Jakob Künzler: Im Lande des Blutes und der Tränen. Erlebnisse in Mesopotamien während des Weltkrieges (1914-1918)

23. Februar 2005 | Von | Kategorie: Rezensionen

Ein bewegendes Zeugnis des Mordes an der armenischen Bevölkerung in der Südosttürkei im Ersten Weltkrieg

Zürich: Chronos-Verlag 2004 (2.Auflage)

1895, 1909 und 1915/16 wurden auf dem Gebiet des Osmanischen Reichs viele Hunderttausend Armenier und Armenierinnen auf oft bestialische Weise ermordet, Ereignisse, die auch hundert Jahre später noch Stoff für erregte Debatten geben und bis heute von den offiziellen Stellen der Türkei bestritten oder verharmlost werden. Dadurch ist europaweit das Interesse an diesen Massakern neu erwacht, die den großen polnisch-jüdischen Juristen Rafael Lemkin schon lange vor dem Holocaust zur Prägung des Begriffs Genozid veranlassten. Wer sich, jenseits des Streits um Zahlen und geopolitische Hintergründe, ein Bild der damaligen Geschehnisse machen will, verfügt über einige bemerkenswerte Zeugnisse von Beobachtern. Neben dem umfangreichen Nachlass des deutschen Pfarrers und Armenienspezialisten Johannes Lepsius sind es vor allem die Schriften des Schweizer Laienmissionars Jakob Künzler, der zusammen mit seiner Frau Elisabeth von 1899 bis 1922 im südostanatolischen Urfa arbeitete, die ein genaues Bild der Verhältnisse in einem Brennpunkt des Geschehens vermitteln. Der Armenienexperte Hans-Lukas Kieser hat Künzlers zuerst 1921 in Potsdam veröffentlichte Schrift zusammen mit einigen ausgewählten weiteren Notizen und einer eigenen kundigen Einleitung neu herausgegeben.

Urfa, das heute nahe der syrischen Grenze zu finden ist, gehörte damals zur osmanischen Provinz Aleppo und war Durchgangspunkt für den Verkehr mit Syrien und allen anderen arabischen Gebieten des Reiches. In der kleinen Provinzstadt lebten vor allem Türken, Kurden, Armenier und Araber. Künzler sprach die vier grundverschiedenen Sprachen dieser untereinander vielfach verstrittenen, aber auch verbundenen Völker und unterhielt gute Beziehungen zu allen – nur so war während des Krieges seine humanitäre Arbeit möglich. Trotz seiner Offenheit zu allen ethnischen Gruppen schlug sein Herz zweifellos besonders für die Armenier, denen ja auch die Arbeit der Mission in erster Linie galt. Deren Aufgabe in Urfa bestand vor allem im Unterhalt eines Krankenhauses und zeitweise von Kinder- bzw. Waisenheimen. Künzler war Zimmermann und Krankenhelfer, bildete sich aber vor Ort medizinisch so weit fort, dass er bald der gesuchteste Arzt der Region war, wenngleich ihn das Fehlen eines “Diploms” immer wieder in große Schwierigkeiten mit den Behörden brachte. Wie aus seinem Bericht deutlich wird, war es nicht zuletzt die strikt an humanitären Kriterien orientierte Ausübung seiner ärztlichen (und administrativen) Arbeit, die ihm so großes Ansehen bei allen Bevölkerungsgruppen einbrachte, dass er selbst noch während der schrecklichen Massaker 1915/16 seine Arbeit nicht ganz einstellen musste. In seinem Krankenhaus lagen Muslime und Armenier bis zuletzt zusammen, ehe die systematische Verfolgung der Armenier durch die türkischen Behörden auch vor seinem Spital nicht mehr haltmachte. Hier und auch in den späteren Jahren erwiesen sich die Künzlers als prinzipientreue Humanisten, die jedem Bedrohten auch unter Lebensgefahr beizustehen suchten. Zugleich aber bewiesen sie ein unglaubliches diplomatisches Geschick im Umgang auch noch mit den fanatisiertesten Sprechern einzelner Gruppen oder Behördenvertretern. Wenn er Leben retten konnte, war Jakob Künzler fast jedes Mittel recht. Listigkeit und wohldosierte Schmeichelei, kleine Erpressungen oder Bestechungen, Flehen und Appelle an die Ehre und Großmut selbst noch von Massenmördern, vor Nichts scheute er zurück, wenn auch nur ein Menschenleben damit zu retten war. Oft allerdings genügte schon seine persönliche Intervention, so groß muss sein Ansehen gewesen sein. Außer den Künzlers gab es sohl niemanden, der mit allen Bevölkerungsgruppen, und mit Opfern und Tätern zu sprechen verstand. Ebenso Elisabeth Künzler. In einem Kapitel beschreibt ihr Mann, wie die christliche Missionarin zu Beginn des Krieges, also noch vor den neuen Massakern an den Armeniern, eine Sammlung für den “Roten Halbmond” organisierte, mit deren Ergebnis verwundete türkische Soldaten versorgt werden sollten. Sie ging dafür im Wohngebiet der Muslime von Haus zu Haus, in Gesellschaft einer vornehmen Türkin, einer armen Araberin und einer etwas geistesgestörten Kurdin. Solche tabuverletzenden und grenzüberschreitenden Aktivitäten legten den Grund für das dichte Netzwerk aus persönlichen Freundschaften und guten Beziehungen, das den Künzlers das Überleben und Weiterarbeiten während des Kriegs ermöglichte. Wenn heute wieder über die Bedingungen humanitärer Hilfe in Bürgerkriegssituationen geklagt und reflektiert wird – vor fast einem Jahrhundert hat ein Schweizer Missionarspaar sich bereits intensiv damit auseinandergesetzt.

Wie sah Künzler nun die Morde an der armenischen Bevölkerung? Zunächst beobachtete er in Urfa wie zahlreiche Züge von deportierten Armeniern, Männer, Frauen und Kindern durch die Stadt und ihre Umgebung getrieben wurden. Später dann musste er die Erstürmung und Zerstörung des armenischen Viertels in Urfa selbst und die systematische Ermordung seiner Bewohner miterleben, Schrecken, die seinen amerikanischen Freund und Missionarskollegen F.H. Leslie in den Wahnsinn und Selbstmord trieben. Die von der türkischen Armee und den Behörden angeordneten Deportationen hatten, wie Künzler mit eigenen Augen und aus vielen detaillierten Augenzeugen erfahren musste, als Ziel die Vernichtung. Zu Tausenden türmten sich in der Umgebung der Stadt die toten Körper von Menschen, die vor Hunger und Durst und vor Erschöpfung starben, aber auch die verstümmelten Leichname von grausam zu Tode gefolterten, erstochenen, erschlagenen oder erschossenen Armeniern. Künzler lässt keinen Zweifel daran, und musste es in mancher Verhandlung mit den Behörden erleben, dass dies von oben angeordnete Aktionen waren. Er konnte aber auch beobachten, wie sich die Bevölkerung dazu verhielt. Entsetzt aber präzise beschreibt er, wie kurdische oder türkische Gruppen die Todgeweihten ausraubten, von Wasserstellen vertrieben, die Frauen massenhaft vergewaltigten und nackt in die Wüste schickten, die ganze Palette extremer Grausamkeit, wie sie sich einen Weltkrieg später im von den Nazis besetzten Osteuropa wiederholte. Er konnte auch im Detail beobachten, wie sich die “Sieger” des Hab und Guts der Ermordeten und Vertriebenen bemächtigten, einschließlich der als Sklaven in Besitz genommenen Kinder und jungen Frauen. Trotzdem bleibt Künzler in der Beschreibung dieser Gräuel von einer eigenartigen leidenschaftlich objektiven Sprache, lässt sich nur gelegentlich zu pauschalierenden Verurteilungen hinreißen. Seine genaue Kenntnis der verschiedenen Bevölkerungsgruppen lässt ihn überall auch diejenigen sehen, die Schutz boten, ihre Haustüren selbst bei großer Gefahr Flüchtlingen nicht verschlossen, die Beamten, die weniger taten als ihnen befohlen war, den Richter, der bis zuletzt das Gesetz gegen den Terror der Militärbehörden ins Feld zu führen suchte. Und die Armenier, für deren Schutz er sein eigenes Leben und das seiner Familie in Gefahr brachte, geraten ihm gleichwohl nicht alle zu vorbildlichen Charakteren, auch hier verschweigt er nicht Verrat und Eigennutz.

Nach dem Krieg schrieb er in einem damals nicht publizierten, jetzt dem Buch angehängten kleinen Aufsatz sogar davon, dass alle, Türken und Armenier ihren Teil der Schuld bekennen sollten, damit sie versöhnt wieder zusammenleben könnten. Hier erweist sich der große Humanist und scharfsichtige objektive Beobachter dann allerdings als ein politischer Analytiker, der sich allzusehr von einem humanistischen Idealismus mitreißen lässt, der damals politisch keine Chance mehr hatte. Künzler selbst hatte nach dem Krieg, 1922, in mehreren großen Trecks Tausende von verwaisten armenischen Kindern aus Ostanatolien bis in den Libanon geführt, und auf diesem gefährlichen Weg ein letztes Mal seine diplomatischen Fähigkeiten und sein enormes Ansehen einsetzen können: Als kurdische Gruppen, die den Treck überfielen, seiner ansichtig wurden, stoppten sie den Raubzug sofort und entschuldigten sich bei ihm. Dass Künzler diesen Marsch in die Emigration später als Fehler bezeichnete, und meinte, er hätte sich für ein Verbleiben der Armenier einsetzen müssen, entspricht sicher nicht der Realität (es war das gleiche Jahr, in dem auch die Griechen aus Westanatolien vertrieben wurden), zeigt aber noch einmal grundsätzliche Dilemmata humanitärer Hilfe auf. Dass Jakob Künzler sich solche Fragen bis zuletzt stellte, macht zusammen mit seiner unglaublichen Tatkraft als Arzt, Organisator, Diplomat und Lebensretter seine Größe aus. “Im Lande des Blutes und der Tränen” – der Titel ist übrigens nicht von Künzler und passt nicht zu dem nüchternen Sprachstil des Buchs – ist nicht nur ein wichtiges zeitgenössisches Zeugnis des Mordes an den Armeniern im Osmanischen Reich, sondern auch der Möglichkeiten und Grenzen humanitärer Hilfe. Jakob und Elisabeth Künzler sollten nicht vergessen werden.

Rainer Huhle

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