Transitional Justice – ein Modebegriff mit wenig Konturen

10. Mai 2014 | Von | Kategorie: Rezensionen

Brants, Chrisje; Hol, Antoine; Siegel, Dina (Hrsg.): Transitional Justice: Images and Memories, Farnham & Burlington (Ashgate Publishing) 2013, 265 Seiten

Der Begriff der „Transitional Justice“, für den es nicht zufällig noch immer kein deutsches Äquivalent gibt, hat seit den neunziger Jahren weltweit eine schier unglaubliche Konjunktur. Wie oft bei solchen begrifflichen Erfolgsgeschichten wird dabei der ursprünglich relativ klar begrenzte Bedeutungsinhalt immer weiter aufgefächert, ergänzt und ausgeweitet. So weit wie die HerausgeberInnen des vorliegenden Bands hat allerdings bisher wohl noch niemand den Terminus „Transitional Justice“ gedehnt:
“Transitional justice is concerned with both settling accounts after violent conflict and/or repression, and coming to terms with the traumatic damage inflicted on individuals and society; with the definition of heroes and villains, victims and perpetrators; with the delineation of the morality and immorality of past events and actions. It is inextricably bound up with history-telling and attempts to develop shared collective memories, for it looks towards a viable future by making a certain specific sense of past events.”
Ausgehend von einem multidisziplinären Projekt über das Thema an der Universität Utrecht haben die HerausgeberInnen dreizehn Aufsätze zu verschiedensten Themen versammelt, deren roten Faden zumindest dieser Rezensent auch nach sorgfältiger Lektüre der Einleitung von Chrisje Brants nicht zu erkennen vermag. Die Lektüre, dies sei vorausgeschickt, lohnt sich trotzdem.
Die Aufsätze sind zu vier Abschnitten gebündelt, deren Inhalt jedoch genauso bunt ist wie der Band als ganzes. Unter der Überschrift „Hidden Histories“ finden sich ein Aufsatz über die fehlende Vergangenheitsaufarbeitung in der Türkei, eine biografische Notiz zu René Cassin und ein Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Deutschland. „Verborgen“ sind diese hier dargelegten Geschichten gewiss nicht, denn die verfahrene Geschichtspolitik der Türkei ist in den letzten Jahren mehr und mehr ins Scheinwerferlicht gerückt worden, und erst recht über die unzureichende juristische Aufarbeitung der Naziverbrechen in Deutschland kann auf wenigen Seiten nichts wirklich Neues erwartet werden. Was Jay Winter über René Cassins Rolle bei der Erarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und danach der Europäischen Menschenrechtskonvention zu sagen hat, geht über das, was er dazu an anderer Stelle bereits ausführlicher geschrieben hat, nicht hinaus und hat mit den Fragen der Transitional Justice selbst im weiten Sinn dieses Buchs kaum zu tun.
Auch der zweite Abschnitt „Processes and Rituals“ bringt ganz verschiedene Themen zusammen. Antoine Hol zeigt am Beispiel des Eichmannprozesses auf, dass jeder politische Prozess auch ein Stück Theater in pädagogischer Absicht ist, und dass dieses Charakteristikum zu sehr verschiedenen „Aufführungen“ und Rezeptionen des Stücks führt, wie exemplarisch an der viel beschriebenen Kontroverse zwischen Generalstaatsanwalt Hausner und Hannah Arendt zu sehen war. Hol schlägt damit zugleich eine Brücke vom juristischen Aspekt der „transitional justice“ zu den kulturellen und erinnerungspolitischen Dimensionen des schillernden Begriffs. Einen Schritt weiter noch geht die australische Soziologin Danielle Celermajer, die verschiedene Praktiken der transitional justice als Rituale analysiert. Naheliegend ist dies bei der als Beispiel gewählten südafrikanischen Wahrheitskommission, Celermaer gewinnt aber auch dem IStGH interessante Einsichten unter diesem Gesichtspunkt ab. Besonders gewinnbringend erscheint die Analyse einer Spielart von transitional justice, die in letzter Zeit besonders häufig realisiert und eingefordert wird: die öffentliche Entschuldigung. Das Verständnis von transitional justice als rituellen Praktiken führt Celermajer zu sehr grundsätzlichen Einsichten in das Verhältnis von individuellen autonomen Entscheidungen und kollektiv erzwungenen Normen, das sie als ein Grundproblem bei der Suche nach den gewünschten Erfolgen von transitional justice sieht.
Zwischen diesen beiden Essays mit theoretischen Reflektionen stehen zwei recht gegensätzliche Fallbeispiele von Erinnerungspolitik. Während der Belgrader Kulturpalast Staro Sajmiste nach seiner „Nutzung“ durch die Nazis als KZ eine bunte Geschichte von unangemessenen Nutzungen und Vernachlässigung aufweist und der Ort bis heute nicht ins kollektive Gedächtnis Serbiens zurückgeholt werden konnte, ist das Haus in der Straße Londres 38 im Zentrum von Santiago de Chile, das einst als Folterzentrum diente, dank der hartnäckigen Arbeit der Opfer und ihrer Unterstützer inzwischen zu einem eindrucksvollen und vielbesuchten Gedenkort geworden. Den Initiativen, die das Haus betreuen, ist es sogar gelungen, von der Erinnerung an die Schrecken der Diktatur eine Brücke zu den sozialen Kämpfen der Gegenwart zu schlagen, während in Belgrad der Kommerz sich das Gelände erobert zu haben scheint. Zwei durchaus instruktive Beispiele für die Tücken und Möglichkeiten von Erinnerungspolitik, die allerdings kaum reflexive Bezüge zum Gesamtthema des Bandes aufweisen.
Im dritten Abschnitt des Buches geht es um die Wahrnehmung von Instrumenten der transitional justice. Am bekannten Beispiel der Aktivitäten des IStGH in Uganda zeigen Chrisje und Kees Brants sowie Lauren Gould, wie die komplizierte Ausgangslage, dann aber auch das Auftreten der Vertreter des IStGH selbst ein sowohl in Uganda selbst wie in der medialen Wahrnehmung der „Weltöffentlichkeit“ sehr widersprüchliches Image des Gerichtshofs geschaffen haben. Die AutorInnen übernehmen nicht die pauschale oft heftige Kritik an der Intervention des IStGH in Uganda, sondern zeigen auf, wie der Anspruch des Gerichts auf eine unabhängige Rechtsprechung durch seine begrenzten eigenen Möglichkeiten, aber auch die divergierenden Interessen und damit verbundenen Interpretationen seiner Arbeit in Uganda kaum Chancen auf Verwirklichung hatte. Ein weiterer Beitrag beschäftigt sich mit dem Image des Jugoslawiengerichtshofs in der betroffenen Region. Die herangezogenen empirischen Daten und Interviews führen zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass dieses Image sehr unterschiedlich je nach der ethnischen Zugehörigkeit und dem Empfinden, auf der Verlierer- oder Gewinnerseite zu stehen, geprägt ist.
Auf ganz andere Weise stellt Ton Liefaard im dritten Beitrag dieses Abschnitts die Frage nach dem Image. Er beschäftigt sich mit dem Bild, das humanitäre Organisationen, die Öffentlichkeit im Allgemeinen und nicht zuletzt das Völkerrecht von Kindersoldaten haben. Kindersoldaten nur als Opfer zu sehen, so sein analytisch gut begründetes und differenziertes Plädoyer, wird weder den betreffenden Kindern noch der Realität insgesamt gerecht. So wie das moderne Bild, das etwa die Kinderrechtskonvention von Kindern und Jugendlichen als autonomen Menschenrechtsträgern und nicht nur Objekten von Fürsorge hat, müssen Kindersoldaten jedenfalls auch als Subjekte gesehen werden, die wenn auch oft in extrem engem Rahmen, fähig sind, Entscheidungen zu treffen. Nur so, sagt Liefaard und bindet seine Argumentation damit zugleich in den Diskurs über transitional justice ein, ist auch ihre Resozialisierung und Reintegration nach Ende des Konflikts möglich.
Im vierten und letzten Abschnitt des Buches geht es um künstlerische Auseinandersetzung mit Großverbrechen. Am Anfang steht ein seltsamer Aufsatz von Dina Siegel über „Wagner in Israel“, der nicht nur auf dünnen Faktenfüßen steht, sondern sich in lockeren Assoziationsketten auch mehrmals zu kaum nachvollziehbaren Sentenzen versteigt, so wenn die Autorin etwa das – gesetzlich nicht, aber politisch de facto existierende – „Wagner-Verbot“ in Israel mit der Verfolgung „entarteter Musik“ in Nazi-Deutschland vergleicht. Um einen Bezug zum Diskurs über transitional justice bemüht sie sich gar nicht erst.
Die beiden anderen Beiträge dieses Abschnitts setzen sich mit den ideologischen Gehalten von Filmen über den Genozid 1994 in Ruanda und mit literarischen Verarbeitungen der Teilung Britisch-Indiens in Indien und Pakistan 1947 auseinander und machen deutlich, dass die in solchen künstlerischen Verarbeitungen der Verbrechen gewählten Perspektiven unter Umständen nachhaltiger wirken als offizielle Diskurse und Erinnerungspolitiken.
Unterm Strich finden sich in dem Band etliche sehr anregende Aufsätze. Nach einem roten Faden einer Diskussion von Transitional Justice sollte man nicht suchen.

Rainer Huhle

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