Eine lange Nachgeschichte – Der Fall des SS-Standartenführers Walther Rauff nach 1945 in Chile

3. Juni 2008 | Von | Kategorie: Weltregionen, Amerika

von Ingo Kletten
Mai 2008

SS-Standartenführer Walther Rauff war der Organisator des Einsatzes von Gaswagen, mit denen in dem von der Deutschen Wehrmacht besetzten Osten fast 100.000 Juden ermordet wurden. Er soll nach neuesten Informationen für den israelischen Geheimdienst gearbeitet haben. Der chilenische Historiker Ví­ctor Farí­as behauptete wiederholt, der von Pinochet gestürzte chilenische Präsident Salvador Allende habe Rauffs Auslieferung an Deutschland verhindert. Aus Anlass von Allendes 100. Geburtstag am 26. Juni 2008 untersucht Ingo Kletten diese Informationen auf der Basis von Akten des Auswärtigen Amtes in Berlin und Informationen aus Chile.

Am 29.03.2007 schrieben Shraga Elam und Dennis Whitehead in der israelischen Zeitung Haaretz
(In the service of the Jewish state, www.haaretz.com/hasen/spages/843805.html), dass der im Aufbau begriffene israelische Geheimdienst nach dem zweiten Weltkrieg Walther Rauff in Italien als Agent anheuerte und ihn als Informanten in Syrien einsetzte, da die Araber Rauff für vertrauenswürdig gehalten hätten. Nach einem Umsturz in Syrien verhalfen die Israelis Rauff 1949 zu einem italienischen Einreisevisum für Ecuador, wo er am 3.12.1949 mit seiner Familie einreiste, so der Artikel.

Die Behauptung, dass Rauff für den israelischen Geheimdienst gearbeitet habe, ist nicht neu, aber seit dem Artikel in Haaretz gut belegt. Aus damaliger Sicht heiligte die Gründung des Staats Israel alle Mittel. Es ging nicht um gut und böse, sondern ums Überleben.

Auch das Leben Rauffs nach dessen Flucht aus Europa zeigt Zwiespältigkeiten und ist bis heute Anlass für vorschnelle Urteile. Rauff lebte in Ecuador unter dem Namen Raliff, was er bei einem Paßantrag gegenüber der deutschen Botschaft mit einem Schreibfehler in seinem libanesischen Pass begründete. Man kannte ihn auch unter den Namen „Raue“ und Rauff. Der deutsche Besitzer eines Salon in Ibarra (Ecuador) hörte ihn dort einmal mit einem anderen Deutschen über die „guten alten Zeiten“ reden. Er habe auf den Tisch geschlagen und gesagt: „Noch wissen wir nicht was kommt, aber Sie können versichert sein, wir vergessen keinen“, worauf der Salonbesitzer ihn herauswarf (Brief v. Eduard Mantheim, 6.11.62).

1958 siedelte Rauff nach Chile über, wo seine Söhne Alf und Walter die Offizierslaufbahn begonnen hatten. Rauff arbeitete bis zum Tode seiner Frau 1961 in Santiago und zog dann nach Porvenir im Feuerland, dem dünn besiedelten äußersten Süden Chiles, wo er Teilhaber an einem kleinen Unternehmen für Fischfang und -verarbeitung Sociedad Com. é Imp. Sara Braun Ltda. war. Dort, in der Nähe der Antarktis, war die Luft rein. „Ich bleibe hier, weil ich jeden sehen kann, der kommt und geht. Niemand würde versuchen, mich hier zu kriegen“, sagte Rauff (Jewish Observer and Middle East Review, 15.4.1966).

Der Auslieferungsantrag

1962 fühlte die bundesdeutsche Justiz beim Auswärtigen Amt (AA) wegen eines Auslieferungsantrags gegen Rauff vor. Da die deutsche Botschaft in Santiago am Erfolg des Antrags zweifelte, bat sie den „bekannten jüdischen Anwalt und Professor für Strafrecht“ Miguel Schweitzer um ein Gutachten. Schweitzer, der nach dem Putsch Justizminister Pinochets wurde und nach dessen Verhaftung in London 1998 zu seinem Verteidigerteam gehörte, kam zu dem Ergebnis, dass der Oberste Gerichtshof die Auslieferung wegen der in Chile geltenden Verjährungsfristen und des politischen Charakters der Straftaten, auf die Rauff sich berufen werde, ablehnen würde. Botschafter Strack schloss sich dieser Einschätzung an. Die Botschaft versuchte es dennoch und nahm nach Rücksprache mit dem AA Rechtsanwalt Novoa als Beistand. In Chile hätte ein förmliches Verfahren angestrengt werden müssen für Taten, die in beiden Staaten strafbar und in Chile nicht verjährt waren. Die deutsche Justiz warf Rauff Taten im Jahre 1942 vor, für die die chilenische Verjährungsfrist 15 Jahre betrug. Novoa musste argumentieren, dass die Unterbrechung der Verjährungsfrist durch den deutschen Haftbefehl auch für Chile galt. Da es kein chilenisch-deutsches Auslieferungsabkommen gab, waren viele Vorgehensweisen nicht geregelt.

Der deutsche Haftbefehl genügte für eine vorläufige Auslieferungshaft. Rauff wurde am 3.12. 1962 um 23 Uhr in Punta Arenas verhaftet und am nächsten Tag nach Santiago geflogen. Bei der Vernehmung machte er einen „ruhigen Eindruck“. Er sagte, er sei 1925 als Kadett der deutschen Kriegsmarine in Valparaiso und Punta Arenas gewesen. Er habe im zweiten Weltkrieg „niemals an einer Exekution teilgenommen“. Von der Ermordung von Juden in den Gaswagen habe er nichts gewußt; er habe nur einmal zwei dieser Wagen auf einem Parkplatz in Berlin gesehen. Nach dem Krieg sei er von den Briten wegen der Gaswagen befragt, aber nicht einmal als Zeuge vor den Nürnberger Gerichtshof geladen worden (1) Er sei aus dem Gefangenlager („Konzentrationslager“) in Italien geflohen und habe sich eineinhalb Jahre in katholischen Klöstern versteckt. Mit Hilfe eines katholischen Priesters habe er seine Frau aus der Sowjetischen Besatzungszone geholt und sei dann „mit einem Vertrag des syrischen Staates“ nach Syrien ausgereist. Er sei 1948 eineinhalb Monate im Libanon gewesen. „Später war ich mit meiner Familie in Ecuador“, sagt das Protokoll ohne Übergang.

Rauff legte Rechtsmittel gegen die geplante Abschiebung ein. Er hatte gute Karten. Er stand nicht im deutschen Fahndungsbuch und auch nicht auf einer Liste von 300 NS-Tätern, die die israelische Gedenkstätte Yad Vaschem den deutschen Behörden geschickt hatte. Es gab keinen israelischen Auslieferungsantrag. Bei der Vernehmung sagte er, er sei 1959, 1961 und 1962 unbehelligt in Deutschland gewesen. Von dieser Information war das chilenische Gericht, wie die Botschaft schreibt, „etwas beeindruckt“. Welcher Staat bittet um Auslieferung eines Mannes, der kurz zuvor drei mal dort war? Wie kam es, dass Rauff nicht im Fahndungsbuch stand und Israel ihn nicht wollte? Die deutschen Behörden waren schlecht vorbereitet. Botschaft und AA, die mindestens seit 1961 von dem geplanten Auslieferungsantrag wussten, standen nun auf einmal unter Zeitdruck und mussten dringend Beweismaterial beschaffen und übersetzen lassen. Die Kommunikationswege liefen von der Staatsanwaltschaft Hannover über das niedersächsische Justizministerium, das Bundesjustizministerium, das AA, die Botschaft in Santiago und das dortige Außen- und Innenministerium zum chilenischen Oberstern Gerichtshof und auf demselben Weg zurück.

Die deutsche Justiz hielt zunächst Rauffs Aussage, er sei dreimal in Deutschland gewesen, für eine Schutzbehauptung, bis sie kleinmütig eingestehen musste, dass es stimmte. Rauff war zum Beispiel auf der Hannoveraner Messe gewesen, also in der Stadt, in der die Ermittlungen gegen ihn geführt wurden.

Deutsche Beteiligte an den Gaswagen-Aktionen haben Rauff konkret belastet. Aber es war zunächst unklar, wie der Auslieferungsgrund zu formulieren war. In einem Telegramm vom 10.12.1962 an die Botschaft in Ecuador ist die Rede vom „dringenden Verdacht, sich durch [im Entwurf durchgestrichen: „seine Mitwirkung am Bau und Einsatz dieser [Gas-]Wagen“, handschriftlich: „seine Beteiligung“] des Mordes in mindestens 97.000 Fällen strafbar gemacht zu haben.“ Diese Unklarheit zieht sich durch die hektische Korrespondenz, die nun einsetzte, bis sich „Beteiligung“ und „schuldig“ statt „strafbar“ durchsetzte.

Teile der chilenischen Öffentlichkeit waren gegen eine Auslieferung Rauffs. Der Auslieferungsantrag wurde als Einmischung empfunden. Rauffs Aussagen waren bei den Nürnberger Prozessen mehrfach als Beweismaterial benutzt worden, und es irritierte, dass er nun so viel später ein Täter sein sollte.

Deutsche genießen in Chile ein hohes Ansehen, und um so mehr deutsche Weltkriegsoffiziere in Militärkreisen. Das deutsche Konsulat im nordchilenischen Antofagasta schrieb am 4.3.63 an die Botschaft in Santiago zu den örtlichen Reaktionen auf Rauffs Verhaftung: „Am meisten kommentiert wurde er [der Fall Rauff ] in Offizierskreisen der hiesigen Division des chilenischen Heeres, da zwei augenbl. hier stationierte Regimentskommandeure Herrn Rauff von Jahren in Ecuador kennenlernten und sich scheinbar sehr mit ihm angefreundet hatten. Sie bezeichnen ihn als einen sehr kultivierten Menschen, dem man von seiner Vergangenheit nichts anmerke. Zum Urteilsspruch in 1. Instanz kommentierten diese selben Herren, dass es wünschenswert wäre, wenn das Oberkommando des chilenischen Heeres intervenieren würde, um die Frage der Disziplin ein für alle mal klarzustellen. Ihrer Ansicht nach war das Nürnberger Gericht schon ein Irrtum, und eine weitergehende Bestrafung des Gehorsams Untergebener könne das ganze Prinzip der Disziplin im chilenischen Heer untergraben.“ Diese Passage legt nahe, dass es sich um dieselben Offiziere handelte, die dafür Sorge getragen hatten, dass Rauffs Söhne Alf und Walter als Ausländer chilenische Offiziere werden konnte. Sollte dies so sein, muss diesen Offizieren der unterschied zwischen „Rauff“ (Alf und Walter) und „Raliff“ (Walther) aufgefallen sein. Der Wunsch der Offiziere, das Oberkommando des Heeres solle sich in die Rechtssprechung des Obersten Gerichtshofs einmischen, deutet auf mangelndes Bewusstsein vom Rechtsstaat.

Der Brief des Konsulats nennt die Namen der Offiziere nicht. Einer der beiden war Augusto Pinochet, der von 1956 bis 1959 als Mitglied einer kleinen Militärmission zum Aufbau der dortigen Kriegsakademie in Ecuador und 1963 als Heereskommandeur in Antofagasta war. Martin Cüppers hat aus einem Interview des früheren Stern-Redakteurs Gerd Heidemann mit Rauff entnommen, dass die beiden seit ihrer gemeinsamen Zeit in Ecuador befreundet waren. Damit ist klar, wen das deutsche Konsulat in Antofagasta meinte.

Der Oberste Gerichtshof lehnte am 26.4.63 Rauffs Auslieferung ab und hob die Haft auf. Das knappe Urteil unterscheidet deutlich zwischen der moralischen und der formalen Komponente: „Die Massenausrottung von Menschen aus rassischen Gründen stellt die hinterlistige Begehung von Verbrechen dar, die dem Rechtsbewußtsein der zivilisierten Welt widerstreiten und das politische Regime, das die fluchwürdigen Pläne ersann, plante und ausführte, mit unausrottbarer Schmach belasten. Trotzdem hat sich das Gericht mit der Verjährung der Strafverfolgung abfinden müssen, weil nach seiner Auffassung dieser Einwand nach den Grundsätzen des Völkerrechts unbestreitbar ist.“ (vollständiger Text, Übersetzung aus den Akten des AA). Die Aussage ist eindeutig: Wir würden gerne, aber wir können nicht.

Eine deutsche Gemeinschaft am Ende der Welt

Ernst Schäfer, der deutsche Konsul für die Provinz Punta Arenas, in der Porvenir liegt, schrieb, Rauff habe sich „immer und in jeder Beziehung als korrekter Mann betragen“ (Brief an die Botschaft v. 12.6.63). Schäfer, der lange Vizepräsident und Präsident des Deutschen Vereins von Punta Arenas gewesen war, schrieb, Vereinspräsident Lahmann habe ihm sein „menschliches Bedauern“ ausgedrückt und sah Rauffs Verhaftung als „gefährlicher“ für die „Integrität unserer Gemeinschaft“ an als alles Frühere. Am 10.8.64 schrieb Schäfer an die Botschaft, ein Herr Levi habe Rauff in der Soc. Com. é Imp. Sara Braun, deren Chef Rauff 1958/59 gewesen sei, erkannt und blutig geschlagen und im Polizeiverhör beteuert, das nächste Mal werde er ihn totschlagen. Rauff verzichtete auf eine Anzeige und heilte seine Gesichtswunde im Verborgenen aus.

Rauff hielt sich auch sonst mit öffentlichen Auftritten zurück. 1966 fand ihn aber ein Team des US-Senders NBC-TV. Er habe im 2. Weltkrieg seine Pflicht getan, sagte er im Interview. Vielleicht helfe der Vietnamkrieg dem amerikanischen Volk zu verstehen, was damals in Deutschland geschehen sei. Kurz darauf interviewte der Sender eine Freundin Rauffs, die sagte, Rauff liebe keine Stierkämpfe, weil es grausam sei, wehrlose Tiere zu bekämpfen (Sendungen v. 25. April und 2. Mai 1966, Transkripte in Akten des AA). „Sind Sie schuldig?“, fragte ein anderer Reporter. „Nein“, sagte Rauff. Im Krieg erhalte man Befehle und müsse sie ausführen. Die Wörter morden, massakrieren, töten bedeuteten alle dasselbe. Es gebe keine Zeit für Gefühle. Dann spricht Rauff von einem Buch des französischen Revisionisten Maurice Bardèche über die Nürnberger Prozesse (chil. Zeitungsbericht ohne Quellenangabe, Archiv Fritz Bauer Institut).

Rauff nahm an diesem südlichsten Zipfel der bewohnten Welt die Rolle des zivilisationsbringenden gringos ein. 1966 fuhren der örtliche Gouverneur und der Polizeichef der deutsche Botschafter Gottfried von Nostitz, der am Widerstand gegen Hitler beteiligt gewesen war und gerade eine Dienstreise nach Porvenir machte, zur „besten Fabrik“ der Gegend, die, wie es in dem Bericht von Nostitz heißt, zudem mit Kapital des (von den Nationalsozialisten arisierten) deutschen Kaufhauses Hertie errichtet worden sei. Von Nostitz stutzte und fragte, ob der Gouverneur „einen gewissen Rauff kenne und ob dieser etwas mit der Fabrik, vor der wir inzwischen angelangt waren, zu tun habe. Der Gouverneur bejaht beides mit der größten Selbstverständlichkeit. Rauff leite sie, und schon war er in den Hof hineingefahren. Ich konnte nur noch erwidern und tat dies sehr deutlich, dass ich dem Herrn nicht zu begegnen wünschte. Der Gouverneur antwortete, ich brauchte dies nicht zu befürchten, Rauff sei abwesend.“ (Botschaft an AA, 17.1.66). Wenn Ausländer kamen, hielt sich Rauff diskret im Hintergrund.

Ein zweiter Versuch

Im August 1972 bat Simon Wiesenthal in einem Brief den sozialistischen chilenischen Präsidenten Salvador Allende, die „Entscheidung der chilenischen Regierung aus dem Jahre 1963 überprüfen“ zu lassen. Wiesenthal verwechselt hier die Regierung mit dem Obersten Gerichtshof. Allende erwiderte (ungewöhnlicherweise mit Briefkopf des chilenischen Außenministeriums): „Was die Möglichkeit betrifft, einen Auslieferungsantrag zu erneuern, wäre es die gesetzliche conditio sine qua non, erneut einen Antrag auf diplomatischem Wege zu stellen, dies würde in die ausschließliche Zuständigkeit der chilenischen Gerichtsbarkeit fallen [“¦] Dies sind die konstitutionellen und rechtsgültigen Bestimmungen Chiles, an die ich mich halten muss“ (undatiertes Schreiben von vor Mitte Okt.1972, Übersetzung des AA, span. Original in Farí­as 2000 S. 453). Allende betont in seinem Schreiben mehrfach, dass er nicht in der Lage sei, Rauff einfach auszuweisen. Dieses Insistieren auf dem verfassungsmäßigen Aspekt dürfte auf Wiesenthals in diesem Punkt irrige Anfrage zurückgehen. Der chilenische Botschafter in Wien übergab Wiesenthal den Brief.

Wiesenthal schickte Allendes Schreiben an die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltung Ludwigsburg (zuständig für die Verfolgung von NS-Verbrechen), die ihn an die niedersächsische Justiz weiterleitete. Wiesenthal kommentierte in einem Begleitschreiben Allendes Brief: „Wie Sie aus dem Inhalt ersehen, regt Allende an, einen neuen Auslieferungsantrag zu stellen. Sie müssen verstehen, dass er doch nicht direkt sagen kann, es solle ein Antrag gestellt werden, aber aus dem Tenor des Briefes geht auch das hervor“ (Brief an Oberstaatsanwalt Rückerl v. 24.10.72). In Wiesenthals Deutung mag ein Gespräch mit dem chilenischen Botschafter eingeflossen sein. Die deutsche Botschaft hingegen las in Allendes Brief ein höfliches „Nein“ (26.1.73).

Der Leitende Oberstaatsanwalt in Hannover hielt einen zweiten Antrag für unzulässig und darüber hinaus für aussichtslos (Schreiben an das niedersächsische Justizministerium v. 15.November 72).
Nun schlug das Bundesjustizministerium vor, die Botschaft solle „in geeignet erscheinender Form“ versuchen festzustellen, ob „die chilenischen Regierung bereit wäre, einen erneuten Auslieferungsantrag entgegenzunehmen (3.1.73). Die Botschaft berichtete am 26.2.73 ans AA, ihre Feststellungen hätten ergeben, dass die chilenische Regierung einen erneuten Antrag zwar entgegennehmen würde, der zuständige Oberste Gerichtshof ihn aber verwerfen werde. Der Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen im chilenischen Außenministerium, ein Herr Bernstein, der wohl auch der Verfasser des von Allende unterzeichneten Briefes sei, halte den „Fall Rauff für die chilenischen Gerichte und Behörden für abgeschlossen“. Die Botschaft fügte hinzu, dass „rein theoretisch“ die Möglichkeit bestünde, dass die chilenische Regierung Rauff ausweisen könne, die Aussicht auf Erfolg aber gering sei; ein solcher Schritt könne „als Desavouierung des Obersten Gerichtshofs durch die Regierung ausgelegt werden“,- eine diplomatische Andeutung der Tatsache, dass sich Allendes Volksfrontregierung und der Oberste Gerichtshof im Dauerkonflikt befanden. Pinochet schreibt in seinen Memoiren Der Tag der Entscheidung, die chilenische Justiz habe in der Allende-Zeit “allen Respekt verdient” und stattete dem Obersten Gerichtshof wenige Tage nach dem Putsch einen offiziellen Besuch ab (a.a.O., S. 100, 178).

Das Bundesministerium der Justiz wollte aber „jede Möglichkeit ausschöpfen“, Rauff vor ein deutsches Gericht zu stellen und bat die Botschaft, Rechtsanwalt Novoa mit einem weiteren Gutachten zu beauftragen (15.2.73 an AA). Dieses Gutachten ergab, dass ein erneuter Antrag weder zulässig noch aussichtsreich sei.

Die deutsche Botschaft war in einer Zwickmühle. Die BRD hatte zu Allendes Chile ein „offiziell gutes Verhältnis“ (Bericht des Militärattachés an der deutschen Botschaft vom 4.7.73 (AA, Zw. 100.587), hielt aber faktisch Distanz, da Chile gerade die DDR anerkannt hatte. Nun sollte sie sondieren, ob sich nicht ein Parteigänger Allendes fände, der ihr die diplomatische Hintertür öffnete.

Die Möglichkeit einer Ausweisung Rauffs musste, so die Botschaft, nach „vertraulicher Erörterung der Angelegenheit mit den zuständigen Stellen im chilenischen Außenministerium… als negativ“ beurteilt werden. Zwar sei es nicht ausgeschlossen, dass im Innenministerium „ein links gerichteter Beamter“ die vom Außenministerium kommentierte „Anregung der Bundesregierung“ entgegennehmen und „im Zuge der jetzigen politischen Entwicklung in Chile für die Entziehung der Aufenthaltserlaubnis votieren würde“, bisher sei ein solcher Fall aber nicht bekannt geworden. Zudem werde die Sache bei Allende landen, und über diesen habe Wiesenthal jüngst eine „höchst eigenartige Presseerklärung abgegeben… Er habe nämlich zu dem Hinweis Allendes auf die Zuständigkeit und Unabhängigkeit der chilenischen Gerichtsbarkeit erklärt, es sei doch bekannt, dass die südamerikanischen Präsidenten laufend ihren Gerichten Anweisungen gäben“. So etwas höre man im demokratischen Chile nicht gerne. „Wiesenthal habe ferner“, so die Botschaft über ihre vertrauliche Quelle, „Allende persönliche Komplizenschaft mit Nationalsozialisten vorgeworfen. Dieser Vorwurf sei für jeden, der die lange demokratische Karriere Allendes kenne, absurd“, so die Botschaft (16.3.73 an AA). 1972/73 haben entgegen vielen Kommentaren die deutschen Behörden mehr getan als sie hätten tun müssen, um Rauff vor Gericht zu stellen.

Wiesenthal schrieb Allende ein zweites Mal an. In seiner Autobiographie heißt es: „Ich bat Allende die Möglichkeit der Ausweisung Rauffs zu prüfen, da Rauff in Chile noch nicht eingebürgert worden war: wir könnten möglicherweise in einem anderen Land mit einer günstigeren Gesetzgebung gegen ihn vorgehen. Aber bevor Allende auf meinen zweiten Brief antworten konnte, gab es einen Staatsstreich und Allende starb“ (Wiesenthal 1995). Hier rückt sich Wiesenthal allzusehr ins Zentrum der Geschichte. Er hatte den zweiten Auslieferungsversuch zwar ausgelöst, aber in Chile nicht zur Chefsache machen können. Es gibt außer dem von Allende unterzeichneten Bernstein-Brief kein Indiz, dass die Angelegenheit über den Schreibtisch Bernsteins hinausgelangte. Eine Ausweisung Rauffs war 1963 und 1972/3 sorgfältig hinter den Kulissen geprüft worden. Sie war realpolitisch und formal nicht durchsetzbar.

Rauff und Allende – ein Vorwurf und sein Kontext

In seinem Buch Los Nazis en Chile (2000) wirft der chilenische Historiker Ví­ctor Farí­as Allende vor, dieser habe „nicht einmal alternative Mittel zur nationalen [chilenischen] Gesetzgebung gesucht und die Argumentation des obersten Gerichtshofs legitimiert (Farí­as 2000 S. 450). Meint Farí­as mit „Argumentation“ des obersten Gerichtshofs dessen moralische Verurteilung Rauffs oder den Hinweis auf die Rechtslage? Andere Inhalte hatte das Urteil nicht.

2001 legte Farí­as nach: „In diesem Brief rechtfertigt Allende nicht nur die Entscheidung des chilenischen Corte Suprema [obersten Gerichtshofs], sondern weigert sich auch, in irgendeiner Form dem Recht Genüge zu tun“. An diesem Satz ist, wie Allendes Brief zeigt, alles falsch. Farí­as sagt weiter, Wiesenthal habe die gleiche Argumentation benutzt, die „im Falle Pinochets zwecks seiner Verhaftung und Verurteilung außerhalb Chiles angewandt wurde – und Allende die der Anhänger des Diktators.“ (Ví­ctor Farí­as: Alte Freundschaft. In: Die Gazette: Chile und der Nationalsozialismus, 19. Juli 2001, www.gazette.de/Archiv/Gazette-Juli2001/Farias.html). Farí­as bringt den komplizierten juristischen Sachverhalt durch Diskursanalyse zum Verschwinden.

2005 deutet Farí­as dasselbe Dokument noch radikaler und sagt, Allende habe Rauff „direkt und absichtlich geschützt“ und spricht von „Beziehungen Salvador Allendes mit dem SS-Standartenführer“ Rauff. Allende habe keinen Gebrauch von seinem uneingeschränkten Recht gemacht, alle Ausländer des Landes zu verweisen, deren Anwesenheit die Interessen des Landes beeinträchtigen und nennt ihn schließlich einen „eifrigen Begünstiger eines der größten Verbrecher, den die Menschheit kennt“. Den entscheidenden Punkt, dass Rauff Rechtsmittel gegen eine Ausweisung hätte einlegen können und damit wohl Erfolg gehabt hätte, wischt Farí­as mit einer Fehlinformation („uneingeschränktes Recht“) beiseite (Farí­as 2005 S. 14ff).

Hätte Farí­as an seinem Wohnort Berlin die Akten des AA eingesehen, hätte er zum entgegengesetzten Schluss kommen müssen. Farí­as unterschlägt den entscheidenden Punkt: die Verjährungsfrist, die im chilenischen Fall auch für die Taten Rauffs galt. Nationales Recht wird durch internationales nicht einfach ausgehebelt, es muss ihm angepasst werden, und eben das war das unlösbare juristische Problem. Wie kompliziert Auslieferungsverfahren sein können, zeigt das von Farí­as bemühte Beispiel Pinochet nach dessen Verhaftung 1998 in London. Pinochet durfte nach Chile zurück und wurde nie rechtskräftig verurteilt.

Rauff und die Pinochetdiktatur

In September 1973 putschte das chilenische Militär. Rauff hatte nun überhaupt nichts mehr zu befürchten. Die internationale Presse berichtete, Rauff sei führend in Pinochets neugegründetem Geheimdienst DINA tätig (Wiesenthal nennt ihn einen mutmaßlichen „Berater“ der DINA, Wiesenthal 1995 S. 89). Ich habe keinen Hinweis auf eine formelle Funktion Rauffs in der DINA. Wohl aber gibt es Belege für freundschaftlichen und geschäftlichen Beziehungen Rauffs zum Personal der DINA und anderen Institutionen des Repressionsapparats. Rauff war Besucher der von der DINA benutzten deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad (Schnellenkamp 2007, S. 67). Wenn sein Besuch anstand, sagte Sektenführer Paul Schäfer: „Heut rauf` ich mir die Haare“. Das Krankenhaus der Siedlung hat ihn einmal an eine Klinik in Santiago überwiesen (Heller 1993, S. 185). Nach glaubwürdigen Aussagen führte DINA-Chef Manuel Contreras eine Art Tagebuch über die Verbrechen der Diktatur, das er als Lebensversicherung bereithielt, falls er bei Pinochet in Ungnade fallen sollte, was denn auch geschah. Contreras fertigte fünf Exemplare an, von denen er eines Rauff gab (Heller 1993, S. 191).

Dass Rauff mit dem Geheimdienst DINA zusammenarbeitete, ist durch Dokumente belegt. Der chilenische Buchautor Leon Gomez, der das geheime Folterzentrum der DINA Londres 38 in Santiago überlebte, schreibt in einer eidesstattlichen Erklärung, dass ihn ein Folterer geschlagen habe und ihm dabei die Augenbinde verrutscht sei. „Ich sah vor meinen Augen einen meiner Folterer, den ich wegen seines ausländischen Akzentes ((von den anderen)) unterscheiden konnte, und ich konnte glaubwürdig feststellen, dass es sich um den deutschen Nazi Walter Rauff handelte“ (eidesstattliche Erklärung Gomez vom 22.1.1991).

1975 siedelte Rauff nach Santiago über. Er saß in Chile fest. Die deutsche Botschaft weigerte sich, ihm einen Reisepass auszuhändigen, der bereits ausgestellt war und heute zum Archivbestand des AA gehört.

Im Januar 1984, also während der Pinochetdiktatur, wies Chile einen Auslieferungsantrag Israels ab. Wiesenthal wandte sich an US-Präsident Reagan und Bundeskanzler Kohl und über das Simon-Wiesenthal-Center an den chilenischen Generalkonsul in Los Angeles/USA. Pinochets Stabschef General Santiago Sinclair antwortete, „die Bundesrepublik Deutschland möge noch einmal um Rauffs Auslieferung ansuchen“ (Wiesenthal 1995, S. 91). Das geschah im Mai 1984. Chile antwortete, dass hierfür neue Tatbestände genannt werden müssten. Auch ein Rechtsstaat hätte wohl ähnlich reagiert (obwohl Rauff eine Person der Zeitgeschichte ist, verweigerte mir das Auswärtige Amt die Einsicht in diese Akte).

Am14.5.1984 starb Rauff in Santiago. An seinem Grab schrie der Chilene Miguel Serrano, Begründer des esoterischen Hitlerismus, lauthals „Heil Hitler“ und reckte den Arm zum Hitlergruß.

Die hier verwendeten Unterlagen liegen im Archiv des Fritz-Bauer-Institut, Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main, und im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Die von mir eingesehenen Akten des AA haben die Signaturen B 83, Bdnr. 404, B 83 Bdnr. 953 und 954, Zw. Bdnr. 14.248, AV Neues Amt Bdnr. 12775 und 12776.

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Fußnote:

Dies ist nur in formalem Sinn richtig. Rauff gab am 4.8.1945 in Ancona, Italien, eine eidesstattliche Erklärung ab (s. Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher“¦, Nürnberg 1949, Bd. IV, S. 280), die sich auf ein an ihn gerichtetes und von ihm mit einer Randbemerkung versehenes Dokument zu den Gaswagen bezieht (s. Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher“¦, Dokumente, Nürnberg 1947, D 2348 PS, Bd. VI, S. 256)

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Literatur:

Martin Cüppers: Immer davongekommen : wie sich Walther Rauff erfolgreich seinen Richtern entzog: In: Mallmann, Klaus-Michael ; Angrick, Andrej (Hg): Die Gestapo nach 1945: Darmstadt , wiss. Buchgesellschaft 2009. S. 80 ff
Victor Farí­as: Los Nazis en Chile, Barcelona 2000
Victor Farí­as: Salvador Allende : contra los judios, los homosexuales y otros „degenerados“, Barcelona 2005
Friedrich Paul Heller: Colonia Dignidad : von der Psychosekte zum Folterlager, Stuttgart 1993
Klaus Schnellenkamp: Geboren im Schatten der Angst, München 2007
Simon Wiesenthal: Gerechtigkeit, nicht Rache, Frankfurt am Main 1995

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