von Rolf Baasch und Sophia Brostean-Kaiser
< Rosa Roisinblit
Als die 92-jährige Aktivistin Rosa Roisinblit in den Räumlichkeiten des Nürnberger Menschenrechtszentrums zu erzählen begann, mochte die überwiegend zweisprachige Zuhörer- schaft die Übersetzung oft nicht abwarten. Das Interesse war groß – vor allem bei jenen Mitgliedern, die selbst in der Koalition gegen die Straflosigkeit um eine Aufklärung der Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur (1976- 1983) mitgekämpft hatten.
Tres de azúcar en el café, la vida ya es bastante amarga, entgegnete Rosa Roisinblit auf die Frage, wie sie ihren Kaffee mochte. Drei Zucker, das Leben sei bitter genug, wie ein latein- amerikanisches Sprichwort sagt. Dabei wirkte sie alles andere als verbittert. Frau Roisinblits Deutschlandreise hatte sie von der Universität Heidelberg zunächst zum NMRZ geführt. Hiervon ging es weiter zum European Center for Constitutional and Human Rights in Berlin. Frau Roisinblit ist Vizepräsidentin der Abuelas de Plaza de Mayo, jener berühmten Organisation, die sich seit nunmehr 34 Jahren für die Aufklärung der grausamen Verbrechen an der Zivilbevölkerung durch die argentinischen Militärdiktatur einsetzt – genauer: Für die Aufklärung des Schicksals der von der Militärjunta entführten Enkelkinder. Kraftvoll erzählt sie von ihrem Erlebten, von der argentinischen Diktatur, von Einschüchterungsversuchen und Intrigen – und von jenem Moment, als sie nach 22 Jahren ihren vermissten Enkelsohn aufspürte.
Rosa Roisinblit beginnt ihren Vortrag mit der Feststellung, dass Argentinien ein sehr junges Land sei, nämlich gerade einmal 200 Jahre alt. Im Jahr 1816 erklärt Argentinien seine Unabhängigkeit gegenüber Spanien. Im ersten Weltkrieg verhält sich das Land unter den Präsidenten Roque Sáenz Peña und Hipólito Irigoyen neutral. Auch während des Zweiten Weltkrieges wird diese Politik fortgesetzt, wenngleich sich Sympathien mit Deutschland und seinen Verbündeten feststellen lassen. Ab 1943 jedoch versucht die Regierung ihren Kurs zu ändern, was einen Militärputsch unter der Beteiligung Juan Domingo Peróns, zur Folge hat. Ende März 1945 erklärt Argentinien als letzes Land Deutschland und Japan den Krieg. 1946 wird Perón mit Unterstützung der Arbeiterbewegungen zum Präsidenten gewählt. Er stützt seine Herrschaft sowohl auf die „descamisados“, die „Hemdlosen“, als auch auf das Militär. 1955 dankt er ab und lebt fortan in Madrid im Exil. Von 1955 bis 1973 sind insgesamt drei Militärregierungen und zwei Zivilregierungen an der Macht. Die Wirtschaftslage verschlechtert sich zunehmend. Rosa Roisinblit bezeichnet diese Epoche als „Adoleszenzphase“ einer jungen Republik, in der man sich gar nicht mehr wunderte, wenn morgens im Radio ein Putsch verkündet wurde.
Ab 1976 ergreift das Militär unter Führung von General Jorge Rafael Videla die Macht. Der Terror, der nun von der Regierung ausgeübt wird – der „schmutzige Krieg“ -, erreicht eine bis jetzt nicht da gewesene Qualität. Es werden ideologische Säuberungen durchgeführt und zahlreiche Personen werden „verschwunden“. Die Aktionen richten sich vornehmlich gegen Linke, Intellektuelle und Oppositionelle. Insgesamt werden die Opfer auf bis zu 30.000 geschätzt. General Videlas Nachfolger wird Leopoldo Galtieri, der 1982 den drei Monate dauernden Falklandkrieg beginnt. Die Rückeroberung der Inseln durch Großbritannien und die andauernd schlechte Wirtschaftslage vergrößern den Unmut in der Bevölkerung. 1983 wird Raúl Alfonsín zum Präsidenten gewählt und markiert somit das Ende der Diktatur. 1985 werden die Militärs Videla, Viola und Massera für ihre Verbrechen während der Diktatur zu Freiheitsstrafen verurteilt. Die Generäle werden wegen Mord und Folter, nicht jedoch wegen der Verschleppung von Kindern angeklagt und verurteilt. Eine Tatsache, die bei den Abuelas de Plaza de Mayo zunächst auf große Empörung stößt, sich jedoch später als außerordentlich hilfreich erweisen sollte.
Im Jahr 1987 verabschiedet Präsident Alfonsin die umstrittenen Amnestiegesetze „obediencia debida“ (Gehorsamsnotstand) und „punto final“ (Schlusspunkt), wodurch 1990 die verurteilten Generäle als „Beitrag zur nationalen Versöhnung“ begnadigt werden. Seit diesem Jahr werden international Prozesse gegen die Verbrecher der Diktatur angestrengt – so auch seit 1998 in Deutschland durch die Koalition gegen die Straflosigkeit. Die Abuelas de Plaza de Mayo klagen 1996 gegen Videla. Sie werfen ihm systematische Kindesentführung vor. Da dieser Anklagepunkt nicht unter das Amnestiegesetz fällt, kann mit diesem Vorwurf gerichtlich gegen ihn vorgegangen werden. 2005 wird das Amnestiegesetz durch das argentinische Parlament aufgehoben.
Die ESMA war der Inbegriff des staatlichen Terrors für die landesweit über 300 Internierungslager der Militärdiktatur und gilt als das größte Folterzentrum, das Lateinamerikas Militärdiktaturen hervorbrachten.
Schirmer, Klaus (2004); Lateinamerikanachrichten Ausgabe: Nummer 359 – Mai 2004
Es sollte eben an jenem Ort sein, an dem Rosa Roisinblits Enkel Rodolfo Pérez Roisinblit am 15. November 1978 geboren wurde. Seine Eltern José Pérez Rojo und Patricia Roisinblit waren zuvor am 6. Oktober 1978 in der Ortschaft Martínez von schwerbewaffneten Männern entführt worden. Beide überlebten den Terrorapparat der Militärjunta nicht. Ca. 500 weitere Töchter und Söhne sollten ihren Eltern geraubt und in fremden, meist regimenahen Familien untergerbacht werden. 1977 kam es bereits zu ersten Protestbewegungen in Buenos Aires, die den Verbrechen der Militärjunta gegenübertraten – gegen alle Facetten des Terrorregimes. Der namensgebende Protestort, die „Plaza de Mayo“, erlangte Bedeutung aufgrund seiner Lage gegenüber dem Präsidentenpalast. Hier konnten die Demonstrierenden ihre Empörung den Verantwortlichen direkt kundtun, erinnerte sich Rosa Roisinblit.
Die zumeist weiblichen Protestierenden waren unterschiedlich betroffen: Einige hatten ihre Ehemänner, andere ihre Kinder oder Enkelkinder verloren. Entsprechend komplex gestalteten sich die Organisation der Protestbewegungen und die Suche nach den Vermissten. Während einige in Gefängnissen und Regimentern recherchierten, versuchten es andere in Waisenhäusern, Kinderheimen und kirchlichen Einrichtungen. Da es für diese Art des durch die Militärs praktizierten „Verschwindenlassens“ keine Präzedenzfälle gab, mussten erste Nachforschungserfolge hart erkämpft werden. Über Dekaden hinweg erzielten die Kreativität, die internationale Solidarität und der ununterbrochene Einsatz der „Großmütter“ bemerkenswerte Resultate. Inzwischen arbeiten juristische, psychologische und forensische Experten sowie Archivare und Publizisten für die Abuelas de Plaza de Mayo. In jahrelanger Arbeit wurde eine umfangreiche Gen-Datenbank geschaffen, anhand derer bereits 103 der einst vermissten Enkelkinder aufgespürt werden konnten – darunter auch Rosa Roisinblits eigener Enkel.
En el año 2000 me nació un nieto de 22 años, erklärt Rosa Roisinblit stolz – im Jahr 2000 sei ihr ein 22-jähriger Enkel geboren worden. Die Zusammenkunft nach dem positiven Blutabgleich war dabei idyllisch verlaufen, fährt Roisinblit nach kurzem Zögern fort. Bis die Justiz eingegriffen hätte und seine Eltern angeklagt, verurteilt und ins Gefängnis gebracht hatte. Seither habe die Beziehung zu ihrem Enkel Höhen und Tiefen erlebt – wie bei allen Betroffenen, die von der Vergangenheit eingeholt würden. So beteiligten sich auch nicht alle, aber doch die Mehrheit der 103 „wiedergefundenen“ Enkel aktiv an einer Rekonstruktion der Vergangenheit. Dies sei auch ihr gutes Recht, wirft Roisinblit ein, vor allem wenn man sich vor Augen führt, welchen emotionalen Umbruch die Enkel durchleben müssten. In Argentinien gäbe es mittlerweile ein Gesetz, nachdem man verpflichtet werden könne, sein Blut zur Identifikation abzugeben. Natürlich sei dies ein massiver Eingriff in das Leben der Betroffenen und diese zeigten sich daher auch nicht immer kooperativ. Dennoch dürfe die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht verebben. Roisinblit betont, dass nicht der Gedanke an Rache oder Selbstjustiz die Organisationen der Plaza de Mayo motiviert, sondern an Wahrheit. Eine Aufarbeitung der Vergangenheit betreffe schließlich das gesamte Land und stünde für eine noch nicht wiedererlangte argentinische Identität. Mit Nachdruck wiederholt Roisinblit dabei: Porqué no reconstruir la identidad latinoamericana? – Warum nicht die lateinamerikanische Identität rekonstruieren? Diktaturen gab es schließlich nicht nur in Argentinien, und deren Überwindung ist ein gemeinsamer Kampf.