Die Menschenrechte werden bis heute ignoriert. Ein Buch über die Colonia Dignidad

14. Juni 2010 | Von | Kategorie: Rezensionen

Herman Schwember: Delirios e Indignidad – El Estéril Mundo de Paul Schäfer, Santiago, LOM, 2009

Mit Herman Schwembers Delirios e Indignidad: El Estéril Mundo de Paul Schäfer (Delirien und Unwürde : die sterile Welt Paul Schäfers, 2009 nach dem Tod des Autors veröffentlicht) liegt der erste umfassende Bericht über die innere Verfasstheit der deutschen Siedlung Colonia Dignidad in Chile vor. Niemand hatte zuvor so guten Zugang zu den Bewohnern der Siedlung. Schwember war ab 2005 eineinhalb Jahre lang Beauftragter der chilenischen Regierung für die Siedlung. Sein Mandat bestand darin, für die knapp 200 nach der Flucht des Sektenführers Paul Schäfer (1997) verbliebenen Bewohner, in der übergroßen Mehrzahl Opfer Schäfers, eine Lösung zu finden. Der deutsche und der chilenische Staat strebten an, diese Menschen in der nun Villa Baviera genannten Siedlung zu belassen und ihnen eine verlässliche Zukunftsperspektive zu bieten. Als Schwember sah, dass die chilenischen Behörden alle praktischen Vorschläge ignorieren oder sabotierten, trat er von seinem Amt zurück und schrieb Delirios e Indignidad. Es ist ein Buch voller Bitterkeit.

Schwember war während der Diktatur in Haft, wo er Mitgefangene hatte, von denen er vermutet, dass sie in die Colonia Dignidad gebracht wurden und dort „verschwanden“. Als Regierungsbeauftragter besuchte er die Siedlung, in der der chilenische Geheimdienst unter Pinochet ein Geheimgefängnis hatte, einmal in der Woche. Bei einem dieser Besuche durfte ich ihn begleiten und kann mich für seine Ernsthaftigkeit verbürgen.

Schwember lässt keinen Zweifel daran, dass die Schuldigen für Mord und Folter bestraft werden müssen. Aber er lernte auch bei langen und oft vertraulichen Gesprächen mit Siedlern deren Leidensgeschichte kennen. Jedes menschliche Leiden ist einzigartig. Aber im Falle der Colonia Dignidad drängt sich die Frage auf, in welcher Beziehung die auf dem Siedlungsgelände begangenen Folterungen und Morde an chilenischen politischen Gefangenen zu dem Psychoterror, dem sexuellen Missbrauch und den sonstigen Quälereien der Sektenmitglieder durch Schäfer und seine Führungsclique stehen. Beides hat miteinander zu tun. Die Sekte war durch die eingeübte gegenseitige Unterdrückung der Mitglieder für die Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst prädisponiert. Schwember fordert Gerechtigkeit für alle, Strafe für die Täter und Entschädigung für die Opfer. Einige der Täter sind bereits bestraft; längst nicht alle, Deutschland ist ein sicherer Hafen für Delikte, die nur in Chile geahndet werden können oder bei denen die Beweislage schwierig ist. Deutsche Täter, die noch in Chile wohnen, haben Haftverschonung oder profitieren von einer gesetzeswidrigen Kronzeugenreglung. Keines der Opfer ist bisher entschädigt worden.

Schäfer terrorisierte seine Sekte vierzig Jahre lang (das Gründungsjahrzehnt in Deutschland nicht mitgerechnet). Bis heute aber haben die chilenische und die deutsche Justiz nur äußerst magere Ergebnisse bei Strafverfolgung und Entschädigung erzielt. Wer immer über die Jahre das Verhalten der chilenischen Justiz in dieser Sache verfolgt hat, kann bei Schwembers wütenden Tiraden („keine Gerechtigkeit für niemanden“) über deren Komplizenschaft und Inkompetenz nur mit einem Seufzer zustimmen. Ganz offensichtlich gibt es, wenigstens in Chile, die politische Vorgabe, das Ganze dem Vergessen zu überlassen.

Schwember versucht, in Schäfers unvergleichlichen Verbrechen eine Logik zu finden. Ein Schlüssel ist der Missbrauch der Religion. Einen nationalsozialistischen Kern in Schäfers Ideologie finden hingegen weder Schwember noch irgendein anderer seriöser Autor zum Thema. Was in der Colonia Dignidad geschah, war weder konspirativ noch „das persönliche Programm eines Heruntergekommenen“ (denn das war Schäfer nach Ende des zweiten Weltkriegs). Schwember findet eine „Gewaltkultur als Teil der Gewohnheitsbeziehungen zwischen den Mitgliedern der Gemeinde“. Die Sieder waren „ein Haufen verschreckter Kranker, die mit dem Schrecken, in dem sie lebten, glücklich waren.“ Ihre Überlebensstrategien waren Heuchlerei und Oberflächlichkeit. Die richtige Antwort war die, die einem die wenigsten Schläge einbrachte; wer auffiel, gefährdete sich selbst. Schwember deutet an solchen Stellen an, dass die Colonia Dignidad als ein System funktionierte, an dem Unterdrücker und Unterdrückte aktiv mitarbeiteten.

Nach Schäfers Flucht 1997 und seiner Verhaftung in Argentinien 2005 entwickelte die bis dahin mit Zwang zusammengehaltene Sekte eine zentrifugale Dynamik. Da die Besitzverhältnisse unklar waren, begannen Verteilungskämpfe, die bis heute (2009) andauern. Wenn aber Druck von außen kommt – etwa durch juristische Schritte – halten alle wieder zusammen und halten sich an einen „Packt des Schweigens“.

Schwember referiert das, was über die Giftgasproduktion der Colonia Dignidad veröffentlicht ist[1] und fügt hinzu: „Tatsächlich“ kamen Laborgeräte und Chemikalien über Kontakte und Agenten der Colonia Dignidad (er nennt Wolff von Arnswaldt, Alfred Schaak, Albert Schreiber) in die Siedlung, wo sie verzollt, gelagert und montiert wurden. Von dort seien sie in ein Haus von Geheimdienstchef Contreras gebracht worden. Schwember erwähnt auch Beispiele von Schmuggel, etwa von Gold in Honiggläsern. Er spricht von Millionen Dollar, die als Schwarzgeld ins Ausland verschoben wurden, ohne aber genaue Summen nennen zu können.

Schwember weiß auch, von was er spricht, wenn er sagt: „Die deutschen Behörden wollten, dass das gesamt Thema so bald wie möglich der Vergangenheit angehören sollte, dass die Grundrechte der deutschen Staatsbürger (die aber hoffentlich alle in Chile bleiben) garantiert sein würden, und dass das Thema aus der öffentlichen Debatte in Deutschland verschwinden würde. In der Praxis hatten sie kein wirkliches Interesse, dass Schäfer und seine Komplizen bestraft würden, sondern vielmehr, dass sie vergessen würden.“ (S. 117, 283) Immerhin sagt er, die Deutsche Botschaft in Chile habe sich kohärent verhalten. Um die Menschenrechte, und besonders die der chilenischen Opfer, habe sie sich nicht gesorgt. Jeder, der die Lösungsversuche für Schäfers Hinterlassenschaft von deutscher Seite aus beobachtet hat, kann dieses Urteil bestätigen. Der chilenischen Seite wirft Schwember Unfähigkeit, Bürokratie und sogar Lügen vor. Niemand im chilenischen Staat wolle irgendein Risiko eingehen. Die deutsche Diplomatie habe deswegen schließlich resigniert: Es geschehe eben nichts, und das schaffe auch keine Probleme in Deutschland, so Schwember.

Wie immer man an die Sache herangeht: Eine Lösung für die Bewohner der Villa Baviera muss gefunden werden. Dies wurde an so gut wie jeder Stelle von chilenischer Seite verhindert. Deshalb trat Schwember nach eineinhalb Jahren Arbeit zurück. Nach Schwember hätte eine koordinierte und sachbezogene Problemlösung ein Fortschritt für die Menschenrechte bedeutet. Opfer hätten entschädigt und Verbrechen aufgeklärt werden können. Lassen wir Schwember das letzte Wort: „Ein intelligenterer, professionellerer, systematischerer und mehrdimensionalerer Umgang (mit der Colonia Dignidad) hätte bereits viel mehr Information erbracht und den Bereich der möglichen Wahrheit erweitert, wenn er auch immer begrenzt sei wird.“ (S. 326)


[1]Friedrich Paul Heller, Pantalones de cuero, moños… y metralletas. El trasfondo de Colonia Dignidad, Ed. Chile América/Cesoc, Santiago, 2005, p. 114-118.
F.P. Heller: Lederhosen, Dutt und Giftgas : die Hintergründe der Colonia Dignidad. 4., erweiterte und aktualisierte Aufl., Schmetterlingverlag Stuttgart 2011, S. 82-85

por Dieter Maier
von Dieter Maier

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