von Jil Maddalena
Seit Jahren steht Serbien unter der Führung von Präsident Aleksander Vučić im Spannungsfeld zwischen demokratischem Selbstverständnis und autoritärem Regierungsstil. Kritiker*innen werfen ihm vor, Medienfreiheit einzuschränken, Korruption zu dulden und staatliche Institutionen zunehmend unter die Kontrolle seiner Partei zu bringen. Gleichzeitig wächst der Unmut in der Bevölkerung, die sich mit wirtschaftlicher Unsicherheit, gezielter Einflussnahme auf Medien und Justiz sowie mangelnder politischer Transparenz konfrontiert sieht.
Alles begann am 1. November 2024, als ein Betondach am Bahnhof in Novi Sad einstürzte und 16 Menschen unter sich begrub. Erst vier Monate zuvor war das Dach nach einer kostspieligen Sanierung offiziell wiedereröffnet worden. Die Katastrophe entfachte eine Welle der Empörung, getragen von einer Bevölkerungsgruppe, die bis dahin als politisch desinteressiert galt: Studierende. Sie wurden schnell zum Kern einer neuen Protestbewegung gegen Korruption und für politische Verantwortung – mit dem erklärten Ziel Präsident Aleksander Vučić aus dem Amt zu drängen.
Ein Symbol verlieh der Bewegung früh gemeinsame Identität und Schlagkraft: „Pumpaj“ – der Ruf, der so viel bedeutet wie „Weitermachen, Durchhalten und Nicht-Nachlassen“. Ebenso prägnant ist die rote Hand, die bei Demonstrationen in Belgrad und anderen Städten auf Bannern, Wänden und Kleidungsstücken auftaucht. Sie steht für die blutigen Folgen von Korruption und staatlicher Verantwortungslosigkeit – und knüpft dabei auch an die lange Tradition von Protestsymbolen in Serbien und weltweit an. Schon die „Otpor!“-Bewegung der 1990er Jahre nutzte die erhobene Faust im Kampf gegen Slobodan Milošević. Heute greift die neue Protestgeneration diese Symbolsprache auf und verleiht ihr mit der roten Hand eine eigene, zeitgemäße Form.
Schon seit über zehn Monaten erschüttern die Studierendendemonstrationen Serbien. Durch Verkehrsblockaden, Schulausfälle und den landesweiten Generalstreik im Januar, an dem sich zahlreiche Geschäfte, Cafés, Kultureinrichtungen und Universitäten beteiligten, kam in Teilen des Landes das öffentliche Leben und damit zentrale Bereiche des Alltags teilweise zum Erliegen. In der deutschen und internationalen Medienberichterstattung findet dies jedoch kaum Beachtung. Repressionen [1], Verhaftungen und Polizeigewalt nehmen kontinuierlich zu – während Europa weitgehend wegschaut. Zuletzt eskalierten die Auseinandersetzungen erneut [2]: Bei den jüngsten Protesten in Belgrad und mehreren anderen Städten setzte die Polizei Tränengas, Schlagstöcke und Wasserwerfer ein. Mehrere Demonstrierende wurden verletzt, Dutzende festgenommen. Augenzeug*innen berichten von gezielten Angriffen auf Journalist*innen. Präsident Vučić bezeichnet die Demonstrierenden dabei als „Schläger und Mörder“ und kündigte an, dass er einen „Bürgerkrieg“ verhindern möchte. Gleichzeitig betont er, dass die Regierung bereits auf die Forderungen der Studierenden eingegangen sei, indem sie Ermittlungen eingeleitet, die Bildungsausgaben erhöht und den Rücktritt des Ministerpräsidenten akzeptiert habe. Er sieht die Proteste inzwischen als politisch motivierten Versuch, die Regierung zu stürzen – und stellt die Proteste damit so dar, als ginge es allein um Macht, nicht um legitime politische Kritik. Fast täglich finden spontane Straßendemos statt, an denen Studierende, Arbeitende, Rentner*innen, Landwirt*innen und Kulturschaffende für die gemeinsamen Werte der Demokratie teilnehmen.
(Foto: KiKinda Protest 2025-03-12-02, via Wikimedia Commons)
Korruption, Missbrauch und der autoritäre Regierungsstil von Präsident Aleksander Vučić – dagegen kämpfen die Studierenden in Serbien. Viele Menschen in Serbien sehen korruptionsbedingte Nachlässigkeit bei staatlichen Infrastrukturprojekten als eine Ursache für die Tragödie am 1. November 2024. Nach der Katastrophe blieben Vučić und seine serbische Fortschrittspartei zwar an der Macht, formten jedoch die Regierung um. Seitdem fordern die Studierenden vorgezogene Neuwahlen anstelle der regulären Abstimmungen im Jahr 2027. Aktuelle Umfragen zeigen, dass Vučić an Popularität verliert. Dennoch weist er Forderungen nach Neuwahlen zurück, obwohl Serbien in einer tiefen politischen Krise steckt. Gefordert werden zudem Reformen, die gewährleisten sollen, dass die kommenden Wahlen frei und fair ablaufen. Dazu zählen die Überprüfung der Wählerlisten, ein gleichberechtigter Zugang zu den Medien für alle politisch Beteiligten sowie Maßnahmen gegen Stimmenkauf. Weitere Anliegen umfassen die Reform des Bildungssystems, die rechtliche Anerkennung studentischer Vertretungen – der sogenannten Plena – als juristische Personen, die Sicherstellung fairer Löhne für alle Beschäftigten im Bildungssektor und die Wahrung der Autonomie der Universitäten. Mit diesen Forderungen ging der Protest weit über den Campus hinaus. Aus der anfänglichen Studentenbewegung entwickelte sich ein breiterer Bürgerprotest, der als die größte Protestwelle seit den 1990er-Jahren gilt.
Kritiker*innen werfen Präsident Vučić autoritäres Regieren und die Duldung von Korruption und organisierter Kriminalität vor. Die politische Reaktion fällt bisher bescheiden aus: Zwar sind der Ministerpräsident Miloš Vučević sowie zwei Minister zurückgetreten, aber die Vorwürfe der Bestechung und Inkompetenz werden von der Regierung vehement zurückgewiesen. Stattdessen wurde die Festnahme von Teilnehmern an den Protesten angekündigt. Vučić selbst spricht von den Organisatoren der Studierendenproteste als „Terroristen und denen, die versucht haben den Staat zu stürzen.“ Für ihn, so betonte er, werde die „Zeit der Rechenschaft kommen“.
Seit zwölf Jahren hält Aleksander Vučić in wechselnden Funktionen die Macht in Serbien, seit 2007 als Präsident. Er kontrolliert einen Großteil der wichtigsten Medien des Landes, was die Informationslage und die öffentliche Wahrnehmung der Proteste stark beeinflusst. Auch Reporter ohne Grenzen warnt vor der besorgniserregend eingeschränkten Medienfreiheit in Serbien: Ein erheblicher Teil der Medien wird von der Regierung oder regierungsnahen Akteur*innen kontrolliert. Präsident Vučić gilt zudem als größter Geldgeber und Werbekunde – und übt so erheblichen Einfluss auf die Berichterstattung aus. Tanja Maksić, Koordinatorin des Projekts Balkan Investigative Reporting Network (BIRN), einer regional tätigen investigativen Journalismus-Organisation [3], erläutert: „Unsere Untersuchung zeigt eine deutliche Diskrepanz zwischen dem nationalen und dem lokalen Medienmarkt: Während Medien mit landesweiter Reichweite im Zentrum der Aufmerksamkeit von Investor*innen und Politiker*innen stehen, existieren auf regionaler Ebene kaum eigene Werbemärkte, und staatliche Regulierungsmechanismen greifen nur selten. In vielen Regionen haben sich monopolartige Strukturen gebildet, deren Eigentümer*innen den herrschenden Parteien nahestehen und unabhängige Berichterstattung verhindern.“ [4]
Auch aus internationaler Perspektive fällt das Urteil über Serbien kritisch aus. Organisationen wie Amnesty International, die Heinrich-Böll-Stiftung [5] oder Human Rights Watch berichten von einer prekären Lage für Journalist*innen, die zunehmend bedroht und diffamiert werden. 2023 gerieten zahlreiche Investigativjournalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und Aktivist*innen ins Visier sogenannter SLAPP-Klagen (Strategic Lawsuit Against Public Participation) – strategische Gerichtsverfahren, die Kritiker*innen einschüchtern und von öffentlicher Beteiligung abhalten sollen. Ziel dieser Taktik ist es, unerwünschte Stimmen durch hohe Prozesskosten und juristischen Druck zum Schweigen zu bringen. Einschränkungen der Meinungsfreiheit, Gewalt gegen Journalist*innen und Korruption werden somit nicht nur im Land selbst kritisiert, sondern auch von internationalen Beobachter*innen scharf verurteilt. Ein aktuelles Beispiel für die Auswirkungen der politischen Spannungen auf die Zivilgesellschaft ist das Exit-Festival in Novi Sad. Das Festival, eines der wichtigsten Musikereignissen des Landes, wurde von den Organisator*innen nach massiven Druck und dem Entzug staatlicher Fördermittel abgesagt, nachdem es den protestierenden Studierenden eine Plattform geboten hatte. Die Organisator*innen kündigten daraufhin an, das Festival künftig nicht mehr in Serbien stattfinden zu lassen, was die zunehmenden Einschränkungen von Meinungs- und Versammlungsfreiheit im Land verdeutlicht.
Oppositionsparteien und Menschenrechtler*innen werfen Vučić und seiner SNS-Partei zudem Bestechung von Wähler*innen, Unterdrückung der Medienfreiheit, Gewalt gegen Oppositionelle, Korruption und Verbindungen zum organisierten Verbrechen vor – Vorwürfe, die er vehement abstreitet. Serbiens Regierung steht also nicht ohne Grund landesweit in der Kritik. Nichtsdestotrotz ist Serbien Kandidat für den Beitritt der Europäischen Union. Dieser ist aber momentan eher unwahrscheinlich, weil dafür grundlegende Reformen verabschiedet werden müssten. Zudem führt die serbische Regierung enge Verbindungen zu Russland und China. Auch zu den USA, speziell unter der Trump-Administration, bestehen gute Beziehungen. Parallel liefert die serbische Regierung Waffen sowohl in die Ukraine als auch nach Israel. Darüber hinaus unterzeichnete Belgrad zuletzt einen Vertrag mit der israelischen Firma Elbit Systems über 1.6 Milliarden Dollar für Raketentechnik, Drohnen und Überwachungssysteme [6]. Zudem verweisen Gegner*innen auf den Kostenvergleich der Pariser Olympischen Spiele 2024 von rund 10 Milliarden Euro mit den geplanten Ausgaben für die EXPO 2027 in Belgrad, die sich laut Schätzungen auf fast 18 Milliarden Euro belaufen sollen [7] und werten dies als einen Ausdruck des autoritären Parteistaates, in dem die Korruption blüht. Auch im Inland bleiben die Konflikte nicht auf die Politik beschränkt: Der britisch-australische Bergbaukonzern Rio Tinto [8] will im Jadar-Tal ein Lithium- und Bor-Minenprojekt starten, das von Umweltschützer*innen scharf kritisiert wird. Vor wenigen Monaten erklärte die Europäische Kommission das Projekt dennoch zu einem von strategischer Bedeutung für die EU.
Serbien ist auch Teil des Rahmenübereinkommens [9] zum Schutz nationaler Minderheiten [10] des Europarates, das einen Kontrollmechanismus vorsieht, um die Umsetzung in den Vertragsstaaten zu beurteilen. 2025 wurde der fünfte Bericht veröffentlicht, der gemäß Artikel 25 Absatz 2 eine kritische Analyse zur Umsetzung der Minderheitenrechte in Serbien enthält. Dabei werden folgende Kriterien bewertet: Wahrung der Menschen- und Minderheitenrechte, Rechtsstaatlichkeit und institutionelle Unabhängigkeit, Bekämpfung von Diskriminierung und Korruption sowie die effektive Umsetzung gesetzlicher Regelungen – also Umsetzung in der Praxis vs. Formale Gesetzgebung. Die Analyse zeigt eine deutliche Diskrepanz zwischen Gesetz und tatsächlicher Umsetzung: Viele Maßnahmen bleiben auf dem Papier oder werden nur projektbasiert statt strukturell umgesetzt. Monitoring und Evaluation sind schwach ausgeprägt, da verlässliche Indikatoren und öffentlich überprüfbare Erfolgsmessungen fehlen. Auch die Zuständigkeiten zwischen staatlicher und lokaler Ebene sind häufig unklar, was die Rechenschaftspflicht erschwert. Berichte zur Korruption und zu Verwaltungsmissbrauch verdeutlichen, dass Korruption ein systemisches Problem in Serbien ist, das auch die Minderheitenpolitik beeinflusst.
So erfolgen beispielsweise Vergaben von Fördermitteln oder Wohnprojekten nicht immer transparent – ein Problem, das sich beim Dacheinsturz in Novi Sad besonders deutlich zeigte. Politische Einflussnahme auf Minderheitenräte ist zudem durch klientelistische Netzwerke möglich, was die Unabhängigkeit und Wirksamkeit dieser Gremien weiter einschränkt. Die Protestbewegung zeigt also nicht nur den Unmut über konkrete Vorfälle, sondern auch die tieferliegenden strukturellen Probleme im Land, auf – von undurchsichtiger politischer Einflussnahme bis hin zu einer wachsenden Kluft zwischen gesetzlicher Grundlage und tatsächlicher Umsetzung demokratischer Rechte. Die Proteste sind schon länger mehr als ein Aufschrei gegen konkrete Missstände – sie sind ein Spiegel der die tiefen strukturellen Probleme in Serbien. Dabei bleibt die Botschaft der Bürger*innen klar: Pumpaj.
Demonstration in Belgrad am 22. Dezember 2024. Die rote Hand ist dabei ein Symbol des Protests. Spruch auf dem Plakat: „Blut von den Händen wäscht man nicht mit Versprechen ab.“ (Foto: Belgrade protests December 22 2024 – 8, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons.)