von Rainer Huhle
Wie bei so vielen anderen, die ab 1945 in den Vereinten Nationen tätig wurden, kam diese Wendung in seiner Karriere auch für den chilenischen Juristen Hernán Santa Cruz überraschend. Er selbst sprach in seinen Memoiren, die er als fast Achtzigjähriger veröffentlichte, von dieser Periode als seinem „zweiten Leben“. Seit seinem siebzehnten Lebensjahr war er – schon neben seinem Jurastudium – in der Militärjustiz seines Landes tätig gewesen, später als Berufungsrichter am Militärgerichtshof in Santiago und als Dozent an der Polizeihochschule. In den vierziger Jahren leitete er zeitweise das chilenisch-brasilianische Kulturinstitut in Rio de Janeiro, wo er Freundschaft schloss mit Gabriel González Videla, dem prominenten Politiker der Radikalen Partei, der damals chilenischer Botschafter in Brasilien war. González Videla nahm dann 1945 als Mitglied der chilenischen Delegation an der Gründungskonferenz der UNO teil, und als er im September 1946 Präsident Chiles wurde, erinnerte er sich seines Freundes Santa Cruz und machte ihn zum ersten Botschafter Chiles bei den Vereinten Nationen.
In dieser Eigenschaft wurde Santa Cruz Anfang 1947 in die neu gegründete, aus 18 Delegierten bestehende Menschenrechtskommission gewählt. Um die Arbeit an der Menschenrechtserklärung (und dem gleichzeitig geplanten Menschenrechtspakt) voranzubringen, bildete die Menschenrechtskommission im Sommer 1947 ein Redaktionskomitee aus acht Mitgliedern. Diesem kleinen einflussreichen Gremium gehörte auch Hernán Santa Cruz an. Der chilenische Entwurf war einer der wenigen, die zu diesem frühen Zeitpunkt vorgelegt wurden. Die Sitzungsprotokolle und Berichte verschiedener Kollegen belegen, dass Santa Cruz auch in der Diskussion immer wieder wichtige Themen einbrachte, etwa schon bei der Formulierung des grundlegenden Rechts auf Leben. Er wollte, dass die UNO klar gegen die Todesstrafe und die Folter Stellung bezog.
Schon sehr früh auch drängte Santa Cruz auf die gleichwertige Behandlung der wirtschaftlichen und sozialen mit den politischen Rechten. Sein einleuchtendes Argument, das bis heute noch nicht allgemein nachvollzogen worden ist, kleidete er u.a. in einen Satz für die Präambel der Erklärung. „Um die fundamentalen Freiheiten zu genießen, müssen die Menschen biologisch und wirtschaftlich vor sozialer Unsicherheit geschützt werden.“ Aus seiner Sicht war es gerade auch die Garantie der wirtschaftlichen und sozialen Rechte, die eine Wiederkehr des Faschismus verhindern könnten. Santa Cruz war nicht der einzige, der sich für die Verankerung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte in der Menschenrechtscharta einsetzte. Etliche andere lateinamerikanische Staaten, aber auch z.B. Frankreich, Australien, Neuseeland und andere „kleine“ Staaten unterstützten diese Erweiterung des klassischen Menschenrechtskatalogs, nachdem die USA immer mehr Bedenken gegen diese ursprünglich von Präsident Roosevelt formulierten Rechte vorbrachten. Doch die Zeitgenossen stimmen in ihren Erinnerungen darin überein, dass niemand sich die WSK-Rechte so hartnäckig auf die Fahnen schrieb wie Hernán Santa Cruz.
In seiner Rede auf der Vollversammlung am 9. Dezember 1948 bei der Schlussdebatte über die Allgemeine Erklärung hob Santa Cruz die Punkte hervor, die aus seiner Sicht Neuland bedeuteten und entscheidend für den Wert dieser Erklärung waren. Für ihn waren das der Artikel 3, der das Recht auf Leben, Freiheit und persönliche Sicherheit proklamiert, Art. 22, der diese Sicherheit als Anspruch auf soziale Sicherung und auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte definiert, und Art. 28, der diese Rechte in den Kontext eines Anspruchs auf eine soziale internationale Ordnung stellt, die diese Rechte auch garantieren kann.
Dass die „internationale Ordnung“, also in erster Linie die UNO selbst, in der Menschenrechtserklärung als „soziale und internationale Ordnung“ definiert wird, findet heute kaum noch Beachtung, ebenso wenig wie der Gedanke, dass das Recht auf Leben auch eine soziale Bedeutung hat. Für Santa Cruz und viele seiner MitstreiterInnen war jedoch gerade dieser Zusammenhang entscheidend. Santa Cruz jedenfalls widmete seine weitere berufliche Laufbahn im Rahmen der UNO in erster Linie der Arbeit an dieser internationalen Ordnung, die allen Menschen die Grundlagen für ein würdiges Leben in sozialer Sicherheit garantieren sollte.
Den ersten Vorstoß für eine solche internationale Ordnung unternahm Santa Cruz parallel zu seiner Arbeit in der Menschenrechtskommission bereits ab Mitte 1947, als er im Rahmen des Wirtschafts- und Sozialrats der UNO (ECOSOC) die Gründung einer regionalen Wirtschaftskommission für Lateinamerika betrieb. Dank seinem Verhandlungsgeschick wurde sie bereits im Februar 1948 tatsächlich gegründet, mit Sitz in Santiago de Chile. Diese CEPAL sollte in den kommenden Jahren eine führende Rolle in der Diskussion um die internationale Entwicklungspolitik spielen.
Santa Cruz selbst wechselte 1953 vom diplomatischen Dienst Chiles in die UNO und arbeitete von dort aus an der Umsetzung der wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte. Sein besonderes Augenmerk galt bald dem Recht auf Nahrung und der daran orientierten Entwicklungspolitik. Der 2. Absatz des Art. 11 des Pakts über wirtschaftliche und soziale Rechte, in dem das „Recht eines jeden, vor Hunger geschützt zu sein“ proklamiert wird und die Staaten aufgefordert werden, konkrete politische Maßnahmen zur Verwirklichung dieses Rechts zu ergreifen, trägt Santa Cruz‘ Handschrift. Ab 1958 begann er dann, in der FAO, der UN-Organisation für Nahrungsmittel und Landwirtschaft zu arbeiten, wo er Regionaldirektor für Lateinamerika und bald auch Subdirektor der Gesamtorganisation wurde. Die FAO blieb der zentrale Bezugspunkt seiner Arbeit in den Vereinten Nationen bis zum Ruhestand 1984. Daneben war er praktisch in allen Bereichen der UN tätig, in denen es um Sozialpolitik, Entwicklungsprobleme und die Anliegen der Dritten Welt ging: UNCTAD, ILO, UNDP, Gruppe 77 oder die Bewegung der Blockfreien.
Das zweite große Thema von Santa Cruz in der UNO war der Kampf gegen den Rassismus. Ende 1952 wurde er zum Präsidenten der neu gegründeten UN-Kommission zur Untersuchung des südafrikanischen Apartheid-Systems (UNCORS) ernannt, die den Kampf der UNO gegen die Apartheid bis zu deren Ende 1994 einleitete. 1954 wurde Santa Cruz auch zum Mitglied der Unterkommission für die Verhütung von Diskriminierung und den Schutz von Minderheiten ernannt, der er insgesamt 20 Jahre angehörte. Zudem war er Sonderberichterstatter für rassistische Diskriminierung. Während dieser Zeit schrieb Santa Cruz zwei wegweisende Berichte über diese Frage. Als ihn die FAO, die CEPAL und die anderen UN-Institutionen in den Ruhestand verabschiedeten, wurde er als eine der großen Persönlichkeiten gefeiert, die das menschenrechtliche Gesicht der UNO geprägt hatten.
Nur in seinem Heimatland Chile ist das Bild von Santa Cruz etwas zwiespältiger. Während die Regierung bei seinem Tod 1999 seine großen Verdienste vor allem im Zusammenhang mit der Gründung von CEPAL und auch seine persönliche Freundschaft mit Salvador Allende hervorhob, erinnerten sich andere daran, dass von Santa Cruz während der Zeit der Pinochet-Diktatur kaum etwas zu hören war, obgleich er zu den Mitgliedern der „Academia de Humanismo Cristiano“ und der Chilenischen Menschenrechtskommission gehörte, zwei Vereinigungen, die den menschenrechtlichen Widerstand gegen die Diktatur mittrugen. Die Älteren dachten wohl auch noch an die Zeit, als Santa Cruz‘ Freund und Förderer Gabriel González Videla Präsident war. González Videla war 1946 an der Spitze einer Koalition aus seiner Radikalen Partei, Liberalen und Kommunisten an die Regierung gekommen. Diese „Volksfront“ zerbrach, als 1947 die Kommunisten eine Serie von Streiks der Bergarbeiter in verschiedenen Landesteilen unterstützten. González Videla warf die Kommunisten nicht nur aus der Regierung, er verbot die Partei, nahm ihren führenden Vertretern die bürgerlichen Rechte und internierte sie sowie die Gewerkschaftsführer in Lagern in entlegenen Wüstengebieten. Andere, wie Pablo Neruda, mussten ins Ausland fliehen. Auch international vollzog González Videla eine radikale Wende. War er noch 1945 bei der UNO-Gründung Teil einer chilenischen Delegation gewesen, der als einziger auch kommunistische Delegierte angehörten, darunter der Generalsekretär der KP Chiles, so setzte sich González Videla als Präsident nun in Lateinamerika an die Spitze der antikommunistischen Bewegung, die den Kalten Krieg endgültig auf den Kontinent brachte.
Auch in der UNO focht Santa Cruz einige harte Auseinandersetzungen mit den Vertretern der kommunistischen Staaten aus. Mit Entschiedenheit setzte er sich für die von den Kommunisten gestürzte tschechoslowakische Regierung von Präsident Beneš ein, mit dessen Außenminister Masaryk ihn auch eine persönliche Freundschaft verband. Und ebenso entschieden focht er den Streit mit der sowjetischen Regierung aus, als diese sich weigerte, die russische Ehefrau eines chilenischen Diplomaten ausreisen zu lassen. Für Santa Cruz war dies eine eklatante Verletzung nicht nur der diplomatischen Regeln sondern auch der eben erst beschlossenen Menschenrechte z.B. auf freie Ausreise und auf Gründung einer Familie. Diese und andere Erfahrungen machten ihn zu einem entschiedenen Gegner der kommunistischen Politik und Ideologie.
Als dann Anfang 1949 der kommunistisch dominierte Weltgewerkschaftsbund und die Diplomaten des Ostblocks die Situation in Chile auch vor die UNO brachten, oblag es Santa Cruz als chilenischem Botschafter, die Position seiner Regierung zu vertreten. Er tat das nicht nur in Form einer Reihe von nachvollziehbaren Gegenangriffen, sondern auch mit Argumenten, in denen wenig von seinen in der UNO vertretenen menschenrechtlichen Positionen zu spüren war. Die Maßnahmen der Regierung seien „exemplarisch moderat“ gewesen. Das „Gesetz über die permanente Verteidigung der Demokratie“, das u.a. den Kommunisten das aktive und passive Wahlrecht nahm, sei ordentlich vom Parlament verabschiedet worden und daher demokratisch. Und in den Verbannungslagern in der Wüste, die längst aufgelöst seien, habe ein „beneidenswertes Klima“ geherrscht.
Die Unterdrückung der KP Chiles und die Zerschlagung der kommunistisch inspirierten Gewerkschaften rechtfertigte er damit, dass sie keine nationalen Interessen, sondern die einer ausländischen Macht vertrete. Er ließ es sich nicht nehmen, dabei sogar auf seine eigene Rede vor der Generalversammlung am 9.12.48 bei der Abstimmung über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu verweisen. Dort hatte er in der Tat erklärt, dass Gruppen, die den Befehlen fremder Mächte unterworfen seien, keine öffentlichen Ämter übernehmen könnten, weil die Demokratie auf nationaler Solidarität beruhe. Er hatte aber hinzugefügt, dass Versuche, dem Staat die Auslegung der proklamierten Menschenrechte zu überlassen, in den Debatten gescheitert seien, weil das auf die Proklamation „totalitärer Rechte des Staates“ hinauslaufe, während die Menschenrechte unveräußerlich seien. Diesen zweiten Teil erwähnte Santa Cruz bei seinem Rückblick allerdings nicht mehr.
So zeigt sich am Beispiel eines der verdienstvollsten Autoren der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, wie der Kalte Krieg und die Realitäten der politischen und sozialen Kämpfe in den einzelnen Nationen nicht nur die Realisierung der proklamierten Menschenrechte in Frage stellten, sondern schon sehr früh auch zu verhängnisvollen Uminterpretationen dieser so mühsam errungenen Rechte führten. Gerade in Lateinamerika, nicht nur in Chile, waren der Auftritt auf der internationalen Bühne der Vereinten Nationen und die tatsächliche Politik zu Hause von Anfang an meist zwei sehr verschiedene Dinge.