Lustiger, Arno: Rettungswiderstand: über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit. Göttingen, Wallstein 2011, 462 S. mit Index
Es gibt wenige Bücher, von denen gesagt werden kann, dass sie geschrieben werden mussten. Arno Lustigers Rettungswiderstand ist ein notwendiges Buch. Die Überlieferungen zu diesem Thema sind vor allem mündlich, und oft gibt es nicht einmal die. „Selbst die Gerechten (die Retter, D.M.) wollten nicht über ihre Taten sprechen. Und auch ein großer Teil der Geretteten wollte es nicht. Denn die Gerechten wussten nur zu gut, dass sie einen isolierten und nicht allzu beliebten Teil der (polnischen, D.M.) Gesellschaft darstellten. Die Geretteten wiederum wollten sich gegen den Alptraum der Vernichtung abschotten. Und ein Teil von ihnen hat aus diesem Grund lange Zeit oder nie Kontakt mit ihren Rettern aufgenommen. Wie immer man diese Haltung beurteilen mag, man sollte sie im Zusammenhang mit den durch den Holocaust hervorgerufenen Traumatisierungen sehen… Die Mehrheit der Gerechten schwieg nach dem Krieg, weil sie gelähmt war von der Stille, die dieses Thema umgab, und der mangelnden öffentlichen Anerkennung für ihre Taten.“ (Felix Tych in Lustigers Rettungswiderstand). Viele haben, was sie getan haben, nur ihresgleichen erzählt, und da Lustiger ein Überlebender und Angehöriger von Geretteten ist, hatte er Zugang zu dieser mündlichen Überlieferung. Sie wird in ein paar Jahren, wenn keine Zeitzeugen mehr leben, endgültig abgebrochen sein. Lustiger, 1924 geboren, hat nun ein Kompendium seiner mühsamen Recherchen vorgelegt, und dafür kann man ihm nicht dankbar genug sein.
Rettungswiderstand beschreibt Judenrettungen durch Einzelne und organisierte Gruppen vor allem in Europa. Lustiger kommt auf eine Zahl von 100.000 Menschen, die an Rettungen beteiligt waren. Gastautorin Beate Kosmala geht von einem Durchschnitt von sieben Rettern pro geretteter Person aus, wobei der Anteil der Frauen unter den Rettern sehr hoch ist, wenn auch überwiegend die Namen von Männern überliefert sind. Es gibt keine verlässliche Zahl von Geretteten. Formulierungen wie „relevante Zahl“ oder „unzählige“ deuten auf einen hohen Grad an Ungenauigkeit hin.
Die Rettungsaktionen beginnen bei einfachen Hilfeleistungen für Juden und steigern sich zu Freikäufen, Passfälschungen, Schmuggeln einzelner und kleiner Gruppen über die Grenze und organisierten Massenfluchten. Solche disparaten Aktivitäten systematisch darzustellen, die oft schwer zugänglichen Archive einzusehen und die noch lebenden Zeitzeugen zu befragen setzt eine Infrastruktur und eine Finanzierung voraus, die es für solche Zwecke nicht gibt. Deshalb ist Rettungswiderstand nicht nur ein notwendiges, sondern auch ein unmögliches Buch: Es leistet, was nicht zu leisten ist. Eine einundneunzigjährige Retterin, die in einem wohlgepflegten Inkognito lebt, erzählte mir, dass sie kürzlich die noch erhaltenen Briefe zu ihren Rettungen verbrannt hat. Das sind Umstände, die Lustigers narrative und subjektive Behandlung des Themas erzwingen und den Verzicht auf Fußnoten und die allzu pauschalen Literaturhinweise verständlich machen. Was Lustiger erzählt, revidiert das Bild von den Juden, die sich willenlos zur Schlachtbank führen ließen, und ergibt in immer neuen Einzelschilderungen eine seit langem ausstehende Ergänzung zum Verhalten der Bevölkerung im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten. Es war möglich, den Verfolgten zu helfen, und manche dieser Helfer kamen, wenn sie erwischt wurden, mit glimpflichen Strafen davon.
Eine auffällige Schwäche des Buches ist, dass es sich an Schlussfolgerungen kaum heranwagt. Gibt es ein gemeinsames Muster der Rettungen? Was haben ein namhafter Diplomat, der Pässe ausstellt, ein „Retter in Uniform“ und „Striaupis (litauischer Bauer)“, mit unbekanntem Vornamen, gemeinsam? Wie verhalten sich Rettungswiderstand und „allgemeiner Widerstand“ (Lustiger) zu einander? Wie verhalten sich ethische, religiöse und politische Motivation von Rettern zueinander? Lustigers lexikalisches Verfahren, das hochdramatische Lebensläufe auf wenige Zeilen verdichtet, und die Beiträge zahlreicher Gastautoren in Rettungswiderstand lenken diese Untersuchung in eine quantitative Richtung. Lustiger will das Gegenteil, die Würdigung jeder einzelnen Tat. Deshalb spricht das Buch viel zu oft von „Helden“. Raoul Wallenberg, Retter vieler ungarischer Juden, wird zu „einem der größten Helden des zweiten Weltkriegs“. Aber die oben erwähnte Retterin sagte zu mir: „Ich war zu feige“, sie hätte mehr tun können. Helden retten Prinzessinnen vor Drachen, gegenüber der SS würden sie versagen. Judenrettungen mussten emotionslos organisiert werden, sonst konnten sie auffliegen. Diese realen Bedingungen müssten dargestellt werden,- stattdessen ist Lustiger kurz davor, den Wald der Gerechten bei der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vaschem zum Heldenhain zu machen.
Solche Schwierigkeiten sind objektiver Art und werden in Rettungswiderstand auch erwähnt. Es gehört zu Lustigers Verdiensten, das Buch dennoch vorgelegt zu haben. Nehmen wir es als Aufforderung zur Weiterarbeit.
Dieter Maier