Vertreibung der Deutschen 1945 als Menschenrechtsthema?

25. Juni 2007 | Von | Kategorie: Rezensionen

Buchbesprechung: Micha Brumlik

“Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen”, erschienen 2006 im Aufbau-Verlag, 300 S.

Mit dem ZDF-Film über die Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen in diesem Frühjahr erreichte die öffentliche und private Erinnerung eine große Übereinstimmung, ein Ziel, das die offizielle Erinnerungspolitik mit ihrer Thematisierung fremden, oft von deutscher Politik verursachten Leides selten erreicht. Immer stärker werden inzwischen “deutsche Leidensgeschichten” ins Bild gerückt. Hier mag ein vielleicht nachvollziehbarer Nachholbedarf wirksam werden. Soll dabei allerdings die Perspektive des “Zentrums gegen Vertreibungen” eingenommen werden, die im Kern darin besteht, die Vertreibungen in die Kette der Völkermorde des 20. Jahrhunderts einzureihen? Einen umfassenden Beitrag zu dieser Frage hat der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik, vorgelegt.

“Eine Streitschrift für eine verantwortungsvolle Erinnerungskultur”

Die Katastrophe, die über die Deutschen in den “ehemaligen Ostgebieten ab dem Winter 1945 hereinbrach, ist inzwischen nicht mehr nur als private oder nur von den Vertriebenen-Verbänden zelebrierte Erinnerung in Deutschland präsent. Unter den Linksintellektuellen hat der Politikwissenschaftler Claus Leggewie den Mut gehabt, den deutschen Opfern gegenüber Mitleid zu zeigen (“Nachgetragenes Mitleid”, Steidl-Verlag 1994). Inzwischen hat die öffentliche Repräsentation der Erinnerung und Trauer durch drei Entwicklungen eine Zuspitzung erfahren:

  • durch eine Erinnerungspolitik, die das Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin betreibt,
  • durch die Rückkehr der Politik “ethnischer Säuberungen” nach Europa in den jugoslawischen Bürgerkriegen
  • und durch die auf Dauer doch nicht abweisbare Frage nach dem Unterschied zu Flucht und Vertreibung der Deutschen ab dem Winter 1945 aus der Tschechoslowakei und Polen einerseits und der Vertreibung der Palästinenser 1947/48 andrerseits.

Für Micha Brumlik ist die Frage nach einer für alle vertretbaren, an universalistischen Maßstäben orientierten Erinnerungsmoral in Deutschland auch eine existenzielle Frage. Der in Frankfurt lebende Publizist und Wissenschaftler wurde 1944 in der Schweiz geboren, wo seine aus Hessen stammenden Eltern ein Asyl-Heim leiteten. Er wuchs in Frankfurt auf, versuchte in den 60er Jahren in Israel zu leben und kehrte danach nach Deutschland zurück. In der Folge der Studentenbewegung wurde er als Schüler des Pädagogen Klaus Mollenhauer und als Autor in der sozialistischen Zeitschrift “links” bekannt. Nach seinem autobiografischen Text “Kein Weg als Deutscher und Jude” verbietet sich ausdrücklich das Etikett “Deutscher Jude”. Seine Anstrengungen richten sich auf die Überwindung einer partikular-nationalen Identität in Deutschland hin zu einer an Menschenrechten orientierten Moral. Dieses Ziel hat Brumlik auch als Leiter des Frankfurter “Fritz-Bauer-Instituts zur Erforschung des Holocaust” verfolgt (2000 – 2005). Zur Theorie und Praxis der Menschenrechtsbildung in Deutschland liegt von ihm das Buch “Aus Katastrophen lernen?” vor.

Der Autor geht vom Trauma vieler Deutscher durch Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung aus und betont, dass nach heutigen menschenrechtlichen Kriterien die Vertreibungspraxis verbrecherisch war. Aber war sie ein Völkermord? Kann sie in die Völkermord-Genealogie, vergleichbar dem Genozid an den Armeniern 1915, eingeordnet werden?

Mit ihren Antworten positioniert sich Brumliks Streitschrift in der Auseinandersetzung um das Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin. Sie kann auch als Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Vertriebenenverbände, insbesondere auch mit seiner Frankfurter Mitbürgerin Erika Steinbach gelesen werden. Dazu ist erst einmal eine saubere und differenzierte Darstellung der historischen Entwicklung nötig. Wer sich diesen Aspekt der deutschen Politikplanung noch nicht so genau vergegenwärtigt hat, erfährt Detailliertes über die in Angriff genommene völkische Raumordungspolitik, die verschiedenen Phasen der “Umsiedlungspolitik” der Alliierten und der polnischen und tschechischen Regierung, aber auch über die Illoyalität der Sudentendeutschen in der Zwischenkriegszeit gegenüber der jungen Tschechoslowakei. Brumlik nutzt neben den bekannten Quellen (Götz Aly, Alfred M. de Zayas) amerikanische und britische Autoren, aber auch aktuelle Einschätzungen wie die des jüngst verstorbenen Peter Glotz, der ja aus Eger stammte.

Mit Blick auf diese Vorgeschichte und angesichts der Konstellation der Nachkriegszeit hat – so Brumlik – “das geforderte Recht auf Heimat niemals eine rationale politische Form gefunden”. Mit deutlicher Kritik begegnet Brumlik dem erinnerungspolitischen Konstrukt, mit dem Erika Steinbach das “Zentrum gegen Vertreibungen” legitimiert. In “missbräuchlicher Verwendung der vergleichenden Genozidforschung” wird die Flucht und Vertreibung der Deutschen in eine Reihe mit dem Völkermord an den Armeniern gestellt, wo doch die eine in Vernichtung, die andere im zumindest sicheren und freien Westen endete. Die Inanspruchnahme von Völkerrecht und Menschenrechten dient dabei einer unmerklichen Verschiebung: Der Erinnerung an die Opfer deutscher Völkermordpolitik wird ein anderer Völkermord an die Seite gestellt: die Menschen, die als Deutsche vertrieben wurden, seien selbst Opfer eines Völkermordes geworden. Erika Steinbach behauptet zum Beispiel in einer Rede zum 3. Oktober 2004, dass während der Verhandlungen vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal wegen Deportation und Zwangsarbeit “nahezu zeitgleich die gleichen Verbrechen ein weiteres Mal in Mittel, -Ost- und Südeuropa stattfanden”. Brumlik hält gegen Steinbach aber um der historischen Wahrheit willen, trotz aller Empathie für die deutschen Opfer der grausamen Menschenrechtsverletzungen daran fest, dass hinter der Vertreibungspolitik nicht das Ziel einer systematischen Vernichtung stand und dass es einen Unterschied macht, ob die Züge in Sachsen und Bayern oder in einem Vernichtungslager zum Stehen kamen.

Nach dem Jahrhundert von Völkermord und Vertreibung, angesichts der “kulturindustriellen Globalisierung des Holocaust” (Brumlik) und der Frage nach einer gemeinsamen europäischen Gedenkkultur, aber auch in menschenrechtspolitischer Hinsicht hält Brumlik eine “Theorie des Völkermordes” für unerlässlich. Sie sollte ihren Ausgangspunkt bei Rafael Lemkin nehmen, der sich seit Beginn der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts um eine “begriffliche Klärung und politisch-strafrechtliche Ahndung des Genozid” bemüht hat. (Nach Lemkin, einem polnischen Juden, der in die USA emigrierte, ist das “Zentrum für Genozidforschung” in Bremen benannt. Brumlik widmet ein Kapitel seines Buches der Geschichte der Völkermord-Verbrechen der Nachkriegsgeschichte. Auch wenn Genozide nicht mehr an zwischenstaatliche Konflikte gebunden sind – eine Entwicklung, die Lemkin betont – werden sie doch durch Kriege verschärft oder im Schatten von Kriegen begangen. Bewaffneter menschenrechtlicher Interventionismus angesichts von Völkermorden hat in dieser Sicht auch regelmäßig zu Konflikt-Verschärfung, zur Vertreibung und zur Brutalisierung von ethnischen Konflikten beigetragen.

Wie sollen wir uns heute der Opfer von Völkermord in Deutschland erinnern? Brumlik nähert sich der Frage, indem er die Rede untersucht, die Ralph Giordano (“Die zweite Schuld”) 2002 auf dem Berliner Vertriebenen-Treffen hielt. Dessen Überlegungen gehen von der zentralen Unterscheidung zwischen Trauer einerseits und Anteilnahme andrerseits aus. Giordano versicherte den Vertriebenen seine Anteilnahme und seinen Respekt, aber authentisch trauern über Leid und Tod lässt sich nur gegenüber Menschen, die einem nahe standen und die man kannte. “Giordanos bedeutende Einsicht besteht in der Erkenntnis, dass die moralisch gebotene und politisch sinnvolle Empathie andrer Natur ist als jene Empathie, die wir mit unsern Nächsten, mit Kindern, Freunden und Verwandten empfinden.” Die Gleichsetzung von Anteilnahme und Respekt mit Trauer war und ist für Brumlik dagegen ein falsch tönender “basso ostinato der deutschen Gedenkkultur”.

“Die Vertreibung der Deutschen und das palästinensische Flüchtlingsproblem”: Brumlik scheut sich nicht vor der Verknüpfung der Fragestellung, die meist in polemisch-antiisraelischer Absicht formuliert wird. Ihm sind dabei drei Punkte wichtig:

  1. Zentral für die Konfliktlösung ist eine Klärung des Rückkehrrechts. Dazu muss Israel eingestehen, dass es in der Gründungsphase des Staates eine Art Masterplan des Generalstabs für die Vertreibung der Palästinenser gab. Brumlik nennt diese Politik “ethnische Säuberung”.
  2. Als nicht unbedingt besonders moralische, aber klare rechtliche Lösung betrachtet Brumlik die in der Genfer Initiative von 2005 entwickelte Perspektive: “Neu und Bahn brechend ist, wie die Problematik der Wahl des ständigen Wohnortes der Flüchtlinge behandelt wird.” Der in diesem Zusammenhang sinnlose Begriff des “Rechtes auf Heimkehr” wird vermieden, denn er gälte ja nur für die Kinder und Enkelkinder, die ihre Heimat, wenn überhaupt, woanders haben. Ich will diesen Punkt des Genfer Vorschlags mit einem längeren Zitat Brumliks vorstellen:
  3. “Der Entwurf unterscheidet fünf Kategorien von Ländern, bezüglich derer die Flüchtlinge und ihre – so muss man wohl sagen – nachgeborenen Familien unterschiedlich verbürgte Ansprüche haben…. Während das Wohnrecht in Palästina und in den durch Landtausch mit Israel hinzugekommenen Territorien unbedingt gilt, unterliegt die Wahrnehmung des Rechts auf einen Dauerwohnsitz in Bezug auf gegenwärtige Aufenthaltsländer (Israels Nachbarländer, also Drittländer von Marokko bis Kuwait und den Emiraten) sowie in Israel selbst dem souveränen Ermessen dieser Länder. Israel wird also wie ein Drittland behandelt, dessen souveränem Ermessen es unterliegt, wie viele Flüchtlinge es repatriiert. Der Clou des Vorschlages ist, dass eine Internationale Kommission darüber wacht, dass das dauernde Bleiberecht an eine festgelegte Repatriierungsquote gebunden ist: Israel nimmt in Relation zu den anderen arabischen Ländern auf.”

  4. Wer in diesem Konflikt das Symbol arabischer Erniedrigung durch den Westen schlechthin sieht, denkt ideologisch und sieht die realen Probleme der arabischen Länder nicht:

Entwicklungsprobleme und reales Demokratiedefizit, gewaltiges Bevölkerungswachstum und defizitäre Bildungssysteme, ungenügend entwickelte Zivilgesellschaften, Abhängigkeit der Volkswirtschaften vom Öl, ungenügend entwickelte Landwirtschaft: All das hat nicht das Mindeste mit dem Palästinakonflikt zu tun. Ein Beitrag zur Lösung des Palästinaproblems wäre also eine Ent-Ideologisierung der arabischen Politik.

von Otto Böhm

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