Gabbert, Karin u.a. (Hg.): Neue Optionen lateinamerikanischer Politik

20. Januar 2007 | Von | Kategorie: Rezensionen

Jahrbuch Lateinamerika 29. Verlag westfälisches Dampfboot, Münster 2005. 201 S.

Von den Schwierigkeiten eines “anderen Lateinamerika”

Ist ein anderes Lateinamerika möglich? Diese Frage ist der Leitfaden des Jahrbuchs Lateinamerika Nr. 29. Als Reaktion auf drei Jahrzehnte Militärregierungen und Neoliberalismus hat es in Ländern wie Venezuela, Brasilien, Argentinien, Uruguay, Chile und Bolivien Machtverschiebungen gegeben, die man etwas vage als “Linksrutsch” bezeichnen kann. Welche Reformpotentiale haben diese Länder und welche politischen Spielräume ihre Regierungen?

Die in Brasilien regierende Arbeiterpartei und Präsident da Silva (Lula) stellten sich nach ihrem historischen Wahlsieg 2003 den wirtschaftspolitischen Realitäten und setzte auf Stabilität statt permanenter Mobilisierung ihrer Anhänger. Der aus der Gewerkschaftsbewegung hervorgegangenen Lula ist ein “Moderator der Widersprüche” der brasilianischen Gesellschaft. Eine Zwischenbilanz seiner bisherigen Politik lässt auch bei vorsichtigem Optimismus daran zweifeln, ob dieses lateinamerikanische Schlüsselland die Macht des nationalen und internationalen Kapitals zu zähmen in der Lage ist.

Der argentinische Präsident Néstor Kirchner ist das Resultat der Wirtschaftskrise des Landes von 2001/02, während der das Land seine Zahlungsunfähigkeit erklären musste. Aus dem Staatsbankrott hat Kirchner einen Trumpf bei den Neuverhandlungen mit den Schuldnern gemacht (dem Nackten kann man nicht in die Tasche greifen) und Maßstäbe gesetzt, die zum Modell für ähnliche Fälle werden könnten. Die im argentinischen Fall sichtbar werdende Krise der neoliberalen Hegemonie hat den politischen Spielraum der betroffenen Länder und ihrer Regierungen erhöht. Die Macht, ohne die ein radikaler Bruch mit Armut und Unterentwicklung nicht möglich ist, haben aber immer noch die nationalen Bourgeoisien und die internationalen Finanzmärkte.

In Argentinien und Brasilien setzen die Reformregierungen auf einen stärkeren Staat, der aber durch die Privatisierungspolitik der neoliberalen Ära viele seiner Regelungsinstrumente (Energie- und Versorgungssektor, Rentensystem) verloren hat, verschuldet ist und von Lobbys gelähmt wird. In vielen Landesteilen sind staatliche Behörden kaum präsent. Der “Neopopulismus” (Boeckh) des venezuelanischen Präsidenten Hugo Chaves könnte ein Abgleiten in ein autoritäres Regime mit sich bringen. Die Gewinne aus dem Ölexport werden klientilistisch und an staatlichen Stellen vorbei unter der verarmten Bevölkerung verteilt, aber nicht in Anlageinvestitionen geleitet, wodurch die Abhängigkeit vom Ölexport gesteigert und die Zukunftsfähigkeit der chavinistischen “Revolution” in Frage gestellt wird.

In Bolivien, das keine starke nationale Bourgeoisie hervorgebracht hat, prallen die unterschiedlichen regionalen und sozialen Interessen seit jeher aufeinander und haben zu allzuhäufigem Regierungswechsel geführt. Stabile Phasen gab es während Banzers Militärdiktatur und dem Neoliberalismus, der kontinuierliche Wirtschaftsbedingungen brauchte. Der Versuch, die sozialen Proteste dauerhaft einzufrieden und konstruktiv zu wenden, haben zum Mitte der neunziger Jahre eingeführten Projekt der participación popular (Volksbeteiligung) geführt, das in der Diskussion um eine geplante neue Verfassung eine wesentliche Rolle spielt. Im Kern geht es dabei um Dezentralisierung. Die protestierenden Bauern, Indios oder Konsumenten sind allerdings Teil einer autoritär strukturierten politischen Kultur mit lediglich rhetorischen Alternativen, und es steht zu befürchten, dass die Veränderungspotentiale in einem Teufelskreis gegenseitiger Blockaden verpuffen. Positiver schätzt ein Beitrag das zapatistische Experiment in Mexiko ein. Hier allerdings hat sich die indigene Bevölkerung Freiräume auf Gebieten (Gesundheit, Erziehung) erobert, um die der Staat sich ohnehin nie wirklich gekümmert hat und die er heute liebend gern privaten Initiativen überlässt.

Der aus der Krise des Neoliberalismus entstandene “Linksruck” einiger lateinamerikanischer Länder ist also recht disparat, und an seiner Zukunftsfähigkeit sind Zweifel angebracht. Die Autorinnen und Autoren des Bandes sehen zwei Ansätze für ein “anderes Lateinamerika”: Sich stabilisierende bilaterale Wirtschaftsbeziehungen oder multilaterale lateinamerikanische Binnenmärkte und eine dauerhafte politische Präsenz der marginalisierten Mehrheiten.

So bleibt als Antwort auf die Frage nach einem anderen Lateinamerika der an die Regierenden gerichtete Schlachtruf vieler Protestbewegungen “Que se vayan todos” (Ihr könnt alle abhauen), der sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht. Das Machtvakuum, das durch die Proteste entsteht, wird von einer neuen Elite gefüllt, die hinter ihrem Banner die alten klientilistischen, personalistischen und autoritären Strukturen einherschleppt. Solange das so ist, ist kein anderes Lateinamerika möglich.

von Dieter Maier

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