Teile der Welt keineswegs zu der Zäsur machten, wie wir sie in Europa erinnern.
Die Fülle des aus oft entlegenen Quellen zusammengetragenen Materials an Zeugnissen von Veteranen, Kriegsopfern und andern Zeitzeugen ist ebenso eindrucksvoll wie das Bildmaterial, das in Archiven der ganzen Welt gesammelt wurde. Eine kommentierte Auswahlbibliografie ermöglicht das Weiterbohren an Stellen, die einen besonders interessieren, und ein Index ermöglicht das gezielte Aufsuchen bestimmter Ereignisse. “Unsere Opfer zählen nicht” ist eine Pionierarbeit, die hoffentlich weitere historische Forschungen zu diesem umfangreichen Themenfeld anregt. Dass es trotz seines Umfangs, eines nicht gerade modischen Themas und der Publikation in einem kleinen Verlag ohne Werbeetat auf die Sachbuch-Bestenliste gelangte, macht Hoffnung.
Rainer Huhle