Öffentliche Tabus und private Ressentiments – Antisemitismus in Deutschland nach 1945

18. August 2005 | Von | Kategorie: Menschenrechte verstehen

von Otto Böhm

Auch in Bezug auf den Antisemitismus kann die öffentliche politische Entwicklung in Deutschlands Parteien und Institutionen als erfolgreicher historischer Lernprozess verstanden werden. Andrerseits belegen empirische Forschungen und Umfragen den Zusammenhang von aktueller Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus – wer ausländerfeindlich agitiert, ist meist auch antisemitisch eingestellt. Und nicht zuletzt weist die öffentliche Präsenz antisemitischer Stereotype – Juden sind selbst am Judenhass schuld (Möllemann), ein geiler Jude zerstört deutsche Literatur (Walser) – auf eine gewisse sich tabubrechend gebende Rehabilitation von latenten Gefühle und Stimmungen. Latenz kann aber als Spekulation abgetan werden. Deshalb will ich im Folgenden Material und Erklärungen aus der Antisemitismusforschung zusammenzutragen, das sowohl den Lernprozess als auch die These von der kommunikativen Latenz des Antisemitismus plausibel macht.

„Antisemitismus, der als vulgäres Ressentiment, irrwitzige Ideologie oder als mörderische Praxis auftreten kann, reicht von dem Unwillen, Juden in den Golfclub aufzunehmen über Theorien jüdischer Allmacht bis hin zu verletzenden Taten.

Es handelt sich um ein vielfältiges Phänomen, um ein je unterschiedlich ausgeprägtes Konglomerat von missverstandenen christlichen Glaubensüberzeugungen, rassistischen Feindbildern, spinnerten Welterklärungstheorien oder persönlichen Projektionen. Antisemitismus kann sich als persönliche Marotte ebenso äußern wie als kühl kalkulierte Strategie oder paranoide Weltanschauung. Adolf Hitler immerhin forderte in einem frühen Brief einen “Antisemitismus der Vernunft”. Antisemitismus kann, muss aber nicht mörderisch sein – freilich ist die Bahn, wie die Geschichte gezeigt hat, abschüssig ….Judenhass ist heute wieder zum anerkannten Bestandteil der politischen Kultur geworden..”

Micha Brumlik in der Frankfurter Rundschau v. 07.06.2002, unter dem Titel „ Gezielt und ohne Reue”.

Was bis 1945 zum ideologischen und psychologischen Haushalt vieler Deutscher gehörte, kann nach seinem offiziellen Verschwinden nicht einfach verschwunden sein. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass radikale Antisemiten unter den Nazis in der Minderheit waren, hat es doch viele antisemitisch denkende Menschen in Deutschland gegeben, denen ein aktives Eintreten für die Rechte der Juden fern lag.

Kristallisationspunkte eines antisemitischen Meinungsklimas in der Nachkriegszeit

Kurz nach dem Kriegsende stellten us-amerikanische Meinungsforscher fest, dass 40% der Deutschen antisemitisch eingestellt waren. Nach dem Schock der Niederlage und der damit einhergehenden politischen Zurückhaltung kamen wieder alte Ressentiments zum Vorschein, die sich neue Nahrung suchten. Sie entstanden an Konflikten mit Displaced Persons, an Rückgabeansprüchen und an Schwarzmarktgeschäften. Sie gingen einher mit der Forderung nach einem Ende der Entnazifizierung und nach der Wiedereingliederung der Nazis. Gefragt nach ihrer Einstellung gegenüber Juden, zeigten sich 1949 23% der Befragten demonstrativ oder gefühlsmäßig ablehnend, 1952 wurden insgesamt 34 % mit einer insgesamt ablehnenden haltung registriert. Die deutschen Leistungen an den Staat Israel nach dem Luxemburger Abkommen und das Bundesentschädigungsgesetz 1952 hielten 54% der Bundesbürger die Wiedergutmachung an Israel für überflüssig, weitere 24 % für grundsätzlich richtig, aber zu hoch. 29 % sahen darin die Ursache von Antisemitismus. Die Allensbacher Meinungsforscher fragten kontinuierlich: „Würden Sie sagen, es wäre besser für Deutschland, keine Juden im Land zu haben? Von 37% Ja-Aussagen Anfang der 50er Jahre sanken diese Stimmen in den 50er und 60er Jahren auf 9 % 1983, um seitdem wieder leicht anzusteigen.

Nach der Abwehr eines materiellen Ausgleiches an die Opfer des Nationalsozialismus entstand in den 60er Jahren ein weiterer Kristallisationspunkt, die Forderung nach einem Ende der Strafverfolgungen von NS-Taten. Diese Position ist natürlich nicht an sich antisemitisch, auch wenn sie zum Kernbestandteil rechtsradikaler und antisemitischer Agitation gehört.

Neben den von der Meinungsforschung festgestellten Einstellungen gab es auch Manifestationen des Antisemitismus wie die Schändung der Kölner Synagoge Weihnachten 1959, auf die eine antisemitische Schmierwelle in Deutschland folgte. Zugleich war aber ein starkes Gegengewicht, ein Philosemitismus entstanden, der die Aufbauleistungen Israels bewunderte und der Kibbuzim-Bewegung viel Sympathie entgegenbrachte. Der Eichmann- und die Auschwitz-Prozesse Anfang der 60er Jahre verdeutlichten zudem im öffentlichen Bewusstsein, dass die europäischen Juden Opfer der deutschen Politik In der politisch-intellektuellen Öffentlichkeit begann die Kritik an der mangelnden Aufarbeitung des Nationalsozialismus zu überwiegen. Die entstehende Studentenbewegung verband diese Haltung bald mit einer „antiimperialistischen und antizionistischen” Position: Nach dem 6-Tage-Krieg 1967 wird Israel als Militär- und Besatzungsmacht im Dienste des US-Imperialismus betrachtet, langsam geht der hasserfüllte Antizionismus der politischen Linken dazu über, den „Freiheitskampf des palästinensischen Volkes” einschließlich Terrorakten zu unterstützen, bis hin zu vereinzelten Anschlägen auf jüdische und israelische Einrichtungen in Deutschland.

Die achtziger und mehr noch Jahre waren geprägt von einer Zunahme antisemitischer und fremdenfeindlicher Straftaten in Deutschland. Trotz des offiziellen Antizionismus der DDR ermittelte die Meinungsforschung direkt nach 1989, dass die Menschen in den neuen Bundesländern seltener antisemitisch (4-6 %) als Westdeutsche (15 %) sind. Inzwischen haben die Ostdeutschen bereits Westniveau erreicht, allerdings mit einer größeren Verbreitung bestimmter Haltungen unter männlichen Lehrlingen, etwa der Überzeugung, die Juden besäßen zuviel Macht im Lande. Das glaubt en Anfang der 90er Jahre insgesamt in Deutschland 20 % der Befragten (Vergleich: Österreich 28 % Russland 49%)

Lernprozesse in Politik und Öffentlichkeit

Das erklärte politische Ziel Adenauers war, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen und sich mit den Juden auszusöhnen, war verbunden mit einem kalten Krieg gegen die Opfer und ihre materiellen und symbolischen Ansprüche, zum Beispiel vor Gericht. Dennoch wandelten sich die Institutionen langsam, die Politik nahm eine Renazifizierung nicht hin. 1952 verbot das Bundesverfassungsgericht die Sozialistischen Reichspartei. Die Parteien sprachen sich programmatisch gegen Rassenhochmut aus, die SPD trat auch für Wiedergutmachung und Strafverfolgung von NS-Taten ein. Adenauer forderte 1951 eine Erziehung im Geist der Toleranz und scharfe Strafverfolgung von antisemitischer Hetze. In Zusammenhang mit 685 Fällen von antisemitischen Schmierereien von Ende 1959 bis Ende Januar 1960 (82% der Deutschen waren nach Umfragen für eine Bestrafung der Täter) gab es gesetzgeberische (Bestrafung von Volksverhetzung) und bildungspolitische Maßnahmen, die den Rückgang antisemitischer Haltungen vor allem in der nachwachsenden Generation förderten.

Trotz der offiziellen Tabuisierung antisemitischer Denkfiguren war die Geschichte der Bundesrepublik geprägt von einer langen Kette von Affären, in den vor allem um den richtigen Umgang mit dem Holocaust gestritten wurde. Dominierend wurde in diesen Auseinandersetzung ein Eintreten für eine öffentliche Erinnerungskultur. Der Berliner Antisemitismusforscher Benz zieht das Fazit: „Dennoch. in Deutschland, wie generell in USA und Europa, hat der Antisemitismus heute deutlich an gesellschaftlicher Akzeptanz verloren und ist weitgehend tabuisiert. Juden genießen staatlichen Schutz und Antisemitismus wird vom Staat, den Massenmedien und den vielen gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen bekämpft, die ihre antijüdische Traditionen, wie etwa die Kirchen – revidiert haben. Soziale oder politische Krisen werden nicht mehr mit Juden verknüpft, sodass Antisemitismus als Erklärungsmodell nur noch in marginalisierten rechtsextremen Gruppen vorkommt.” Dazu kommt: Die jüdische Minderheit wird öffentlich intensiv wahrgenommen, sie macht sich bemerkbar. Sie hat Konjunktur als Objekt der Literatur und sonstiger Sparten der öffentlichen Kultur. Daraus wächst politische Solidarität auch mit dem Existenzrecht des Staates Israel.,

Besonders zu erwähnen ist m.E. der Lernprozess der Linken: am Beispiel der Grünen

Die Studentenbewegung hatte 1967 den Philosemitismus Springers und die deutsche Israel-Sympathie angesichts des Blitzkrieges auf Sinai als Entlastungsversuch denunziert, stattdessen wurden die Palästinenser als die aktuellen Opfer des Faschismus begriffen. „Die Zionisten „zeugen den Behemoth fort” (so der Titel einer Ende der 60er Jahre kursierenden Schrift). Die Grünen haben unter vielen Wendungen und Windungen sich zu einem eindeutigen Bekenntnis für das Existenzrecht Israels durchgerungen und sind inzwischen weit entfernt von der Sympathie der Studentenbewegung für den palästinensischen Terrorismus.

Diese Auseinandersetzung hat auch viele Evangelischen Studentengemeinden in den 70er intensiv beschäftigt.

Holocaust als Focus eines sekundären, schuldabwehrenden Antisemitismus

Jenseits der Konjunkturen, Konflikten und Meinungen ist der Antisemitismus auch nach 1945 in Deutschland latent vorhanden, Forscher nennen ihn „sekundären Antisemitismus”. Der Bezug zu den Juden im Land spielt keine entscheidende Rolle mehr. Seit 1948 kann vielmehr ein Antizionismus die Juden kollektiv haftbar machen für die Politik Israels. Geringere Bedeutung als vor 45 hat offensichtlich auch die rassistische Zuspitzung; das zeigt, dass ein antisemitisches Weltbild nicht einfach eine Spielart des Rassismus ist, der durch Aufklärung und Toleranzappelle überwinden wäre.

Unterhalb der offiziellen Tabuisierung, die hier etwas heilsames für die Gesellschaft hätte, sehe ich verschiedenen Facetten eines in der Kommunikation latent vorhandenen Ressentiments gegenüber Juden und der Erinnerung an die ihrem Volk durch Deutsche zugefügten Leiden. Der Überdruss an der Konfrontation mit dem Holocaust („genug, zuviel, zulange”) verwandelt sich in den Wunsch und den Anspruch auf ein normales Verhältnis zu den Juden, zu Israel und zur eigenen Geschichte. Jüdische und auf der Erinnerung an den Holocaust insistierende Stimmen werden als Störenfriede wahrgenommen., die die Normalität verweigern. Die „Dauerkritik an Deutschland” und die Verteidigung Israels wird darauf zurückgeführt, dass die „Juden zuviel Macht in der Welt haben”. Der Berliner Antisemitismusforscher Werner Bergmann schreibt: „Die Unmöglichkeit der Normalität wird als Weigerung seitens der Juden wahrgenommen und führt zu einem sekundären Antisemitismus, der ins Private eingeschlossen bleibt, da ihm öffentliche Äußerungsmöglichkeiten bisher weitgehend fehlten. Wir sprechen deshalb von einem “škommunikationslatenten Antisemitismus‘ “.

Die antisemitische Reaktion auf die Ausrottung der europäischen Juden besteht in der Leugnung oder in einer Schuldprojektion auf Juden (Wollen sie nicht das auserwählte Volk sein? Warum müssen immer wir Deutschen die Bösen Sein? Nicht häufige, aber regelmäßige Fragen in meiner politischen Bildungsarbeit).

Wolfgang Benz, Leiter des Antisemitismus-Institutes in Berlin, fasst seine Analyse zu folgendem Fazit zusammen: „Ein geschlossener antisemitischer Vorurteilskomplex hat heute an Bedeutung verloren, er hat auch seine Qualität und Motivation geändert. Es geht bei ihm heute nicht primär um Gruppenkonflikte, also um rechtliche Gleichstellung, religiöse Toleranz, wirtschaftliche Konkurrenz, sondern um ein Ressentiment, das sich als „sekundärer Antisemitismus” aus den Problemen im Umgang mit der NS-Vergangenheit, insbesondere mit dem Holocaust ergibt.”

Ps.: Um Missverständnisse bei diesem schwierigen Thema zu vermeiden: Wenn ich von Schuldabwehr schreibe, gehe ich nicht von einer Kollektivschuld aus, sondern von einer historischen Schuld und Verantwortung, die wir tragen sollten. Daher fühle ich mich zum Schreiben dieser Hinweise auch eher verpflichtet als von „antifaschistischer Empörungsbereitschaft” (Thomas Schmid im FAZ-Leitartikel vom 6. Juni 2002) getrieben.

Wesentliche Argumente und alle empirischen Befunde dieses Textes sind nachzulesen in:

Benz, Wolfgang: Bilder vom Juden – Studien zum alltäglichen Antisemitismus; Beck-Verlag München 2001

Bergmann, Werner/Erb, Rainer: Antisemitismus in Deutschland 1945 – 1996, in:

Benz, Wolfgang, Bergmann, Werner: Vorurteil und Völkermord – Entwicklungslinien des Antisemitismus; Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997.

Bergmann, Werner: Geschichte des Antisemitismus, Beck-Verlag, München 2002.

Reemtsma, Jan Philipp: Zur historischen Dynamik des Antisemitismus, in: Hutter, Farnz-Josef/Tesmer, Carsten (Hrsg.): Menschenrechte und Bürgergesellschaft in Deutschland, Verlag Leske und Budrich, Opladen 1999.

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