von Daniel Jacoby*
Lange Zeit habe ich Deutschland und die Deutschen verabscheut. Nach Deutschland zu fahren, ja auch nur irgendeine persönliche Beziehung mit Deutschen aufzunehmen, das kam überhaupt nicht in Frage. Sogar ihre Sprache stieß mich ab. Jedes Mal wenn ich jemand Deutsch sprechen hörte, hätte ich mir am liebsten die Ohren zugehalten um nicht an die brutalen Befehle der SS erinnert zu werden.
In den Ferien ging ich den deutschen Touristengruppen möglichst aus dem Weg. Ihr lautes Reden, ihr Bier, ihr fettes Lachen, ich fand es abscheulich. Mir gingen wieder die Bilder von der Besatzung durch den Kopf, die deutschen Soldaten, die im Gleichschritt durch die leeren Straßen marschierten mit ihren Kriegsgesängen.
Und ich machte keine Ausnahmen. Auch mit der deutschen Literatur und Philosophie wollte ich nichts zu tun haben. Allenfalls Goethe, Heine, Thomas Mann und Günter Grass fanden Gnade in meinen Augen.
Ich hasste (und verabscheue bis heute) die Musik Richard Wagners.
Bildnachweis: Stadt Nürnberg, DierenbachGanz allmählich, als neue Generationen heranwuchsen, änderte sich mein Bild. An allen Deutschen meiner Generation, oder den noch älteren, haftete für mich noch immer die Schande der Nazis. Aber gegen die anderen, die jüngeren, die tatkräftig diese Vergangenheit angingen und die sich am Ende sensibler und aufmerksamer als die jungen Franzosen gegenüber allem erwiesen, was auf ein Wiederentstehen des Nazitums hindeuten konnte, gegen die konnte ich nichts haben. Im Gegenteil, ich bewunderte ihren offenen kritischen Geist, ihre Wachsamkeit, und ihre bescheidene Haltung.
Bei verschiedenen internationalen Begegnungen, Kolloquien und Konferenzen knüpfte ich mit einigen von ihnen Beziehungen an. Nach und nach gab ich meine Abwehr auf, aber nicht bis zu dem Punkt, dass ich etwa nach Deutschland gereist wäre. Deutschland blieb für mich ein verbotenes Land.
Dann kam der Tag, an dem mich mein Freund Dani Karavan um Rat bat. Dani Karavan ist ein sehr begabter israelischer Bildhauer. Seine Werke sind keine Statuen sondern Monumente in Landschaften, die er vorfindet, sich in der Fantasie ausmalt oder die er umformt. Er bildet seine Formen in ihrer natürlichen Umgebung, und immer ist damit auch eine Idee verbunden.
Er kam zu mir und erzählte, dass die Stadt Nürnberg ihm den Auftrag gegeben hatte, einen Weg in der Innenstadt zu gestalten, der eine Art Passage zwischen einem alten Viertel und ultramodernen Gebäuden – darunter dem Germanischen Nationalmuseum – bilden sollte. Sein Vorschlag war, in dieser Passage zwischen den beiden Gebieten vierundzwanzig weiße Säulen zu errichten, die den Menschenrechten gewidmet wären. Er bestand darauf, dass er dieses Projekt nur unter der Bedingung angenommen hatte, dass er damit einen Bruch mit der Vergangenheit dieser Stadt verdeutlichen konnte, in der Hitler an der Spitze der Reichsparteitage gestanden hatte und in der die Rassegesetze des Dritten Reichs verabschiedet worden waren.
Ich schlug ihm vor, die Zahl der Säulen auf dreißig zu erhöhen und jeder einen Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einzuschreiben, in Deutsch und in der Sprache von Völkern, die Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen geworden waren. Er stimmte begeistert zu.
So entstand die „Straße der Menschenrechte“ mit den fundamentalen Rechten der menschlichen Person, Artikel für Artikel, wie sie in der Allgemeinen Erklärung geschrieben stehen, in Deutsch, aber auch in Jiddisch, in Kurdisch, in Rom, in Quechua, in Russisch, in Tibetanisch usw.
Er bat mich, ihn bei der Einweihung dieser Straße zu begleiten und dazu auf Kosten der Stadt Nürnberg Vertreter von Menschenrechtsgruppen aus Ländern einzuladen, in denen heute die Rechte der Allgemeinen Erklärung missachtet werden. Das konnte ich natürlich nicht ablehnen. Und so kam es, dass ich 1993, im Alter von sechzig Jahren, deutschen Boden betrat, und das ausgerechnet in Nürnberg…
Nun, der Empfang war wunderbar. Der Bürgermeister machte es möglich, dass wir die Überreste der großen Naziaufmärsche besichtigen konnten, die Tribüne wo Hitler das Wort ergriff, ein Gebäude, dass die alliierten Bombenangriffe überstanden hatte, und in dem ständig der Film über den Nürnberger Prozess gezeigt wurde, im Rahmen einer Ausstellung, die verständlich machen wollte, wie das deutsche Volk der Faszination durch Hitler und den Nationalsozialismus erlag.
Bei der Eröffnung der Straße der Menschenrechte ergriff Dani Karavan das Wort. Er sprach auf Jiddisch, einer Sprache, die einst in Nürnbergs Straßen erklungen war und die jetzt verschwunden ist. Es war die Sprache seines Großvaters. An ihn erinnerte er – ein sehr emotionaler Augenblick für das Publikum.
Ich selbst erinnerte daran, dass in Nürnberg die Rassegesetze der Nazis verabschiedet wurden, die direkt zu der kaltblütig organisierten Ermordung von Millionen Menschen führten, und dass ebenfalls in Nürnberg die wichtigsten Naziführer vor Gericht gestellt und verurteilt wurden. Ich warb für die Errichtung einer internationalen Strafgerichtshofs für „all die kleinen Hitlers, die im Dunst von Gesellschaften erstehen, in denen die Menschenrechte nichts gelten.“ Fünf Jahre später, 1998 in Rom, kam dieser so ersehnte Gerichtshof endlich zustande, um am 1. Juli 2002 dann in Kraft zu treten.
Nach meiner Rede und einer schnell improvisierten Konferenz mit den eingeladenen Menschenrechtsaktivisten entstand die Idee, in Nürnberg einen Menschenrechtspreis zu schaffen, um einen Mann oder eine Frau auszuzeichnen, die in ihrer Heimat unter Gefahr ihres Lebens oder ihrer Freiheit für die Verteidigung der Menschenrechte kämpften. Auf Bitten des Bürgermeisters übernahm ich es mit großer Freude, das Statut für diesen Preis zu entwerfen.
Rund um diesen Preis entstand in Nürnberg eine ganze Reihe von Veranstaltungen, Kolloquien und Konferenzen über die Menschenrechte. Der Preis, der alle zwei Jahre verliehen wird, ist so unterschiedlichen Männern und Frauen wie dem Russen Serge Kowaliev, dem Israeli Abi Nathan zusammen mit dem Tunesier Khemais Chamari, der Mauretanierin Fatima M’Baye, dem Pakistani Ibn Abdur Rahman zusammen mit der Inderin Teesta Setalvad, dem mexikanischen Bischof Samuel Ruiz García, und der Usbekin Tamara Chikunova verliehen worden. Zusammen sind sie eine lebendige Gruppe von Männern und Frauen, die der Menschheit zur Ehre gereichen und die nach und nach die schreckliche Vergangenheit Nürnbergs vergessen lassen.
Ich selbst habe meine Abneigung gegen Deutschland und die Deutschen überwunden und habe heute viele Freunde unter ihnen.
Der Nationalsozialismus mit all seinen Schrecknissen ist dabei nicht vergessen. Alles, was ihm ähnelt, ist hassenswert und unmenschlich. Aber um die neu erstehenden Fanatismen zu bekämpfen, müssen wir alle zusammenstehen.
Diese jungen Deutschen haben aus der tragischen Geschichte ihres Landes die Kraft und Energie geschöpft, die es für den Kampf gegen jedes Widererstehen von Antisemitismus und Rassismus in ihrem Land braucht. Ich wünsche mir, dass ihr Beispiel in aller Welt Schule macht.
*Daniel Jacoby ist Anwalt und Menschenrechtsverteidiger in Paris. Er war u.a. Vorsitzender der französischen Liga für Menschenrechte und ist Ehrenpräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte (FIDH). „Nürnberg“ ist ein Kapitel aus seinem Buch „Le placard à balais“, das 2007 bei Gallimard in Paris erschienen ist. Darin schildert Jacoby Stationen seines Lebens, von den Erlebnissen seines Großvaters während der Pogrome in Rumänien, über seine eigenen Erlebnisse als jüdischer Junge im besetzten Frankreich bis zu seiner Arbeit in aller Welt als Anwalt von Opfern von Menschenrechtsverletzungen. Wir danken ihm und dem Verlag Gallimard für die Genehmigung zur Übersetzung und Veröffentlichung dieses Texts.
Die Übersetzung besorgte Rainer Huhle