Der “Fall Pinochet” – eine Chronik

29. Oktober 2000 | Von | Kategorie: Weltregionen, Amerika

von Rainer Huhle

vom Tag des Putsches 1973 bis Mitte Mai 2000

Nach der Rückkehr General Pinochets aus seinem Londoner Hausarrest ins heimatliche Chile ist es in der internationalen Presse wieder still um den ehemaligen Diktator geworden. In Chile dagegen, wo fast gleichzeitig zum ersten mal seit 1973 wieder ein Sozialist zum Präsidenten gewählt wurde, ist die politische Szenerie in heftige Bewegung geraten. Im Mai 2000 waren bereits über hundert Verfahren gegen Pinochet vor der chilenischen Justiz anhängig.

11.9.1973 General Pinochet putscht gegen die verfassungsmäßige Regierung von Präsident Allende.

19.4.1978 In einem Gesetzesdekret gewährt sich die Diktatur Straffreiheit für alle Verbrechen, die von ihren Angehörigen zwischen dem 11. September 1973 und dem 10. März 1978 begangen wurden.

11.9.1980 Die Diktatur lässt sich per Plebiszit ihre eigene autoritäre Verfassung absegnen.

5.10.1988 In einem weiteren Plebiszit entscheidet sich Chile gegen die weitere Präsidentschaft Pinochets und für die Rückkehr zu allgemeinen Wahlen.

14.10.1989 Als erster Präsident der Nachdiktaturzeit wird der Christdemokrat Patricio Aylwin gewählt, der im März 1990 sein Amt antritt. Die Verfassung der Diktatur wird in etlichen Punkten modifiziert, behält aber wesentliche undemokratische Elemente bei.

Juli 1996 Der spanische Richter Manuel Garcí­a Castellón beginnt eine Untersuchung gegen Pinochet wegen der zwischen 1973 und 1990 in Chile begangenen Verbrechen.

11.3.1998 Nach dem Ende seiner 25-jährigen Amtszeit als Oberbefehlshaber der Streitkräfte tritt Pinochet gemäß der Verfassung sein Amt als lebenslanger Senator der Republik an.

22.9.1998 Pinochet reist nach London mit einem Diplomatenpass und unterzieht sich einer Rückenoperation.

16.10.1998 Auf Antrag des spanischen Richters Baltasar Garzón, der einen internationalen Haftbefehl ausstellt, wird Pinochet in London unter Arrest gestellt. Die chilenische Regierung protestiert und führt die diplomatische Immunität Pinochets ins Feld.

22.10.1998 Das Europaparlament begrüßt die Verhaftung Pinochets. Auch andere internationale Organe sehen in ihr einen wichtigen Schritt zur Durchsetzung internationalen Rechts. Gleichzeitig spricht Präsident Frei erstmals von der Mögichkeit einer Freilassung aus „humanitären Gründen”.

28.10.1998 Der High Court erkennt die Immunität Pinochets an. Die britische Staatsanwaltschaft geht in Berufung.

6.11.1998 Die spanische Regierung gibt grünes Licht für das Auslieferungsbegehren der spanischen Justiz. Chile ruft seinen Botschafter aus Madrid zurück.

25.11.1998 Mit drei gegen zwei Stimmen entscheidet das Lordgericht in London, dass Pinochet keine diplomatische Immunität in der Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschheit genießt.

1.12.1998 Pinochet tritt seinen Hausarrest in einer Nobelvilla an. Das Auslieferungsverfahren kommt in Gang.

11.12.1998 Pinochet erklärt, er erkenne keinen britischen oder sonstigen ausländischen Gerichtshof an. Gleichzeitig wird ein Brief Pinochets bekannt gemacht, in dem er sich aller ihm vorgeworfenen Verbrechen für unschuldig erklärt.

17.12.1998 Das Lordgericht entscheidet, dass wegen möglicher Befangenheit eines der Richter im ersten Verfahren – Richter Hoffmann hat Verbindungen zu amnesty international – eine neue Kammer nochmals entscheiden muss.

24.3.1999 Auch die neue Kammer der Lordrichter entscheidet gegen die Immunität Pinochets. Gleichzeitig aber begrenzt sie die Anklagepunkte gegen Pinochet auf Taten, die nach dem 8. Dezember 1988 begangen wurden, dem Tag, an dem Großbritannien die Konvention gegen die Folter unterschrieb.

7.4.1999 Richter Garzón erneuert seinen Auslieferungsantrag und fügt ihm eine Reihe von Fällen bei, die nach dem 8.12.88 begangen wurden.

17.4.1999 General Ricardo Izurieta, Nachfolger Pinochets im Amt des Oberbefehlshabers der Streitkräfte, besucht seinen Vorgänger in der Villa in London.

8.6.1999 Die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher stattet Pinochet ihren dritten Besuch ab und führt ihre aggressive Kampagne gegen die Arrestierung Pinochets fort.

15.6.1999 Clara Szczaranski, Präsidentin des Staatsverteidigungsrats (CDE), erklärt, dass sich dieses Organ nicht der Klage gegen Pinochet anschließe, die Richter Guzmán wegen der „Todeskarawane” 1973 gegen Pinochet erhoben hat. In Spanien wirbt der neue chilenische Außenminister Valdés für eine Rückkehr Pinochets nach Chile aus humanitären Gründen. In Chile versichert Präsident Frei, seine Regierung werde alles tun, um Pinochets Rückkehr nach Chile zu erreichen.

30.6.1999 Die USA geben 5.300 Dokumente, insgesamt mehr als 20.000 Seiten zur Geschichte des chilenischen Putsches und den ersten Jahren der Diktatur frei, die auch belastendes Material zu Pinochet enthalten.

9.7.1999 Pinochet erklärt, er werde nicht aus „humanitären Gründen” nach Chile zurückkehren, sondern verlange seine Freilassung. Seine Verhaftung sei ein Angriff auf die Souveränität Chiles und ein Bruch des Völkerrechts. Einige Tage später bezeichnet er sich als „Englands einzigen politischen Gefangenen”.

7.8.1999 Chilenisch-spanische Verhandlungen hinter den Kulissen über eine „Lösung” des Falles Pinochet enden ergebnislos.

16.8.1999 Nach einem Besuch bei Pinochet erklärt der Oberbefehlshaber der chilenischen Marine, Admiral Arancibia, dass Pinochet bereit sei, eine Freilassung aus humanitären Gründen zu akzeptieren. Kurz darauf unterzieht er sich einer gründlichen medizinischen Untersuchung.

31.8.1999 In Chile sitzen in einer vom Verteidigungsminister initiierten „Dialogrunde” erstmals Militärs und Menschenrechtsanwälte an einem Tisch. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen distanzieren sich von dem Unternehmen.

14.9.1999 In einem weiteren offenen Brief erwähnt Pinochet erstmals den Schmerz der Opfer seines Regimes, ohne aber Schuld anzuerkennen oder Reue zu äußern.

15.9.1999 Chile erklärt, es wolle den Streit mit Spanien vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag bringen.

20.9.1999 In Chile wird der General i.R. Humberto Gordón wegen der Ermordung des Gewerkschafters Tucapel Jiménez im Jahr 1983 verhaftet. Pinochet sendet ihm eine Solidaritätsadresse.

27.9.1999 In London beginnt das Auslieferungsverfahren gegen Pinochet.

8.10.1999 Richter Bartle verkündet seinen Spruch: Die Auslieferung Pinochets an Spanien ist in 34 der von Richter Garzón vorgetragenen Fälle zulässig.

14.10.1999 Chile beantragt offiziell die Freilassung und Rückkehr Pinochets aus gesundheitlichen Gründen. Der britische Innenminister Straw sichert eine gründliche Prüfung des Antrags zu.

16.10.1999 In einer Großdemonstration feiern Demonstranten in London den ersten Jahrestag der Verhaftung Pinochets.

22.10.1999 Pinochets Verteidigung legt Berufung gegen den Spruch Richter Bartles ein.

2.11.1999 Pinochet verweigert die Beantwortung eines Fragebogens, den ihm die chilenische Justiz zugeschickt hatte.

5.11.1999 Innenminister Straw ordnet ein ärztliches Gutachten über den Gesundheitszustand Pinochets an.

16.11.1999 Auf dem iberoamerikanischen Gipfel in La Habana wird eine Erklärung gegen Interventionismus und die Einmischung ausländischer Justizbehörden verabschiedet, ohne den Namen Pinochets explizit zu nennen. Die Initiative wurde vor allem von den Präsidenten Frei und Menem betrieben.

28.11.1999 Chile entscheidet, vorläufig doch nicht vor dem IGH in Den Haag zu klagen.

12.12.1999 Bei den Wahlen in Chile kommt es zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem Kandidaten der Regierungskoalition, dem Sozialisten Ricardo Lagos und seinem konservativen Herausforderer, Joaquí­n Laví­n. Eine Stichwahl wird notwendig.

21.12.1999 Der Oberste Gerichtshof in Spanien bestätigt die Ausdehnung von Richter Garzóns Auslieferungsantrag auf insgesamt 72 Anklagepunkte.

31.12.2000 Zum Jahresende sind in Chile 57 gerichtliche Untersuchungen gegen Pinochet wegen verschiedener Verbrechen der Diktatur anhängig.

5.1.2000 Pinochet unterzieht sich der von Straw angeordneten ärztlichen Untersuchung.

11.1.2000 Die britische Regierung gibt ihre Absicht bekannt, Pinochet aufgrund der Ergebnisse des ärztlichen Gutachtens, das sie geheim hält, freizulassen. Sie setzt eine Frist von sieben Tagen für Einwände.

16.1.2000 Im zweiten Wahlgang gewinnt Ricardo Lagos knapp die Präsidentschaftswahlen in Chile.

25.1.2000 Der chilenische Kongress beschließt eine Verfassungsänderung, die den offiziellen Status des Ex-Präsidenten schafft. Ex-Präsidenten steht nach dieser Reform ein lebenslanger Sold zu, vor allem aber die Immunität vor Strafverfolgung. Die Vorbereitungen zu der Verfassungsänderung waren in der Öffentlichkeit unbemerkt geblieben.

27.1.2000 Eine Sondermaschine der chilenischen Luftwaffe landet in London.

8.2.2000 Der High Court in London lässt den Widerspruch der belgischen Regierung gegen die Entscheidung Straws zu.

15.2.2000 Der High Court ordnet die vertrauliche Aushändigung des medizinischen Gutachtens an die Regierungen von Belgien, Spanien, Frankreich und der Schweiz an. Diese Regierungen, die die Auslieferung Pinochets beantragt hatten, sollen die Möglichkeit zu Einwendungen erhalten. Einen Tag später publizieren spanische Presseorgane weite Teile des Berichts, der Pinochet größere Gehirnschäden attestiert.

18.2.2000 Zum wiederholten mal spricht sich der Vatikan für die Freilassung Pinochets aus.

29.2.2000 Straw lehnt den Antrag mehrerer Regierungen sowie von Richter Garzón ab, die ein neues medizinisches Gutachten verlangt hatten.

2.3.2000 Straw ordnet die Freilassung Pinochets an. Noch am selben Tag hebt die chilenische Sondermaschine vom Luftwaffenstützpunkt Waddington ab. In Santiago wird Pinochet nach 503 Tagen unfreiwilligen Aufenthalts in London auf dem Flugfeld mit allen militärischen Ehren empfangen. Im Fernsehen macht er einen rüstigen Eindruck. Ein erneutes ärztliches Gutachten, erstellt nach kurzem check im Militärhospital, bestätigt die Ergebnisse der Londoner Untersuchung.

3.3.2000 Der noch amtierende Präsident Frei äußert sich zufrieden über Pinochets Rückkehr und betont, die Regierung habe ihr Versprechen gehalten. Der neugewählte Präsident Lagos erklärt, dass Pinochets Schicksal nun in den Händen der Justiz liegen müsse und dass die von der britischen Regierung angeführten gesundheitlichen Gründe für die chilenische Justiz nicht maßgeblich seien.

10.3.2000 Der spanische Richter Baltasar Garzón erneuert seinen internationalen Haftbefehl gegen Pinochet wegen Völkermords, Terrorismus und Folter.

11.3.1999 Ricardo Lagos tritt sein Amt als dritter Präsident Chiles nach dem Ende der Diktatur an. Er ist zugleich der erste Sozialist in diesem Amt seit dem Sturz Allendes 1973.

15.3.2000 Der Oberste Gerichtshof Chiles weist einen Antrag der US-Justiz zurück, in Chile Vernehmungen im Fall der Ermordung des ehemaligen Ministers Orlando Letelier durchzuführen. Letelier war 1976 in Washington durch die DINA ermordet worden. Für das Verbrechen wurden mehrere hohe Offiziere der DINA in Chile verurteilt, da das Amnestiegesetz von 1978 hier nicht anwendbar war. Ergebnis der neuen Untersuchungen könnte die direkte Verantwortlichkeit Pinochets sein, Der Oberste Gerichtshof ordnete aber an, dass ein chilenischer Richter 46 der von der US-Justiz gewünschten Personen vernehmen solle.

27.3.2000 Nach einer jüngsten Meinungsumfrage wollen 57% der Chilenen, dass Pinochet vor Gericht gestellt wird.

7.4.2000 Das Appellationsgericht von Santiago entscheidet, dass ein Antrag der Verteidigung von Pinochet auf eine Untersuchung des Gesundheitszustandes des Generals erst nach Eröffnung des Verfahrens über die Aufhebung seiner Immunität behandelt werden könne.

26.4.2000 Das Appellationsgericht von Santiago eröffnet das Verfahren um die Aufhebung von Pinochets Immunität mit der Anhörung eines Berichts über die gerichtlichen Untersuchungen im Fall der „Todeskarawane” von 1973. Pinochet, der dem Verfahren nicht beiwohnt, erklärt von seiner Wohnung aus, er habe nie jemanden foltern oder töten lassen.

28.4.2000 Clara Szczaranski, Präsidentin des Consejo de Defensa del Estado (CDE), einer Art Landesanwaltschaft, spricht sich in sscharfen Worten für die Aufhebung der Immunität Pinochets aus.

4.5.2000 Mit einem Stimmenpatt lehnt das Appellationsgericht eine erneute medizinische Untersuchung Pinochets ab.

5.5.2000 Der Oberkommandierende des Heeres, General Izurieta, nimmt demonstrativ an einer Veranstaltung der „Pinochet-Stiftung” teil. Menschenrechtsanwälte verlangen seinen Rücktritt, während Präsident Lagos, wiederholt, er habe dafür zu sorgen, dass die Gerichte frei von Druck ihrer Arbeit nachgehen können.

General Pinochet erhält, mit zweimonatiger Verzögerung, einen Beschluss der argentinischen Richterin Marí­a Servini zugestellt, in dem er aufgefordert wird, sich einen Anwalt zu nehmen, da er als Beschuldigter im Fall des 1974 in Buenos Aires ermordeten ehemaligen Oberbefehlshabers der chilenischen Streitkräfte, General Prats, vernommen werden solle. Pinochet ignoriert den Beschluss.

8.5.2000 Als Antwort auf die Kritik der Anwälte brechen die Militärs ihre Beteiligung am „Dialogtisch” ab. An diesem „Dialogtisch” hatten seit über einem Jahr Vertreter der Streitkräfte und Menschenrechtsanwälte über eine Lösung des Problems der Verschwundenen beraten, ohne Erfolg.

11.5.2000 Wegen der Ermordung des Zollbeamten Juan Jimenez Vidal im Jahr 1973 wird das Verfahren Nr. 100 gegen General Pinochet in Gang gesetzt.

14.5.2000 Präsident Lagos wiederholt öffentlich seine Auffassung, dass die von ihm geforderte Verfassungsreform nicht von einer Einstellung des Verfahrens gegen General Pinochet abhängen dürfe. Dieses Verfahren sei in strikter Autonomie der Justiz durchzuführen.

16.5.2000 Präsident Lagos kritisiert öffentlich ein Treffen der vier Kommandanten der Teilstreitkräfte, das er als unzulässige Ausübung von Druck auf die Regierung interpretiert.

31.5.2000 36 Abgeordnete des amerikanischen Kongresses fordern Präsident Clinton auf, die Auslieferung von Pinochet an die US-Justiz in die Wege zu leiten, falls sich die neuen Indizien für eine Urheberschaft des Ex-Generals im Mordfall Letelier erhärten sollten.

5.6.2000 Mit einer knappen Mehrheit entscheidet das Berufungsgericht von Santiago, die Immunität von Augusto Pinochet als Senator aufzuheben. Damit können die Ermittlungen des Richters Guzmán im Fall der „Todeskarawane” weitergehen. Die Verteidigung Pinochets legt Berufung zum Obersten Gerichtshof ein. Die Familie des ehemaligen Diktators lässt verlauten, dass Pinochet ob der Entscheidung in „tiefe Depression” verfallen sei.

7.6.2000 Unter Missachtung einer ausdrücklichen Aufforderung von Präsident Lagos, sich nicht öffentlich zum Fall Pinochet zu äußern, erklärt der Oberkommandierende der Streitkräfte, General Izurieta, dass das Urteil über Pinochet, wie über andere große Männer, nicht von seinen Zeitgenossen, sondern von der Geschichte zu sprechen sei. Ein anderer General hingegen meint, nur Gott könne über Pinochet urteilen.

Schlagworte: , ,

Kommentare sind geschlossen