Thomas Buergenthal: Ein Glückskind

20. Mai 2007 | Von | Kategorie: Rezensionen

Frankfurt (S.Fischer) 2007, 272 Seiten

Am 19. April 2007 verlieh die Juristische Fakultät der Universität Göttingen dem amerikanischen Völkerrechtler Thomas Buergenthal die Ehrendoktorwürde. Keine aufsehenerregende Meldung, könnte man meinen, schließlich ist Buergenthal Autor zahlreicher vielzitierter juristischer Fachwerke, war Gründungsmitglied des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs (wo er 12 Jahre als Richter, zuletzt als Präsident des Gerichts tätig war) und ist derzeit Richter am internationalen Gerichtshof in Den Haag. Solchen Koryphäen verleiht jede Universität gerne Ehrendoktorhüte.

Um zu verstehen, dass es sich bei der Göttinger Auszeichnung um mehr handelt, muss man Thomas Buergenthals jüngstes Buch lesen, das so gar nichts mit seinen juristischen Fachbüchern gemein hat. Mehr als 60 Jahre hat der heute 76-jährige Autor gezögert, seine Kindheitserinnerungen zu Papier zu bringen. “Wie ein kleiner Junge zwei Ghettos, Auschwitz und den Todesmarsch überlebte und ein zweites Leben fand”, fasst der Untertitel des Buches diese Kindheit zusammen, die Buergenthal nach seiner Auswanderung 1951 in die USA hinter sich gelassen hat, ohne sie, wie er schreibt, natürlich je abschütteln zu können, schon gar nicht mit der Nummer B-2930 auf dem Arm eintätowiert. Dass Buergenthal als erfolgreicher Jurist sich nicht den lukrativen Möglichkeiten dieses Standes in den USA zuwandte, sondern schon bald zu einem der wichtigsten Menschenrechtsjuristen in den USA und darüber hinaus wurde, hängt zweifellos mit seiner Lebensgeschichte zusammen, und doch haben nur wenige davon gewusst, denn Buergenthal hat zwar, wie er selbst sagt, nie die Scheu vieler Überlebender der NS-Vernichtungslager empfunden, über diese Jahre zu sprechen, doch offenbar wollten nicht viele Menschen, angefangen bei seinen Kindern, sie hören. Und wenn man sein Buch liest, das in kaum fassbarer Nüchternheit und Unbefangenheit auch die entsetzlichsten Erlebnisse dieser Kindheit beschreibt, dann begreift man nur schwer, wie der Autor selbst nach so langen Jahren die Abgeklärtheit, und oft genug sogar Anflüge sanfter Ironie aufbringt, die seinen Erzählstil auszeichnen. Vielleicht liegt es daran, dass Buergenthal viel Mühe darauf verwendet, seine damaligen Gefühle zu erinnern, sie auch dann offen zu legen, wenn sie seinen heutigen moralischen Überzeugungen widersprechen. Und dass diese Gefühle schon damals widersprüchlich waren. Denn was ihn die extremste Form der Barbarei überleben ließ, war eine Serie von Ereignissen, die dem Buch zu seinem merkwürdigen Titel verhalfen: eine Kette von glücklichen Momenten, Glück im Doppelsinn des deutschen Wortes: eine Reihe von glücklichen Zufällen, vor allem aber von glücklichen Begegnungen mit Menschen, die dem Kind im entscheidenden Moment halfen, fremden Menschen unter den Mithäftlingen und gelegentlich sogar den Peinigern, die dem kleinen “Tommy” seinen Gang durch das Ghetto von Kielce, durch Auschwitz und Birkenau, auf dem Todesmarsch von Auschwitz nach Sachsenhausen, wo ihm zwei erfrorene Zehen amputiert wurden, und schließlich auf dem Rückweg nach Polen durch die Fronten der letzten Kriegstage das Überleben ermöglichten. Nicht nur physisch haben diese winzigen Taten von Menschlichkeit dem Kind zum eigentlich unmöglich scheinenden Überleben verholfen. Wer so beschützt wurde, der versteht nicht nur, wie Buergenthal schreibt, “auch gefühlsmäßig, was es heißt, ein Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu sein.” Der kann auch in heutigen Zeiten, wo seine eigene Regierung und andere den Menschenrechtsschutz wieder zurückzudrehen versuchen, gelassen erklären: “Sie mögen sagen, ich bin ein Idealist, das ist ein blöder Kerl – aber ich habe eben einen Grund dafür, optimistisch zu sein.” (Interview in der taz vom 12.4.2007)

Gleichwohl verzichtet Buergenthal darauf, nun den Bogen von seinen Kindheitserinnerungen zu seiner Arbeit als Menschenrechtsjurist zu (über)spannen. Das Buch endet mit seiner Auswanderung als 17-Jähriger in die USA. Schließlich muss man nicht durch Auschwitz und Sachsenhausen gegangen sein, um Menschenrechtsverteidiger zu werden. Dies, so erklärt uns Buergenthal lakonisch, war sein zweites Leben.

von Rainer Huhle

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