von Rainer Huhle von Rainer Huhle
Ein Foto macht Geschichte – manchmal mehr als alle geschriebenen Worte. Das Foto, das Eleanor mit einem Plakat der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zeigt, hat zweifellos Geschichte gemacht, es dürfte zu den verbreitetsten Fotografien des 20. Jahrhunderts gehören. Aber was für eine Geschichte erzählt es? Für die meisten Menschen wohl diejenige von der „Mutter der Menschenrechtserklärung“, die stolz ihr Baby zeigt. Nur, wie wahr ist diese Geschichte?
Betrachten wir zuerst die Geschichte des Fotos selbst. Darüber ist erstaunlich wenig bekannt, nur dass es im November 1949, also fast ein Jahr nach der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung, in Lake Success, dem damaligen New Yorker UN-Sitz aufgenommen wurde. Eleanor Roosevelt zeigt darauf ein neues Plakat der Erklärung, das damals von der UNO in Englisch, Spanisch und Französisch gedruckt worden war. Tatsächlich gibt es zwei fast identische Fotos, auf denen sie das englische und das spanische Plakat zeigt. Das Foto ist also ein PR-Foto, das mit durchschlagendem Erfolg – es kommt uns ja bis heute in Tausenden von Broschüren und Webseiten entgegen – die Person Eleanor Roosevelt mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verknüpft.
Was war nun die Rolle, die Eleanor Roosevelt bei der Entstehung dieser Erklärung tatsächlich spielte? Anfang 1947 war Eleanor Roosevelt einstimmig auf der ersten Sitzung der UN-Menschenrechtskommission zu deren Vorsitzender gewählt worden. Diese Wahl schien fast selbstverständlich. Eleanor Roosevelt genoss als Witwe des 1945 verstorbenen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, aber auch als bekannte Journalistin großes Ansehen in aller Welt. Die USA, vor allem aber Präsident Roosevelt selbst waren es gewesen, die die Idee der Menschenrechte seit 1941 nachdrücklich in die Debatten um die Gestaltung einer neuen Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg hineingetragen hatten. Zwar hatte Eleanor nie irgendeine diplomatische Funktion in der Regierung ihres Mannes innegehabt. Aber ihre Rolle als publizistische Vorreiterin der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, gelegentlich auch gegen den Willen ihres Präsidentengatten, hatten ihr eine große Glaubwürdigkeit als Vertreterin des progressiven Amerika eingebracht.
Gerade deshalb war sie den Berufsdiplomaten der neuen Regierung Truman zunächst verdächtig. Doch schnell erwies sich, dass Eleanor Roosevelt auch als Diplomatin großes Geschick entfaltete. Als Präsidentin der neuen Menschenrechtskommission, deren Aufgaben noch keineswegs klar definiert waren, musste sie eine höchst heterogene Gruppe von Persönlichkeiten aus allen Kontinenten zu gemeinsamer Arbeit zusammenführen. Wie zahlreiche Kommissionsmitglieder bezeugten, tat sie dies mit großem persönlichen Einsatz und Geschick. Immer wieder gelang es ihr, gegensätzliche Positionen in persönlichen Gesprächen zu einem Ausgleich zu bringen. Zu Recht sehen viele zeitgenössische Beobachter darin ihre große Leistung. Wesentliche inhaltliche Impulse für die Formulierung der Menschenrechte kamen von ihr dagegen nicht.
Zugleich aber war sie an die politischen Vorgaben des amerikanischen Außenministeriums gebunden. Und die bewegten sich langsam aber stetig weg von den Idealen, die Präsident Roosevelt während des Krieges proklamiert hatte. Franklin D. Roosevelt hatte die wirtschaftlichen und sozialen Rechte, seine berühmte „Freedom from Want“ als einen Eckpfeiler seiner Politik betrachtet. Wenn sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ebenfalls proklamiert wurden – zum ersten Mal in einer Menschenrechtserklärung – dann jedoch nicht mehr dank des US-amerikanischen Einflusses. Im Gegenteil, die amerikanische Delegation wehrte sich dagegen, diesen Rechten irgendeine Verbindlichkeit zuzuschreiben. Eleanor Roosevelt bestand darauf sogar noch in ihrer Rede auf der Generalversammlung während der Schlussdebatte über die Erklärung: „Meine Regierung hat im Lauf der Arbeit an der Erklärung keinen Zweifel daran gelassen, dass nach ihrer Ansicht die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, die in dieser Erklärung statuiert sind, keinerlei Verpflichtung für eine Regierung bedeuten, den Genuss dieser Rechte durch direktes Regierungshandeln zu sichern.“
Eleanor Roosevelt führte auch Regie, als es darum ging, die Mitglieder der Kommission zu überzeugen, dass ihre Arbeit sich zunächst auf die Erarbeitung einer Menschenrechtserklärung beschränken sollte. Dabei war der Auftrag an die Kommission weit umfassender: Sie sollte den Menschenrechten auch eine völkerrechtlich verbindliche Grundlage schaffen und außerdem Mechanismen zu deren Durchsetzung entwerfen. In der Ablehnung solch weitgehender Eingriffsmöglichkeiten in innere Angelegenheiten war sich die amerikanische Delegation mit ihrem ideologischen Hauptgegner, den Delegierten des Ostblocks einig, mit denen in anderen Fragen gerade Eleanor Roosevelt öfters heftig zusammenstieß. Noch an dem Tag, an dem die Erklärung verabschiedet wurde, hielt sie es für angebracht, diesen diplomatischen Triumph über die Wünsche vor allem kleinerer Staaten in aller Deutlichkeit festzuhalten: „Wenn wir der Erklärung heute zustimmen, dann ist es von größter Wichtigkeit, sich den Charakter dieses Dokuments klar vor Augen zu halten: Sie ist kein Vertrag; sie ist kein internationales Abkommen. Sie ist kein Gesetzesdokument und will es nicht sein, und sie bedeutet keinerlei rechtliche Verpflichtung. Sie ist eine Erklärung von Grundsätzen über menschliche Rechte und Freiheiten, [“¦] ein von allen Völkern und Nationen zu erreichendes gemeinsames Ideal.“
Eleanor Roosevelt war seit den dreißiger Jahren der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen eng verbunden. Während ihr Mann zwar auch einiges für die soziale Besserstellung der Schwarzen tat, es aber sorgfältig vermied, sich mit dem rassistischen Establishment vor allem der Südstaaten anzulegen, stellte sich Eleanor auch öffentlich an die Seite der Bürgerrechtsbewegung. In zahlreichen Artikeln verurteilte sie den immer noch weit verbreiteten Rassismus als unvereinbar mit den amerikanischen Idealen, was dem Präsidenten nicht selten Schwierigkeiten machte. Während des Zweiten Weltkriegs gewann die schwarze Bürgerrechtsbewegung an Selbstbewusstsein, und der eigene Rassismus unterminierte die Glaubwürdigkeit der USA als Führungsmacht im Kampf gegen den Rassismus der Nazis. Eleanor Roosevelt positionierte sich immer deutlicher, und nach dem Tod ihres Mannes, als sie keine Rücksicht mehr auf ihre Rolle als First Lady nehmen musste, trat sie sogar in das Präsidium der NAACP, der profiliertesten schwarzen Bürgerrechtsorganisation ein und nahm an verschiedenen politischen und juristischen Aktionen gegen die „Rassen“trennung teil.
Mit diesem Hintergrund war sie für die Bürgerrechtsbewegung zu Hause wie für die Weltöffentlichkeit die ideale Besetzung, um der amerikanischen Menschenrechtspolitik in der UNO Glaubwürdigkeit zu verleihen. Doch die Realität sollte sie bald einholen. Für viele Bürgerrechtler war mit der UNO-Gründung und erst recht mit der Errichtung der Menschenrechtskommission der Zeitpunkt gekommen, den Kampf gegen die rassistische Diskriminierung auf die internationale Bühne zu tragen. Der intellektuelle Kopf der NAACP, W.E.B. Du Bois, legte im Oktober 1947 eine Denkschrift über die „Verweigerung der Menschenrechte der schwarzen Minderheit in den USA“ als „Appell an die Vereinten Nationen um Abhilfe“ vor, in der er umfassend alle Aspekte der Diskriminierung bloßlegte.
Eleanor Roosevelt war zumindest zeitweise ebenfalls der Meinung, dass dieses Problem international auf den Tisch kommen müsse, zumal sich die Weltöffentlichkeit zunehmend dafür interessierte. Doch als das Thema in die Mühlen des Kalten Kriegs geriet, weigerte sie sich, es in die UN-Agenda zu bringen. Das Außenministerium wollte um jeden Preis verhindern, dass die Sowjetunion in der UNO eine Bühne bekäme, über „innere Probleme“ der USA zu debattieren. Eleanor Roosevelt teilte diese Auffassung und verhinderte effektiv, dass das Thema offiziell in den Vereinten Nationen debattiert wurde. Die Befürworter einer internationalen Diskussion wurden erfolgreich als Handlanger der Kommunisten gebrandmarkt, zugleich aber verstanden Eleanor Roosevelt und die Truman-Regierung, dass gegen die rechtliche und politische Diskriminierung in den USA auf Dauer etwas getan werden musste, wollten die USA ihr im Weltkrieg erworbenes Ansehen gerade auch in der Dritten Welt nicht vollständig verspielen. Doch auf der internationalen Ebene stellte Eleanor Roosevelt hier eindeutig die amerikanische Staatsraison über die Verteidigung der Menschenrechte.
Ambivalent war auch Eleanor Roosevelts Verhältnis zur Frauenbewegung. Einerseits war sie die bis dahin bedeutendste und bekannteste Frau in Amerikas öffentlichem Leben, die als Journalistin und Aktivistin auf eigenen Füßen stand. Dass Frauen die gleichen Rechte wie Männer haben sollten, war ihr von daher selbstverständlich. Vielleicht lag es aber gerade daran, dass sie wenig hielt von feministischen Forderungen. Frauenrechte waren für sie eher ein Teil des allgemeinen Kampfs um soziale Gerechtigkeit und gegen Diskriminierung. An positiven Aktionen speziell für Frauen nahm sie wenig Anteil, und auch das Bemühen um die sprachliche Genderneutralität der Allgemeinen Erklärung interessierte sie kaum. Nicht Eleanor Roosevelt, sondern andere Frauen aus kleinen Ländern waren es, die schließlich durchsetzten, dass wir heute von „human rights“ sprechen und nicht mehr von „rights of man“. Ihr letztes öffentliches Amt allerdings war der Vorsitz in Präsident Kennedys Frauenkommission.
Eleanor Roosevelts Engagement für die Menschenrechte und speziell für die Allgemeine Erklärung war trotz aller Kompromisse tief empfunden. Unter Truman sah sie genügend politischen Willen, tatsächlich etwas für die Verbesserung der Menschenrechte und für ihre weltweite Verbreitung zu erreichen. Als aber ab 1953 unter Präsident Eisenhower und Außenminister Dulles die republikanischen Hardliner endgültig die Außenpolitik bestimmten, trat Eleanor Roosevelt von ihrem Posten zurück. Die folgenden Jahre verbrachte sie nicht zuletzt auf Reisen in zahlreiche Länder der Welt, nicht mehr im Auftrag des Außenministeriums, sondern als „Amerikas beste Botschafterin“, als Repräsentantin eines anderen Amerika, das sie doch als das eigentliche sehen wollte. Auch nach dem Ausscheiden aus Regierungsdiensten blieb Eleanor Roosevelt überzeugt, dass man den Vertretern des Ostblocks und Kommunisten nicht trauen und mit ihnen nicht zusammenarbeiten könne. Zugleich aber hielt sie auch während der schlimmen Jahre der Hetzjagd von Senator McCarthy ihren liberalen Prinzipien die Treue. Während andere auf Distanz zu ihren „verdächtigen“ Freunden gingen, stellte sich Eleanor Roosevelt mehrmals demonstrativ und öffentlich an deren Seite.
In ihren letzten Lebensjahren, als über Siebzigjährige, widmete sie sich noch einmal mit aller Kraft dem Kampf um die Bürgerrechte der Schwarzen. Angesichts des Versagens der offiziellen Politik stand sie nicht an, sich mit den Aktionen zivilen Ungehorsams zu solidarisieren, die ab 1960 die Südstaaten in Bewegung brachtenund schließlich zur Aufhebung der „Rassen“trennung führten. Öffentlich rief sie immer wieder zur Unterstützung der Bürgerrechtsaktivisten auf, nahm an Untersuchungskommissionen über Polizeigewalt und korrupte Richter teil, und ihre Kritik an der Untätigkeit der Politiker wurde lauter. „Das ist die gleiche Art, wie die Nazis mit den Juden umgingen“, klagte sie kurz vor ihrem Tod. In das Fernsehprogramm, das sie noch immer leitete, lud sie Martin Luther King ein. Doch ehe es aufgenommen werden konnte, erlag Eleanor Roosevelt ihrer Krankheit, die sie schon länger gezeichnet hatte. In ihrem nachgelassenen Buch „Tomorrow is Now“ schrieb sie: „Beiseite stehen ist keine Lösung, sondern einfach Feigheit.“